Leitsatz (amtlich)

1. Hat ein Rentenversicherungsträger ihm allein obliegende notwendige Ermittlungen unterlassen, so daß er die Rente zu niedrig festgestellt hat, so kann er sich bei einer späteren Neufeststellung der Rente nach RVO § 1300 nicht auf Verjährung berufen (Anschluß an BSG 1968-05-03 1 RA 191/66 = SozR Nr 5 zu § 1300 RVO).

2. Über Umfang und Grenzen der Pflicht des Versicherten, die Rentenfeststellung des Versicherungsträgers auf ihre Richtigkeit zu prüfen.

 

Normenkette

RVO § 29 Abs. 3 Fassung: 1924-12-15, § 1300 Fassung: 1957-02-23, § 1613 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22. April 1966 und des Sozialgerichts Schleswig vom 17. Mai 1965 sowie der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 20. Januar 1965 aufgehoben und der Bescheid der Beklagten vom 15. September 1964 abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, die Rente des Klägers auch für die Zeit vom 1. Juli 1939 bis zum 30. April 1960 neu zu berechnen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte in ihrem dem Kläger gemäß § 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erteilten Bescheid vom 15. September 1964 die höhere Rente aus der Arbeiterrentenversicherung schon vom 1. Juli 1939 an oder erst seit dem 1. Mai 1960 zu gewähren hat.

Der Kläger erlitt als selbständiger Malermeister am 16. April 1928 im eigenen Betrieb einen Arbeitsunfall, durch den er den rechten Arm einbüßte. Der damals zuständige Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, die Hamburgische Baugewerks-Berufsgenossenschaft, gewährte ihm eine Verletztenrente als vorläufige Rente, und zwar vom 17. Juli bis 6. August 1928 die Vollrente und anschließend eine Teilrente von 80 v. H. der Vollrente (Bescheid vom 15. September 1928). Die Beklagte gewährte dem Kläger durch Bescheid vom 21. Januar 1929 Invalidenrente mit Wirkung vom 1. Oktober 1928; weil die Invalidität Folge des entschädigungspflichtigen Unfalls war, wandte sie die Ruhensbestimmungen der §§ 1311 Abs. 1 und 1311 c RVO idF des Gesetzes vom 25. Juni 1926 (RGBl I S. 311) an, so daß nur eine demgemäß gekürzte Invalidenrente ausgezahlt wurde. Die Berufsgenossenschaft setzte die Verletztenrente mit Wirkung vom 1. September 1930 an als Dauerrente in Höhe von 70 % der Vollrente fest (Bescheid vom 29. Juli 1930), worauf die Beklagte eine Ruhensneuberechnung der Invalidenrente für die Zeit vom 1. September 1930 ab vornahm (Bescheid vom 27. August 1930). Mit Schreiben vom 19. August 1931 forderte die Beklagte von der Berufsgenossenschaft die Verletztenrentenakten des Klägers an, die bei ihr am 28. Oktober 1931 eingingen, fertigte aus diesen Akten eine Abschrift von einem ärztlichen Gutachten an und sandte schließlich die Akten mit Schreiben vom 2. November 1931 zurück. Unter dem 27. Januar 1932 teilte die Beklagte dem Kläger mit, daß seine Invalidenrente nach dem 5. Teil, Kapitel IV, Abschnitt 1 § 10 der Notverordnung vom 8. Dezember 1931 (RGBl I S. 723) vom 1. Februar 1932 an voll zu ruhen habe. Demgemäß stellte sie von diesem Zeitpunkt an die Zahlung der Invalidenrente ein.

Mit Bescheid vom 21. September 1939 teilte die Beklagte dem Kläger mit, nach dem Gesetz vom 19. April 1939 werde vom 1. Juli 1939 an beim Zusammentreffen einer Rente aus der Invalidenversicherung mit einer Rente aus der Unfallversicherung die halbe Rente aus der Invalidenversicherung ungekürzt gewährt, die andere Hälfte ruhe bis zur Höhe der Rente aus der Unfallversicherung; ihm würden deswegen vom 1. Juli 1939 an 18,20 RM monatlich als halbe Rente aus der Invalidenversicherung gezahlt. Hierbei berücksichtigte die Beklagte nicht den neu gefaßten § 1274 RVO, der bestimmte, daß die Verletztenrente das Ruhen der Invalidenrente nicht bewirkt, wenn die Verletztenrente auf eigener Beitragsleistung des Versicherten beruht. Seit dem 1. November 1945 ruhte die Invalidenrente des Klägers aufgrund der Sozialversicherungsdirektive Nr. 1 vom 28. August 1945 wegen Zahlung einer höheren Verletztenrente. Nachdem die Sozialversicherungsanordnung Nr. 17 vom 6. August 1947 ergangen war, zahlte die Beklagte dem Kläger mit Wirkung vom 1. September 1947 wieder eine Teilrente aus der Invalidenversicherung und setzte ihn hiervon auch durch Mitteilung vom 31. März 1948 in Kenntnis. Diese Teilrente wurde in den Jahren 1949, 1950, 1952 und 1958 jeweils neu berechnet. Mit Bescheid vom 26. April 1962 paßte die Beklagte die Versichertenrente des Klägers nach dem 4. Rentenanpassungsgesetz (RAG) an und berücksichtigte hierbei einen Ruhensbetrag nach § 1278 RVO nF. Mit Bescheid vom 25. März 1963 verfuhr sie ebenso nach dem 5. RAG. Nachdem der Kläger das 65. Lebensjahr vollendet hatte, erhöhte sie seine Rente durch Bescheid vom 23. Januar 1964 mit Wirkung vom 1. Januar 1964. Auch hierbei berücksichtigte sie einen Ruhensbetrag nach § 1278 RVO nF. Um die Anpassung der Versichertenrente des Klägers nach dem 6. RAG vornehmen zu können, bat die Beklagte die Baugewerks-Berufsgenossenschaft in Hamburg mit Schreiben vom 26. März 1964, ihr den Betrag der Verletztenrente und des zugrunde gelegten Jahresarbeitsverdienstes anzugeben. Mit einem bei der Beklagten am 6. April 1964 eingegangenen Schreiben vom 2. April 1964 teilte die Berufsgenossenschaft diese Werte mit und fügte hinzu, der der Rentenberechnung zugrunde liegende Jahresarbeitsverdienst sei nach dem 6. RAG noch nicht erhöht worden, weil es sich bei dem Kläger um einen selbständigen Unternehmer handle; die Erhöhung des Jahresarbeitsverdienstes für die selbständigen Unternehmer könne erst durch eine Satzungsänderung erfolgen, für die ein Zeitpunkt jedoch noch nicht feststehe; die Rente werde aufgrund eigener Beiträge des Klägers gezahlt.

Mit Rücksicht darauf, daß die Beklagte die Mitteilung erhalten hatte, daß die Verletztenrente aufgrund eigener Beiträge des Klägers gezahlt werde, erteilte die Beklagte dem Kläger unter dem 15. September 1964 nach § 1300 RVO einen Bescheid, in dem sie seine Versichertenrente mit Wirkung vom 1. Mai 1960 rückwirkend der Höhe nach neu festsetzte. Sie begründete dies damit: Da der Kläger eine Verletztenrente aufgrund eigener Beitragsleistung beziehe, hätte seine Versichertenrente nach dem Gesetz zum weiteren Abbau der Notverordnungen vom 19. April 1939 vom 1. Juli 1939 an in voller Höhe gezahlt werden müssen. Mit diesem Zeitpunkt hätten die Versichertenrenten bei eigener Beitragsleistung zur Unfallversicherung nicht mehr geruht. Da sie, die Beklagte, erstmalig am 6. April 1964 von dem Bezug der Verletztenrente aufgrund eigener Beitragsleistung erfahren habe und dem Inhalt der Rentenakten des Klägers nichts dafür zu entnehmen sei, daß die Ruhensvorschriften der §§ 1274 RVO aF und 1278 RVO nF angewendet worden seien, könne eine Neuberechnung der Versichertenrente nur unter Beachtung der Verjährungsvorschriften des § 29 RVO erfolgen. Die volle Versichertenrente könne somit erst seit dem 1. Mai 1960 gezahlt werden.

Der gegen diesen Bescheid rechtzeitig eingelegte Widerspruch brachte dem Kläger keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 20. Januar 1965). Die hiergegen beim Sozialgericht (SG) erhobene Klage blieb erfolglos; das SG hat die Berufung zugelassen (Urteil vom 17. Mai 1965).

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 22. April 1966). Wie das SG hat es in der von der Beklagten erhobenen Einrede der Verjährung von Ansprüchen auf Leistungen des Versicherungsträgers keine unzulässige Rechtsausübung gesehen. Wenn auch die Beklagte an der unrichtigen Rentenfeststellung mit Bescheid vom 21. September 1939 nicht schuldlos sei, treffe doch auch den Kläger eine gleichwiegende Schuld, da er die Beklagte nicht veranlaßt habe, ihre fehlerhafte Feststellung zu beseitigen.

Der Kläger hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Er rügt Verletzung des § 29 Abs. 3 RVO und bekämpft die Rechtsauffassung des LSG, auch ihn treffe an der unrichtigen Rentenfeststellung eine Schuld. Er hält die Einrede der Verjährung für eine unzulässige Rechtsausübung.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 22. April 1966 und des SG Schleswig vom 17. Mai 1965 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, seine Versichertenrente bereits vom 1. Juli 1939 ab neu zu berechnen und die Unterschiedsbeträge an ihn zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II.

Die Revision des Klägers ist begründet. Die vorinstanzlichen Urteile und der Widerspruchsbescheid der Beklagten waren aufzuheben und der angefochtene Bescheid der Beklagten abzuändern. Die Beklagte mußte verurteilt werden, die Rente des Klägers auch für die Zeit vom 1. Juli 1939 bis zum 30. April 1960 neu zu berechnen.

Das LSG hat den Bescheid der Beklagten vom 15. September 1964, worin diese die Versichertenrente unter Berufung auf Verjährung (§ 29 RVO) erst vom 1. Mai 1960 ab der Höhe nach gemäß § 1300 RVO neu festgestellt hatte, für rechtmäßig erklärt. Dem ist nicht beizutreten:

Wird eine Rente gemäß § 1300 RVO, wonach der Träger der Rentenversicherung eine Leistung neu festzustellen hat, wenn er sich bei erneuter Prüfung überzeugt, daß eine Leistung zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt oder zu niedrig festgestellt worden ist, neu festgestellt, so tritt dieser Bescheid grundsätzlich in vollem Umfang, also auch zeitlich, an die Stelle des früheren Bescheides, von dessen Unrichtigkeit sich der Rentenversicherungsträger bei erneuter Prüfung überzeugt hat. Durch den neuen Bescheid hat der Rentenversicherungsträger dem Berechtigten grundsätzlich das zuzuerkennen, was er ihm rechtmäßig schon früher hätte gewähren müssen, so daß die neu festgestellte Leistung regelmäßig von Anfang an zu gewähren ist (BSG 19, 93, 96 = SozR RVO § 1300 Nr. 1). Das hat das LSG zutreffend erkannt.

Wie das LSG, indem es sich auf das soeben angeführte Urteil des 1. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. April 1963 - 1 RA 15/60 - (BSG 19, 93, 96) berufen hat, in rechtlich nicht zu beanstandender Weise ausgeführt hat, ist es allerdings einem Rentenversicherungsträger grundsätzlich nicht verwehrt, sich auf Verjährung zu berufen, so jedenfalls dann, wenn - wie hier - die Neufeststellung nur die Höhe einer bereits gewährten Rente betrifft und, woran im vorliegenden Fall kein Zweifel besteht, die Einrede der Verjährung von Ansprüchen auf Leistungen der Beklagten (§ 29 Abs. 3 RVO) erhoben worden ist (vgl. BSG 6, 283, 288; AN 1919, 281; 1921, 331).

In der weiteren rechtlichen Beurteilung des Falles hat das LSG in Übereinstimmung mit dem SG auch ausgesprochen, die Einrede der Verjährung von Ansprüchen auf Leistungen durch die Beklagte stelle keine unzulässige Rechtsausübung dar. Wenn auch die Beklagte an der unrichtigen Rentenfeststellung mit Bescheid vom 21. September 1939 nicht schuldlos sei, treffe doch auch den Kläger die demgegenüber gleichwiegende Schuld, daß er die Beklagte nicht veranlaßt habe, ihre fehlerhafte Feststellung zu beseitigen. Das Berufungsgericht wirft der Beklagten vor, sie habe sich wegen der durch Art. 2 des Gesetzes zum weiteren Abbau der Notverordnungen in der Reichsversicherung vom 19. April 1939 (RGBl I 793) geschaffenen und am 1. Juli 1939 in Kraft getretenen neuen Ruhens- und Anrechnungsbestimmung des § 1274 RVO aufgrund des Inhalts ihrer Akten gedrängt fühlen müssen, bei der Berufsgenossenschaft anzufragen, ob die Verletztenrente des Klägers auf dessen eigener Beitragsleistung beruhe, um im Hinblick auf Absatz 3 Nr. 2 dieser Vorschrift keine Fehlentscheidung über die Höhe der Invalidenrente seit dem 1. Juli 1939 zu treffen. Zwar hätten die Akten der Beklagten keinen Vermerk aus der Zeit zwischen dem 28. Oktober und dem 2. November 1931 - in dieser Zeit hätten der Beklagten die Verletztenrentenakten des Klägers zur Einsicht vorgelegen - darüber enthalten, daß der Kläger Selbstversicherer in der Unfallversicherung gewesen sei, weil diese Tatsachen nach den damaligen Ruhensbestimmungen der §§ 1311 ff RVO das teilweise Ruhen der Invalidenrente nicht ausgeschlossen habe und infolgedessen in den Invalidenrentenakten nicht habe besonders vermerkt zu werden brauchen. Jedoch hätten sich in diesen Akten der Bogen über die erstmalige Festsetzung der Invaliden(teil)rente vom 21. Januar 1929 mit der den Kläger betreffenden Berufsbezeichnung "Maler" (selbständig) und die an die Beklagte gerichtete Mitteilung der Hamburgischen Baugewerks-Berufsgenossenschaft vom 29. Juli 1930 über die Zahlung einer 70%igen Verletztenrente seit dem 1. September 1930 befunden, die eingangs den Kläger als "Malermeister" bezeichne und seinen "eigenen Betrieb" als Unfallort angebe. Diese aktenkundige Selbständigkeit des unfallverletzten Klägers und der ebenfalls aktenkundige Unfall im eigenen Betrieb hätten es geboten, der rechtserheblichen Frage nachzugehen, ob die Verletztenrente des Klägers auf eigener Beitragsleistung beruht habe.

Die Prüfungspflicht der Beklagten ergab sich in der Tat aus den Vorschriften des § 1613 Abs. 3 Satz 1 RVO, wonach die Versicherungsanstalt den Sachverhalt klarzustellen hat, so daß für die Durchführung des Verfahrens der Amtsermittlungsgrundsatz gilt und die Versicherungsträger die erforderlichen Ermittlungen vorzunehmen haben, wenn dabei auch der Antragsteller eine Mitwirkungspflicht in der Weise hat, daß er die Bemühungen des Versicherungsträgers angemessen zu unterstützen hat. Die Amtsermittlung hat sich an den Erfordernissen der jeweiligen Gesetze auszurichten. Zu den danach der Beklagten obliegenden Pflichten gehörte es damit auch, wie das LSG zutreffend angenommen hat, nachdem mit Wirkung vom 1. Juli 1939 die durch Art. 2 des Gesetzes zum weiteren Abbau der Notverordnungen in der Reichsversicherung vom 19. April 1939 (RGBl I S. 793) geschaffene Vorschrift des § 1274 RVO in Kraft getreten war, die Rentenakten des Klägers daraufhin zu prüfen, ob möglicherweise die Vorschrift des § 1274 Abs. 3 Nr. 2 RVO anzuwenden war, wonach die Verletztenrente das Ruhen nicht bewirkte, wenn sie auf eigener Beitragsleistung des Versicherten beruhte. Es kann offenbleiben, ob dem LSG darin beizustimmen ist, daß für die Beklagte der Inhalt der Rentenakten in Gestalt von Hinweisen auf die Selbständigkeit des Klägers besonderen Anhalt dafür bot, der entscheidenden Frage der eigenen Beitragsleistung des Versicherten nachzugehen; denn es mag zweifelhaft sein, ob von den Sachbearbeitern eines Trägers der Rentenversicherung gefordert werden kann, auch das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung soweit zu beherrschen, daß sie den möglichen Zusammenhang zwischen beruflicher Selbständigkeit und dem Beruhen einer Verletztenrente auf eigener Beitragsleistung kennen. Jedoch hätte die Beklagte mit Rücksicht auf die Vorschrift des § 1274 Abs. 3 Nr. 2 RVO zum mindesten sich veranlaßt sehen müssen, bei dem Träger der Unfallversicherung anzufragen, ob die Verletztenrente auf eigener Beitragsleistung des Versicherten beruhe. Da die Beklagte vor Erlaß des Bescheides vom 21. September 1939 das unterlassen hat, hat sie damals ihre sich aus ihrem Verantwortungsbereich ergebende Amtsermittlungspflicht verletzt, und zwar mit der Folge, daß sie sich nach nunmehriger Aufdeckung des Fehlers nicht mit Erfolg auf die Einrede der Verjährung berufen kann. In diesem Sinne hat auch der 1. Senat in seinem Urteil vom 3. Mai 1968 - 1 RA 191/66 - (SozR RVO § 1300 Nr. 5) entschieden, daß sich ein Versicherungsträger bei einer Neufeststellung der Rente nach § 1300 RVO dann nicht auf Verjährung berufen kann, wenn es vorwiegend in den Verantwortungsbereich des Versicherungsträgers fällt, daß bei der Rentenfeststellung notwendige und mögliche Ermittlungen unterlassen worden sind und deshalb die Rente zunächst zu niedrig festgestellt worden ist. In dem hier zu entscheidenden Fall lag die unrichtige Rentenfeststellung nicht nur vorwiegend, sondern ausschließlich im Verantwortungsbereich des Rentenversicherungsträgers. Eine so weitgehende Mitwirkungspflicht bei der Rentenfeststellung unter Beachtung der jeweiligen Ruhens- und Anrechnungsvorschriften, wie vom LSG angenommen, hatte der Kläger, wie der Revision zugegeben werden muß, nicht. Dem LSG kann nicht beigetreten werden, wenn es den Standpunkt vertreten hat, auch den Kläger treffe an der unrichtigen Rentenfeststellung in dem Bescheid vom 21. September 1939 eine Schuld, die derjenigen der Beklagten die Waage halte, weil er die Beklagte nicht veranlaßt habe, ihre fehlerhafte Rentenfeststellung, wenigstens bei einer der ersten Neuberechnungen, zu beseitigen. Es ist zwar zutreffend, daß der Kläger weder nach der Erteilung des Bescheides vom 21. September 1939 noch zu einer späteren Zeit, auch nicht aus Anlaß der Neuberechnungen in den Jahren 1949, 1950, 1952 und 1958 von der Beklagten eine andere Berechnung seiner Rente verlangt hat. Dieses vom LSG als Untätigkeit bezeichnete Verhalten des Klägers war jedoch entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht pflichtwidrig. Insoweit von einer Pflichtwidrigkeit des Klägers zu sprechen, wäre nur angängig, wenn es ihm als Pflicht obgelegen hätte, die zahlreichen Bescheide der Beklagten, beginnend mit demjenigen vom 21. September 1939, hinsichtlich des Ruhens der Invalidenrente entweder selbst zu prüfen oder aber durch andere prüfen zu lassen. Eine derartige Pflicht bestand und besteht aber nicht, insbesondere nicht bei derartig verwickelten und des öfteren wechselnden Rechtsvorschriften über das Ruhen und die Anrechnung von mehrfachen Leistungen aus der Sozialversicherung. Den Versicherten obliegen zwar Mitwirkungspflichten, z. B. die Pflicht, Versicherungsunterlagen vorzulegen, tatsächliche Angaben richtig und vollständig zu machen, zumutbaren ärztlichen Untersuchungen Folge zu leisten (vgl. dazu BSG SozR RVO § 1233 Nr. 3 Blatt Aa5, wonach aus dem Versicherungsverhältnis den Versicherten die Obliegenheit der Mitwirkung, Mitteilung und Anzeige erwächst). Auch wird von dem Versicherten erwartet werden können, daß er einen Rentenbescheid des Versicherungsträgers nicht unbesehen hinnimmt, sondern ihn näher betrachtet und den Versicherungsträger auf offenbare, ohne schwierigere Überlegungen für ihn erkennbare Unrichtigkeiten hinweist, so daß er, wenn er dies unterläßt, selbst mitschuldig an der unrichtigen Rentenfeststellung wäre. Solche offenbaren Unrichtigkeiten enthielten aber weder der Bescheid der Beklagten vom 21. September 1939 noch die späteren Bescheide der Beklagten. Insbesondere ist es eine Überspannung der einem Versicherten obliegenden Mitwirkungspflicht, wenn das LSG dem Kläger vorgeworfen hat, daß er sich nicht mit der Neufassung des § 1274 RVO durch das Gesetz vom 19. April 1939 vertraut gemacht habe oder die Bescheide der Beklagten von einer rechtskundigen Person habe nachprüfen lassen. Jedenfalls für einen Versicherten wie den Kläger besteht keine Pflicht, die für die Berechnung seiner Rente maßgebenden Gesetze zu kennen und ihre richtige Anwendung durch den Versicherungsträger zu überwachen. Die Versicherten sind auch nicht verpflichtet, die ihnen erteilten Bescheide der Versicherungsträger durch rechtskundige Personen nachprüfen zu lassen. Vielmehr ist es gerade Aufgabe eines Trägers der Sozialversicherung, unter Befolgung der Gesetze dem Versicherten die ihm zustehende Leistung ungeschmälert zukommen zu lassen.

Soweit die Revision allerdings auf das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 26. September 1957 - III ZR 65/56 - NJW 1957, 1873 = NJW 1958, 377 mit Anm. Wolfgang G. Seibert = AP § 839 BGB Nr. 1 mit Anm. von Gotzen verweist, wonach im sozialen Rechtsstaat es zu den Amtspflichten des mit der Betreuung der sozial schwachen Volkskreise betrauten Beamten gehört, diesen zur Erlangung und Wahrung der ihnen vom Gesetz zugedachten Rechte und Vorteile nach Kräften beizustehen, läßt sich dieser Entscheidung für den vorliegenden Fall unmittelbar nichts entnehmen, da sie die hier nicht streitige Auskunfts- und Belehrungspflicht zum Gegenstand hat.

Zusammenfassend ist daher festzustellen, daß die unrichtige und damit rechtswidrige Rentenfeststellung allein in den Verantwortungsbereich der Beklagten fiel. Den Kläger traf an der unrichtigen Rentenfeststellung keine Schuld. Die von der Beklagten erhobene Einrede der Verjährung stellt deshalb eine unzulässige Rechtsausübung dar. Dem Kläger hat also im Ergebnis seit dem 1. Juli 1939 (Inkrafttreten des Gesetzes zum weiteren Abbau der Notverordnung in der Reichsversicherung vom 19. April 1939 - RGBl I S. 793 -) die ungekürzte Rente aus der Invaliden- bzw. Arbeiterrentenversicherung zugestanden, soweit dies die seitdem erlassenen verschiedenen gesetzlichen Regelungen vorschreiben. Da der Kläger die ungekürzte Rente nicht erhalten hat, ist die Beklagte verpflichtet, die Rente auch für die Zeit vom 1. Juli 1939 bis 30. April 1960 neu zu berechnen, wie dies der Kläger beantragt hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 282

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