Leitsatz (redaktionell)

Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung ist auch gegeben, wenn in der betrieblichen Mittagspause nach Beendigung eines Essens in einer dem Betrieb nahegelegenen Gaststätte der Rückweg zur Arbeitsstätte zum Zwecke der Erholung an frischer Luft etwas verlängert wird.

 

Orientierungssatz

Der Unfallversicherungsschutz ist auf Wegen begründet, die während der Arbeitszeit zurückgelegt werden müssen, um die Entfernung zwischen der Arbeitsstätte und dem Ort zu überwinden, an dem das Essen eingenommen wird.

Dieser Unfallversicherungsschutz wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß der Versicherte einen Umweg wählt, um sich gegen Ende der Mittagspause noch im Freien zu ergehen.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. März 1967 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin wurde am 22. Oktober 1964 von einem Verkehrsunfall betroffen. Sie wurde nach der Einnahme des Mittagessens auf dem Rückweg zu ihrer Arbeitsstätte von einem Personenkraftwagen angefahren und durch Bruch des rechten Beines im Unterschenkel verletzt. Aus dem angefochtenen Urteil des Landessozialgerichts (LSG) ergeben sich hierzu in tatsächlicher Beziehung folgende Feststellungen: Die Klägerin war in einem Maklerunternehmen in M als Sachbearbeiterin beschäftigt. Sie hatte ihren Arbeitsplatz zusammen mit zwei anderen Angestellten in einem etwa 16 qm großen Raum. Die Arbeitszeit begann um 8 Uhr und endete um 17 Uhr; von 12 Uhr bis 12.45 Uhr war Tischzeit. Die Klägerin nahm ihr Mittagessen gewöhnlich in der Gaststätte "J" in der Straße L ein. Der direkte Weg zwischen der im Hause S.-straße ... gelegenen Arbeitsstätte der Klägerin und der Gaststätte beträgt etwa 120 m. Diesen Weg benutzte die Klägerin am 22. Oktober 1964 jedoch nicht, als sie sich nach der Einnahme des Mittagessens wieder zur Arbeit begeben wollte. Sie ging zunächst zur S.-straße und bog auf diese rechts ein; nach etwa 30 m weiteren Weges wollte sie sich auf den gegenüberliegenden Bürgersteig der S.-straße begeben. Beim Überqueren der Straße stieß ihr der Unfall um 12.40 Uhr zu. Das Speiselokal hatte sie fünf Minuten vorher verlassen.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 15. April 1965 den Entschädigungsanspruch mit folgender Begründung ab: Die Klägerin sei auf einem Weg verunglückt, der nicht im örtlichen und inneren Zusammenhang mit ihrer versicherten Tätigkeit gestanden habe. Sie habe sich im Zeitpunkt des Unfalls auf einem von der Betriebsstätte wegführenden und lediglich privaten Zwecken dienenden Weg befunden; denn sie habe die weitere Wegstrecke benutzt, um sich auf der S.-straße Schaufensterauslagen anzusehen. Die Voraussetzungen des § 550 RVO seien daher nicht gegeben.

Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin die gesetzlichen Leistungen zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 7. März 1967 zurückgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt: Die Voraussetzungen, unter denen ein Arbeitnehmer in der Mittagspause auf den aus Anlaß der Essenseinnahme zurückgelegten Wegen von und nach der Arbeitsstätte nach § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versichert ist, seien im vorliegenden Fall gegeben. Mit Rücksicht darauf, daß die Klägerin über Mittag ihre von der Arbeitsstätte weit entfernt gelegene Wohnung nicht habe aufsuchen können und auch keine Betriebskantine zur Verfügung gestanden habe, sei es im Interesse der Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Klägerin zweckmäßig gewesen, daß sie in der nahe gelegenen Gaststätte "J" zu Mittag gegessen habe. Der Umstand, daß sie auf dem Rückweg vom Essen zur Arbeitsstätte nicht den kürzesten Weg gewählt habe, sondern sich auf dem um insgesamt 60 bis 80 m längeren Weg zur Arbeit habe zurückbegeben wollen und auf dieser Wegstrecke verunglückt sei, stehe ihrem Versicherungsschutz nicht entgegen. Sie habe diesen weiteren Weg zwar eingeschlagen, um die ihr nach der Essenseinnahme noch zur Verfügung stehenden wenigen Minuten Arbeitspause zum Betrachten von Schaufenstern zu benutzen. Indessen habe sie nach ihren glaubhaften Angaben auf dem verlängerten Weg nicht nur dies beabsichtigt, sondern auch ein wenig frische Luft schöpfen und sich die Füße ein wenig vertreten wollen. Wäre es der Klägerin im wesentlichen darum gegangen, sich die Auslagen in den Schaufenstern anzusehen, wäre sie sicherlich auf der S.-straße bis zur nächsten Straßenkreuzung weitergegangen. Da Ziel des gesamten Weges allein die Arbeitsstätte geblieben sei, habe es sich um einen Umweg zur Arbeitsstätte gehandelt. Dieser sei aber als unwesentlich anzusehen und daher nicht geeignet, den inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit der Klägerin zu lösen oder zu unterbrechen. Hierbei sei besonders zu berücksichtigen, daß die Klägerin mit dem Umweg bezweckt habe, sich für die Fortführung der Arbeit am Nachmittag bereitzumachen. Jedenfalls habe es sich nicht nur um einen ihrem persönlichen Interesse dienenden Spaziergang gehandelt.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat gegen das Urteil, das ihr am 17. April 1967 zugestellt worden ist, am 25. April 1967 Revision eingelegt und diese am 12. Juni 1967 begründet. Sie vertritt mit ausführlicher Begründung u.a. folgende Auffassung: Das LSG hätte den zum Unfall führenden Weg der Klägerin als einen ihren privaten Zwecken dienenden Spaziergang ansehen müssen. Bei dem Besuch der Gaststätte zur Einnahme des Mittagessens seien die dazu erforderlichen Wege nicht nach § 550 RVO geschützt; diese seien vielmehr ebenso wie die Essenseinnahme selbst der privaten Lebenssphäre des Versicherten zuzurechnen. Zur Erhaltung der Arbeitskraft sei es nicht nötig gewesen, daß sich die Klägerin noch ein wenig in der frischen Luft bewegte.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie pflichtet im wesentlichen den Ausführungen des Berufungsurteils bei.

II

Die Revision ist zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Das LSG hat mit Recht entschieden, daß die Klägerin im Zeitpunkt ihres Unfalls vom 22. Oktober 1964 unter Versicherungsschutz nach § 550 Satz 1 RVO stand. Entgegen der Ansicht der Revision ist es zutreffend davon ausgegangen, daß dieser Versicherungsschutz nicht deshalb in Frage gestellt ist, weil die Klägerin den zum Unfall führenden Weg nach ihrer Arbeitsstätte im Anschluß an die Einnahme des Mittagessens angetreten hatte. Der Revision ist zwar zuzugeben, daß Essen und Trinken grundsätzlich eine dem unversicherten persönlichen Bereich zuzurechnende Betätigung ist. Sie verkennt jedoch, daß der Versicherungsschutz auf Wegen begründet ist, die während der Arbeitszeit zurückgelegt werden müssen, um die Entfernung zwischen der Arbeitsstätte und dem Ort zu überwinden, an dem das Essen eingenommen wird (vgl. SozR Nr. 26 zu § 543 RVO aF). Auf einem solchen nach § 550 Satz 1 RVO mit ihrer versicherten beruflichen Tätigkeit zusammenhängenden Weg befand sich die Klägerin, als sie am Unfalltage in der Mittagspause nach dem Essen zu ihrer Arbeitsstätte zurückkehren wollte.

Dieser Versicherungsschutz ist nicht dadurch in Frage gestellt, daß sich die Klägerin nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt von der Gastwirtschaft, in der sie gegessen hatte, zur Arbeitsstätte auf einem Umweg zurückbegeben wollte. Für die Beurteilung des Versicherungsschutzes auf Umwegen kommt es darauf an, welches Ausmaß die Abweichung vom direkten Weg hat. Handelt es sich dabei um eine nur unbedeutende Verlängerung dieses Weges, bleibt der Versicherungsschutz ohne weiteres unberührt. Bei einer erheblichen Abweichung von der kürzesten Wegeverbindung kann ausnahmsweise der nach § 550 RVO erforderliche ursächliche Zusammenhang zwischen der Arbeitstätigkeit und dem verlängerten Weg gegeben sein, wenn die Wahl dieses Weges wesentlich durch betriebliche Zwecke bestimmt wird (BSG 4, 219, 222). Im vorliegenden Fall kann es unerörtert bleiben, ob es sich um einen nur unwesentlichen und daher für den Versicherungsschutz unschädlichen Umweg handelte. Auch wenn die Abweichung mit Rücksicht darauf, daß nach den Feststellungen des LSG der kürzeste etwa 120 m betragende Weg um mehr als die Hälfte, nämlich 60 bis 80 m, verlängert worden wäre, als erheblich zu gelten hätte, wäre trotzdem der Versicherungsschutz der Klägerin begründet; denn wie das LSG mit Recht angenommen hat, waren für die Wahl des Weges betriebsbezogene Umstände ausschlaggebend. Zwar wollte die Klägerin auf der S.-straße - einer Geschäftsstraße - ein Stück entlanggehen und Schaufensterauslagen ansehen. Dieser ihrem privaten Interesse dienende Zweck war jedoch für die Wahl des Umwegs nicht allein entscheidend. Der Klägerin lag vielmehr nach den von ihr insoweit nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen auch daran, sich gegen Ende der Mittagspause noch im Freien zu ergehen. Diesem Vorhaben hat das LSG zu Recht die Bedeutung einer wesentlich betriebsfördernden Betätigung beigemessen. Die Umstände, unter denen die Klägerin als Büroangestellte ganztägig zu arbeiten hatte, lassen die Annahme gerechtfertigt erscheinen, daß es der notwendigen Stärkung für ihre Nachmittagsarbeit diente, wenn sie den Rest der Arbeitspause zur körperlichen Bewegung an der Luft nutzte. Gegenüber diesem betriebsbezogenen Zweck des Umweges hat nach der Auffassung des erkennenden Senats der dem privaten Bereich zuzurechnende Umstand, daß die Klägerin auf der Straße im Vorbeigehen Schaufenster ansah, jedenfalls als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund zu treten. Damit entfällt zugleich die Grundlage für die Ansicht der Revision, die Klägerin sei lediglich zu einem mit ihrer Betriebsarbeit nicht zusammenhängenden Spaziergang unterwegs gewesen, als sie verunglückte.

Ob der nach § 550 RVO erforderliche Ursachenzusammenhang etwa auch unter dem Gesichtspunkt gegeben ist, daß die Klägerin mit dem Umweg einen verkehrssicheren Übergang auf der S.-straße habe verbinden wollen, brauchte nicht geprüft zu werden, da das LSG den Versicherungsschutz der Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls ohnehin schon aus den vorstehend dargelegten Gründen zutreffend bejaht hat.

Bei der Schwere der Verletzung der Klägerin haben die Vorinstanzen zu Recht ein Grundurteil erlassen (vgl. SozR Nr. 3 und 4 zu § 130 SGG).

Die Revision der Beklagten ist somit unbegründet und war zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten ergeht auf Grund von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284676

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