Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz bei Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit

 

Leitsatz (redaktionell)

Zum Unfallversicherungsschutz bei Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit:

Die infolge einer privaten Besorgung notwendige -räumliche - Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit beginnt und endet grundsätzlich, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum verlassen bzw wieder erreicht hat. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Versicherte den Weg zu Fuß oder mit Hilfe eines Verkehrsmittels zurücklegt.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. Januar 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Ehemann der Klägerin war in S beschäftigt. Er pflegte den Weg von seiner Arbeitsstätte im eigenen Pkw zurückzulegen und in H u. a. durch die S-Straße zu fahren. Diese Straße führt in west-östlicher Richtung am Südufer des Neckars entlang und ist als Ortsdurchfahrt bevorrechtigt.

Der Ehemann der Klägerin hatte am Unfalltage (13. November 1968) beim Mittagessen zu einem Arbeitskollegen, der ebenfalls in N wohnt und den Weg mit dem Kraftwagen zurücklegt, auf dessen Frage, ob sie - wie schon öfter - nach Dienstschluß gemeinsam losfahren wollten, gesagt, er möge durchfahren, da er - der Ehemann der Klägerin - unterwegs in der Apotheke noch etwas zu erledigen habe. Der Ehemann der Klägerin parkte seinen Wagen in der S-Straße gegenüber der Einmündung der T-straße. Die T-straße ist als Einbahnstraße nur in Richtung von der B Straße zur S-Straße befahrbar. In der parallel zur S-Straße verlaufenden B Straße befinden sich zwei Apotheken. Nach den Strafakten wollte der Ehemann der Klägerin im Unfallzeitpunkt vom Gehweg der T-straße aus die S-Straße überqueren, um wieder zu seinem Pkw zu gelangen. Beim Überschreiten der S-Straße wurde er von einem anderen Pkw erfaßt und schwer verletzt. Am 11. Dezember 1968 verstarb er.

Die Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche der Klägerin ab: Der Ehemann der Klägerin hätte, als er seinen Pkw verließ, um die ausschließlich eigenwirtschaftliche Besorgung abseits des gewöhnlichen und direkten Weges nach Hause zu erledigen, für deren Dauer den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung verloren.

Die Klägerin hat Klage erhoben, die das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 27. Februar 1970 mit der Begründung abgewiesen hat, die Unterbrechung des Heimweges des Ehemannes der Klägerin aus eigenwirtschaftlichen Gründen wäre frühestens mit dem Wiedererreichen des Pkw, wohl sogar erst mit dem Einordnen in den fließenden Verkehr beendet gewesen.

Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 20. Januar 1971 die Beklagte verurteilt, der Klägerin Witwenrente zu gewähren. Es hat in den Entscheidungsgründen u. a. ausgeführt: Nach den Bekundungen des Zeugen W und der Auskunft des Amts für öffentliche Ordnung halte es der Senat für erwiesen, daß der Ehemann der Klägerin die S-Straße zu Fuß verlassen habe, um in einer der beiden in der B Straße gelegenen Apotheken etwas zu besorgen. Bei dem Aufsuchen der Apotheke habe es sich um eine eigenwirtschaftliche und damit unversicherte Tätigkeit gehandelt. Die Unterbrechung des Weges von dem Ort der Tätigkeit sei im Unfallzeitpunkt jedoch mit dem Wiedererreichen des öffentlichen Verkehrsraums der zum Heimweg benutzten Straße bereits beendet gewesen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.

Sie führt aus: Die Unterbrechung des Heimweges des Ehemannes der Klägerin sei mit dem Erreichen der zur Heimfahrt dienenden Straße nicht beendet gewesen. Die abweichende Auffassung des Berufungsgerichts beachte nicht die Einheit des Ganges zur Apotheke vom Verlassen des Pkw auf dem Parkstreifen und zurück. Der dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Februar 1964 (BSG 20, 219) zugrunde liegende Sachverhalt sei nur ein Unterfall in der Gruppe derjenigen Fälle, in denen der Heimweg nur gelegentlich unterbrochen und der Versicherungsschutz deshalb nicht verlorengegangen sei. Da die Unterbrechung des Heimweges nicht unbedeutend gewesen sei, habe der Ehemann der Klägerin somit auf dem gesamten Weg vom Parkstreifen bis zur Apotheke und zurück nicht unter Versicherungsschutz gestanden. Eine Aufsplitterung des Weges vom Verlassen des Kraftwagens an bis zur Rückkehr sei lebensfremd. Das einzige rechtlich in Betracht kommende objektive Merkmal bilde vielmehr der auf dem Parkstreifen der S-Straße angestellte Kraftwagen des Verunglückten.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG für zutreffend.

II.

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Der Ehemann der Klägerin hat im Zeitpunkt des Unfalles gemäß § 550 Satz 1 RVO unter Versicherungsschutz gestanden.

Nach den tatsächlichen, von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG hat der Ehemann der Klägerin den gegenüber der Fahrt durch die Kurfürsten-Anlage etwas längeren Heimweg durch die S-Straße gewählt, weil am Spätnachmittag infolge des allgemeinen Arbeitsschlusses in der K-Anlage Verkehrsstauungen auftreten. Es kann dahinstehen, ob dies nur ein geringfügiger Umweg gewesen ist, der nur zu einer unbedeutenden Verlängerung des Weges geführt und schon deshalb den Versicherungsschutz des Ehemannes der Klägerin auf dem Weg von dem Ort der Tätigkeit nicht ausgeschlossen hat (s. BSG 4, 219, 222; BSG SozR Nr. 33, 42, 61 zu § 543 RVO aF; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 7. Auflage, S. 486 q I mit weiteren Nachweisen). Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen ist, hat der Ehemann der Klägerin, wovon das LSG zutreffend ausgegangen ist, auf der Fahrt durch die S-Straße unter Versicherungsschutz gestanden, weil er den - dann nicht nur unbedeutenden - Umweg eingeschlagen hat, um eine weniger verkehrsreiche und damit schneller befahrbare Straße zu benutzen (s. BSG Band 4 aaO; BSG SozR aaO Nr. 21, 33; Brackmann aaO S. 486 q II; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 550 Anm. 15).

Der Ehemann der Klägerin hat in der S-Straße seinen Heimweg unterbrochen. Das LSG hat mit Recht angenommen, daß der Ehemann der Klägerin während der Unterbrechung selbst dann nicht unter Versicherungsschutz gestanden hat, wenn sie dem Einkauf von Medikamenten gedient hat (BSG SozR Nr. 6 zu § 550 RVO; Brackmann aaO S. 486 t; ebenso für den Dienstunfall BVerwG 21, 307).

Während einer privaten Verrichtungen dienenden Unterbrechung des Weges von dem Ort der Tätigkeit besteht kein Versicherungsschutz; nach Beendigung der Unterbrechung ist jedoch auf dem weiteren Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit grundsätzlich Versicherungsschutz wieder gegeben (s. u. a. BSG 20, 219, 221; BSG SozR Nr. 5, 51 zu § 543 RVO aF; Brackmann aaO S. 486 s II mit weiteren zahlreichen Nachweisen). Entgegen der Auffassung der Revision hat das LSG auch zutreffend entschieden, daß die Unterbrechung des Heimwegs im Zeitpunkt des Unfalles bereits beendet gewesen ist und der Ehemann der Klägerin wieder unter Versicherungsschutz gestanden hat. Die infolge einer privaten Besorgung notwendige - räumliche - Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit beginnt grundsätzlich erst, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum verlassen hat; dabei macht es keinen Unterschied, ob der Versicherte den Weg zu Fuß oder mit Hilfe eines Verkehrsmittel zurücklegt (vgl. BSG 20, 219, 221; 22, 7, 9; BSG SozR Nr. 28 zu § 543 RVO aF; BSG BG 1965, 196, 197; BSG Breithaupt 1969, 478, 479; Brackmann aaO Seite 486 t mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum). Bei einem einer privaten Besorgung dienenden Überqueren der Straße ist hiernach sowohl ein Fußgänger als auch ein Autofahrer, der seinen Wagen auf der anderen Straßenseite stehen läßt, noch versichert (s. BSG Band 20 aaO; BSG SozR aaO; BSG-Urteil vom 31.3.1965 - 2 RU 167/63 -; Brackmann aaO S. 486 u). Dies gilt auch für den Rückweg des Autofahrers über die Straße zu seinem Wagen (BSG Band 20 aaO S. 222; Brackmann aaO). Die Revision meint zu Unrecht, diese schon ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats gelte nur, wenn lediglich eine so geringfügige privaten Interessen dienende Tätigkeit eingeschoben wird, daß eine Unterbrechung des Versicherungsschutzes überhaupt nicht eintritt. In diesen Fällen besteht jedoch auch während der gesamten privaten Interessen dienenden - sehr geringfügigen - Tätigkeit Versicherungsschutz, so daß die vom erkennenden Senat insbesondere in seinem Urteil vom 28. Februar 1964 (BSG Band 20 aaO) vorgenommene räumliche Abgrenzung nicht erforderlich wäre. Die Rechtsprechung des Senats beruht vielmehr nicht auf einer ausdehnenden Auslegung des Begriffs der geringfügigen Unterbrechung, sondern wesentlich darauf (vgl. BSG Breithaupt 1969, 478, 479), daß es dem Versicherten, ohne daß dies versicherungsrechtliche Auswirkungen hat, überlassen bleiben muß, in welchem Bereich des seinen Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit darstellenden öffentlichen Verkehrsraumes er sich bewegt, ob er also z. B. vom linken zum rechten Fußgängerweg hinüberwechselt (vgl. schon RVA in EuM 30, 321; Brackmann aaO).

Der Ehemann der Klägerin hatte die S-Straße bereits wieder erreicht und damit die Unterbrechung seines Heimweges beendet.

Der gegenteiligen Auffassung der Revision, die Unterbrechung des Heimweges wäre erst mit dem Einsteigen in den Pkw oder sogar erst mit dem Wiedereinordnen in den fließenden Verkehr beendet gewesen, vermag sich der erkennende Senat weiterhin nicht anzuschließen. Diese Ansicht würde dazu führen, daß das Überqueren der Fahrbahn bei einem Autofahrer versicherungsrechtlich anders zu beurteilen ist als bei einem Fußgänger, der den versicherten Heimweg auf der anderen Straßenseite oder nach nochmaligem Überqueren der Fahrbahn auf der bisher benutzten Straße zu Fuß fortzusetzen beabsichtigt. Diese Unterscheidung hält der erkennende Senat nicht für gerechtfertigt. Die ständige Rechtsprechung des Senats führt insbesondere nicht, wie die Revision meint, zu einer lebensfremden Aufsplitterung eines einheitlichen Lebensvorganges, sondern unterscheidet hinsichtlich des Versicherungsschutzes bei einem gleichen Vorgang nicht danach, ob der Versicherte den Weg von oder nach dem Ort der Tätigkeit mit einem Pkw oder zu Fuß zurücklegte. Die heutigen Verkehrsverhältnisse würden nach Auffassung des Senats gerade eine derartige Unterscheidung als lebensfremd erscheinen lassen. Weshalb, wie die Revision weiter annimmt, die auch vom erkennenden Senat geteilte Auffassung des LSG unpraktikabel sein, das einzige objektive Merkmal vielmehr nicht der Bereich des den Weg des Versicherten nach oder von dem Ort der Tätigkeit darstellenden öffentlichen Verkehrsraumes, sondern erst die Parkstelle des Pkw in der S-Straße bilden soll, ist nicht ersichtlich.

Der Ehemann der Klägerin hat sich somit im Zeitpunkt des Unfallereignisses auf dem versicherten Heimweg von der Arbeit befunden. Da sein Tod nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG auf dieses Unfallereignis zurückzuführen ist, muß die Beklagte der Klägerin Witwenrente gewähren. Die Revision der Beklagten war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669090

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