Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsunfall. Sturz aus innerer Ursache

 

Orientierungssatz

1. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall kann dadurch gegeben gewesen sein, daß der Versicherte der Gefahr, der er erlegen ist, infolge seiner durch die Tätigkeit bedingten Anwesenheit auf der Unfallstelle ausgesetzt und der Unfall in seiner Art oder Schwere wahrscheinlich durch die versicherte Tätigkeit bedingt war und sonach ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit der Unfallstelle und den Verletzungen oder ihrer Schwere bestanden hat. Daß als mitwirkende betriebliche Umstände nur solche in Betracht kommen, welche den Versicherten einer Gefährdung aussetzen, die um ein Mehrfaches die in ihrem privaten Lebensbereich bestehende Gefährdung übersteigen, wird von der Rechtsprechung nicht gefordert.

2. Nach den in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Grundsätzen der Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung kommt es nur auf die tatsächlichen Umstände des einzelnen Unfalles an und nicht darauf, ob "abstrakte" Gefahren auf dem Weg zur Arbeitsstätte lauern. Erst recht ist demzufolge nicht Voraussetzung, daß die abstrakten Gefahren eine bestimmte Größe haben. Entscheidend ist, ob sie als wesentliche Bedingung wirksam werden.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 18.01.1984; Aktenzeichen L 17 U 72/83)

SG Köln (Entscheidung vom 10.03.1983; Aktenzeichen S 18 U 293/82)

 

Tatbestand

Die Verfahrensbeteiligten streiten darüber, ob eine bei der Klägerin eingetretene Steißbeinfraktur Folge eines Arbeitsunfalles ist. Das Landessozialgericht (LSG) hat dies in seinem Urteil vom 18. Januar 1984 - anders als das Sozialgericht (SG), Urteil vom 10. März 1983 - verneint, weil sie am 28. Juli 1980 aus innerer Ursache zu Fall gekommen sei.

Die Klägerin kam am Unfalltage auf der Außentreppe des Hauses, in welchem sie wohnt, zu Fall. Sie wollte sich zu ihrer Arbeitsstätte begeben. Die Klägerin, die selbst keine Erklärung für ihren Sturz hat, fiel auf den Weg vor der Treppe und zog sich eine Steißbeinfraktur zu.

Sie leidet an einer angeborenen Hüftdysplasie; im Jahre 1975 unterzog sie sich zum Zwecke der Geradestellung einer Operation an beiden Unterschenkeln. Der von der Beklagten gehörte Gutachter vertrat die Auffassung, daß sich gelegentlich der Bewegung auf der Treppe eine Gelenkmaus zwischen Oberschenkelrolle und Schienbeintragfläche einklemmte und zum Versagen des linken Kniegelenkes führte. Dies sei die wahrscheinlichste Ursache für den Sturz der Klägerin am 28. Juli 1980. Daraufhin lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 22. Juli 1981 die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, der Sturz der Klägerin sei mit Wahrscheinlichkeit infolge einer körpereigenen Ursache herbeigeführt worden. Den Widerspruch wies die Beklagte durch ihren Widerspruchsbescheid vom 25. August 1981 zurück.

Nach der Auffassung des SG war die Außentreppe des Hauses eine wesentliche mitwirkende Ursache für die Schwere des Unfalls der Klägerin. Der von der Steintreppe ausgehenden Gefahr sei sie aus betriebsbedingten Gründen ausgesetzt gewesen.

Demgegenüber ist das LSG zu dem Ergebnis gekommen, daß die bei der Klägerin bestehende Erkrankung die wesentliche Ursache ihres Unfalles am 28. Juli 1980 war; gelegentlich der Bewegung auf der Treppe sei es zur Einklemmung einer Gelenkmaus und dadurch zum Sturz gekommen. Die Benutzung der Außenhaustreppe sei nicht als wesentliche Mitursache für den Unfall anzusehen, weil die von ihr ausgehende Gefährdung die im privaten Lebensbereich bestehenden Gefahren nicht um ein Mehrfaches überstiegen und daher keine besondere Wegegefahr begründet habe. Sie sei auch nicht auf der Treppe aufgeschlagen. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin vertritt im Revisionsverfahren die Auffassung, das LSG habe die Vorschriften der §§ 548, 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht richtig angewendet. Die Außentreppe sei wesentlich mitwirkende Ursache für den Sturz der Klägerin und das Ausmaß seiner Folgen gewesen. Bei einem Sturz auf ebener Fläche wäre es nicht zum Steißbeinbruch gekommen. Die Treppe sei - rechtlich gesehen - wie eine Betriebseinrichtung zu bewerten.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts vom 18. Januar 1984 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 10. März 1983 mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß festgestellt wird, daß die Steißbeinfraktur der Klägerin Folge des Arbeitsunfalles am 28. Juli 1980 ist.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Treppe habe keine besondere Wegegefahr begründet und sei auch nicht als besonders gefährliche Einrichtung anzusehen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Der Unfall, den die Klägerin erlitt, ereignete sich auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte. Auf solchen Wegen besteht gem § 550 Abs 1 RVO Versicherungsschutz wie bei der Erledigung der Tätigkeit selbst. Betrifft die versicherte Person bei ihrer Tätigkeit oder auf dem Weg zur Arbeitsstätte - wie hier - ein Unfall, so besagt dies allein allerdings noch nicht, daß ein Arbeitsunfall vorliegt; denn nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO genügt nicht, daß die Versicherte sich aus betrieblichen Gründen an der Unfallstelle befand. Vielmehr ist über diesen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang hinaus erforderlich, daß zwischen der Zurücklegung des Weges - oder der Tätigkeit - und dem Unfall ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang im Sinne der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung besteht (s zuletzt BSG Urteil vom 29. März 1984 - 2 RU 21/83 -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 480n II mwN). Danach besteht ein Kausalzusammenhang, wenn die Zurücklegung des Weges angesichts der sonstigen Umstände des Einzelfalles eine ins Gewicht fallende Ursache für den konkreten Unfall war. Keine Ursache im Rechtssinne ist die Zurücklegung des Weges - oder die Tätigkeit - dann, wenn sich der Unfall nur gelegentlich einer solchen Handlung ereignet (sog Gelegenheitsursache).

Das LSG ist davon ausgegangen, daß sich eine Gelenkmaus "gelegentlich der Bewegung auf der Treppe" einklemmte und den Sturz der Klägerin hervorrief (Seite 6). Es hat diese Wendung dem von der Beklagten eingeholten Gutachten entnommen (Blatt 17). Ob darin allerdings das Wort "gelegentlich" iS der oben dargelegten in der Rechtsprechung entwickelten Kausalitätslehre verwendet ist, bedarf im Rahmen der sonstigen erforderlichen weiteren Feststellungen (s.u.) der Überprüfung durch das LSG.

Der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit der Klägerin und dem Unfall kann dadurch gegeben gewesen sein, daß die Klägerin der Gefahr, der sie erlegen ist, infolge ihrer durch die Tätigkeit bedingten Anwesenheit auf der Unfallstelle ausgesetzt und der Unfall in seiner Art oder Schwere wahrscheinlich durch die versicherte Tätigkeit bedingt war und sonach ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit der Unfallstelle und den Verletzungen oder ihrer Schwere bestanden hat (s Brackmann, aa0, S 480 o I mit Nachweisen ua der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts und des Bundessozialgerichts, insbesondere RVA EuM 33, 15; BSG SozR Nr 18 zu § 543 RVO aF; BSG Urteile vom 30. Oktober 1964 - 2 RU 38/64 - und vom 29. März 1984 - 2 RU 21/83 -). Daß nach Meinung des LSG als mitwirkende betriebliche Umstände nur solche in Betracht kommen, welche die Versicherte einer Gefährdung aussetzen, die um ein Mehrfaches die in ihrem privaten Lebensbereich bestehende Gefährdung übersteigen, wird von der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts nicht gefordert. Das Urteil des 5. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Mai 1984 (5a RKnU 3/83) und das in diesem Urteil zitierte Urteil des 8. Senats vom 22. Juni 1976 (SozR 2200 § 548 Nr 20) gehen davon aus, daß der Verletzte bei einer dem privaten Bereich dienenden sogenannten eigenwirtschaftlichen Tätigkeit verunglückt sei. Im hier zu entscheidenden Fall ist die Klägerin dagegen bei einer der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Verrichtung gestürzt. Zudem ist diesen beiden Urteilen auch nicht zu entnehmen, daß von nach Art oder Schwere des Unfalls wesentlich mitwirkenden betrieblichen Umständen regelmäßig nur dann gesprochen werden könne, wenn sie typische Merkmale des Betriebes aufweisen und wegen ihrer Beschaffenheit als in besonderem Maße gefährliche Einrichtung gelten. Der 5. Senat hat den erforderlichen Kausalzusammenhang als gegeben angesehen, weil eine objektiv gefährliche Betriebseinrichtung (Bahngleise, über die der Versicherte gesprungen und dabei gestürzt war) den Unfall wesentlich verursacht habe. Auch der jetzt nicht mehr für Angelegenheiten der Unfallversicherung zuständige 8. Senat hat es für ausreichend gehalten, daß bei einer an sich unversicherten Tätigkeit (Einnahme des Mittagessens in der Kantine) Versicherungsschutz gegeben sein könne, wenn eine Betriebseinrichtung den Unfall wesentlich mitverursacht hat. Er erwähnt lediglich beiläufig, daß in dem von ihm entschiedenen Fall (Einklemmen in die Drehtür beim Verlassen der Kantine) die Drehtür nicht nur eine betriebliche, sondern dazu auch noch im besonderen Maße gefahrenträchtige Einrichtung gewesen sei.

Im vorliegenden Fall befand sich die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls auf einem mit ihrer versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg, auf dem sie ua eine mehrstufige Treppe zu begehen hatte. Unter den gegebenen Umständen wäre vom LSG zu prüfen gewesen, ob Art und Schwere des Unfalls der Klägerin durch die von ihr ausgeübte versicherte Tätigkeit (Zurücklegung eines über die Treppe führenden Weges) wesentlich mitbedingt worden sind.

Diese Prüfung hat das LSG unter Zugrundelegung eines zu strengen Maßstabes vollzogen. Es hat zwar richtig geprüft, ob der Unfallhergang auch dadurch mitgeprägt war, daß die Klägerin sich beim Sturz auf einer zum Weg gehörenden Treppe befand. Diese Untersuchung hätte es unter Beachtung der Grundsätze der Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung durchführen müssen. In diesem Zusammenhang war bedeutsam, daß die Klägerin sich - von unten gerechnet - auf der dritten Treppenstufe befand und von hier bis auf den Weg fiel. Sollten die Art oder die Wucht des Fallens und die konkrete Verletzung durch das Begehen der Treppe wesentlich mit-verursacht worden sein, so wäre gerade dieser Wegeabschnitt die rechtliche allein wesentliche Ursache für den Unfall der Klägerin in seiner konkreten Ausprägung. Anders als vom LSG angenommen, kommt es nur auf diese tatsächlichen Umstände des einzelnen Unfalles an und nicht darauf, ob "abstrakte" Gefahren auf dem Weg zur Arbeitsstätte lauern. Erst recht ist demzufolge nicht Voraussetzung, daß die abstrakten Gefahren eine bestimmte Größe haben. Entscheidend ist, ob sie als wesentliche Bedingung wirksam werden. Insofern unterscheidet sich ein durch körperliche Gebrechen verursachter Sturz bei einer versicherten Tätigkeit, der sich auf einer Treppe ereignet, bei der rechtlichen Wertung des ursächlichen Zusammenhangs von einem Körperschaden, der zwangsläufig mit dem Zusammenbrechen aus innerer Ursache hervorgerufen wird. Ob der Kausalzusammenhang hier gegeben ist, wird das LSG zu prüfen und festzustellen haben.

Das LSG hat auch über die in der Revisionsinstanz entstandenen Kosten zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664934

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