Leitsatz (redaktionell)

1. Ein rechtswirksames Arbeitsangebot liegt nur vor, wenn es den Grundsätzen der Arbeitsvermittlung nach den AFG § 14, § 15 und § 16 entspricht, wonach die Eignung des Arbeitslosen und seine persönlichen Verhältnisse, insbesondere die Tatsache, ob der Arbeitslose die Arbeit nach seiner Leistungsfähigkeit verrichten kann, angemessen zu berücksichtigen sind.

2. Das LSG darf sich nicht mit einer durch Tatsachen nicht belegten Vermutung begnügen, sondern muß den Sachverhalt durch weiteres Befragen oder durch Vernehmung von mit dem Betriebsablauf besonders vertrauten Zeugen aufklären.

 

Normenkette

AFG § 14 Fassung: 1969-06-25, § 15 Fassung: 1969-06-25, § 16 Fassung: 1969-06-25, § 119 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Fassung: 1969-06-25; SGG § 103 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. März 1973 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der 1932 geborene Kläger ist seit 1958 - abgesehen von Krankheitszeiten - langfristig arbeitslos. Zuletzt war er im Jahre 1963 sieben Monate als Bauhilfsarbeiter, 1968 drei Wochen als Notstandsarbeiter im Tiefbau und 1970 vier Wochen vom 13. Juli bis 12. August 1970 als Tiefbauhelfer beschäftigt. Mit Bescheid vom 7. Juli 1970 verhängte die Beklagte gegen den Kläger eine erste vierwöchige Sperrzeit, weil er am 22. Juni 1970 ein Arbeitsangebot bei der Firma Reifen V-B KG in A ohne Grund abgelehnt hatte. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit bindend gewordenem Widerspruchsbescheid vom 31. Juli 1970 zurückgewiesen. Am 25. August 1971 bot die Beklagte dem Kläger einen Arbeitsplatz in A bei der Bürstenfabrik E A als Hilfsarbeiter mit einer Arbeitszeit von 7,30 Uhr bis 17,00 Uhr und dem ortsüblichen Stundenlohn von 5 DM, der nach einer angemessenen Einarbeitungszeit erhöht werden sollte, an. Zu einer Einstellung des Klägers kam es nicht. Nach Aufnahme einer Niederschrift über die Arbeitsablehnung und die Rechtsfolgenbelehrung hob die Beklagte mit Bescheid vom 28. September 1971 die Bewilligung der Arbeitslosenhilfe (Alhi) ab 26. August 1971 mit der Begründung auf, der Kläger habe erneut Anlaß für eine Sperrzeit von vier Wochen gegeben. Die bereits für die Zeit vom 26. August bis zum 18. September 1971 gezahlte Alhi in Höhe von 289,80 DM forderte die Beklagte mit Bescheid vom 30. September 1971 zurück. Der gegen beide Bescheide eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 1971).

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Aurich durch Urteil vom 31. Mai 1972 abgewiesen. Die dagegen eingelegte Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 22. März 1973 zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Die Beklagte sei nach § 119 Abs. 3 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) in Verbindung mit § 134 Abs. 2 AFG berechtigt gewesen, die Bewilligung der Alhi aufzuheben und die bereits für die Zeit vom 26. August bis zum 18. September 1971 gezahlte Alhi in Höhe von 289,80 DM zurückzufordern. Der Anspruch des Klägers auf Alhi sei nämlich ab 26. August 1971 erloschen gewesen. Nach der bindend festgesetzten ersten vierwöchigen Sperrzeit habe der Kläger am 25. August 1971 erneut Anlaß für eine Sperrzeit von vier Wochen gegeben. Er habe trotz Belehrung über die Rechtsfolgen eine vom Arbeitsamt (ArbA) angebotene Arbeit nicht angenommen, ohne für sein Verhalten einen wichtigen Grund zu haben. Er habe sich bei seiner Vorstellung am 25. August 1971 bei der Bürstenfabrik E A in A so verhalten, daß der Arbeitgeber den Eindruck habe gewinnen müssen, der Kläger sei an einer Arbeitsaufnahme nicht ernsthaft interessiert. Der Kläger habe auf seine langjährige Arbeitslosigkeit und seine Erkrankung an Gelenkrheuma hingewiesen und mehrfach den Arbeitgeber danach gefragt, ob eine Fahrgelegenheit von seinem Wohnort M nach A bestehe. Der Kläger sei sich bewußt gewesen, mit diesen Gesprächspunkten den Eindruck zu erwecken, nicht arbeitswillig zu sein. Durch das Ergebnis der Beweisaufnahme sei die Behauptung des Klägers widerlegt, die Firma A habe ihn nicht wegen mangelnden Arbeitswillens, sondern wegen krankheitsbedingter Leistungsminderung nicht eingestellt. Die Zeugin H A habe ausdrücklich bekundet, der Kläger sei aufgrund ihres, ihrem Mann und ihrem Schwiegervater mitgeteilten Eindrucks nicht eingestellt worden, er habe nicht viel Lust, in der Firma zu arbeiten. Der Kläger sei auch nach seinem Gesundheitszustand in der Lage gewesen, das Arbeitsangebot anzunehmen. Der Med. Oberrat Sch-H habe in seinem Gutachten vom 24. März 1972 überzeugend unter Berücksichtigung der gesamten arbeitsamtsärztlichen Gutachten und Befunde ausgeführt, von einer erheblichen Leistungsminderung aufgrund der in früheren Jahren erlittenen rheumatischen Erkrankung könne nicht die Rede sein. Dem Kläger seien ohne weiteres die Arbeiten in einer Bürstenherstellungsfirma, wenn es sich hierbei nicht um schwere Holzstemmarbeiten handele, zumutbar. Hinsichtlich des Anmarschweges von M, dem damaligen Wohnort des Klägers, zum Arbeitsplatz in A bestünden keine Bedenken. Das LSG ist deshalb zu der Auffassung gelangt, der Kläger habe zumindest die Arbeit versuchsweise aufnehmen müssen. Es führt weiter aus: Es bestehe kein Anlaß zur Annahme, daß der Kläger von Holzstemmarbeiten, die über sein objektives Leistungsvermögen hinausgingen, nicht auf Anfrage freigestellt worden wäre. Schwere Holzstemmarbeiten würden bei der Bürstenherstellung nur gelegentlich anfallen. Die Zeugin H A habe hierzu glaubhaft bei ihrer Vernehmung vor dem SG ausgeführt, bei den Holzstemmarbeiten, die auch mitunter zu verrichten seien, handele es sich wohl um schwere Arbeiten. Die meisten anderen Arbeiten gingen maschinell vor sich, es seien wohl leichtere bis mittelschwere Arbeiten.

Mit der vom LSG nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 103, 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Er führt dazu insbesondere aus: Im Berufungsverfahren habe er beantragt, den Facharzt für Lungenkrankheiten Dr. S in Aurich und den Facharzt für Hautkrankheiten Dr. ... über seinen Gesundheitszustand im Zeitpunkt seiner Vorstellung bei der Firma A anzuhören. Das LSG habe keinen zwingenden Grund dafür gehabt, diese Beweisanträge abzulehnen. Es habe dadurch § 109 SGG verletzt. Ferner habe das LSG den Sachverhalt nicht hinreichend erforscht, weil es den Inhaber der Firma A, den Zeugen E A, nicht antragsgemäß vernommen habe. Dieser sei aber allein in der Lage gewesen, über den Umfang der Arbeiten und ihre Schwere brauchbare Angaben zu machen. Die Zeugin H A sei mit den Arbeiten im Betrieb im einzelnen nicht vertraut gewesen und ihre Bekundungen könnten deshalb nicht ins Gewicht fallen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Bescheide der Beklagten vom 28. und 30. September 1971 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 1971 aufzuheben,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Sie führt aus: Die Revision sei nicht zugelassen. Ein wesentlicher Verfahrensmangel, der die Revision zulässig machen könne, sei nicht festzustellen. Insbesondere liege kein Verstoß des Berufungsgerichts gegen die §§ 109, 103 SGG vor.

Wegen des Vorbringens im einzelnen wird auf den Schriftsatz der Beklagten vom 29. August 1973 verwiesen.

II

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete (§§ 164, 166 SGG) Revision des Klägers ist statthaft. Das LSG hat zwar das Rechtsmittel nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen; es ist jedoch nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des Berufungsgerichts in einer der Vorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG entsprechenden Form gerügt ist und auch vorliegt (BSG 1, 150 st.Rspr.). Das ist hier der Fall.

Mit Recht rügt die Revision, das LSG habe von Amts wegen den Sachverhalt nicht hinreichend erforscht und damit gegen § 103 SGG verstoßen. Nach der vom Berufungsgericht (S. 11 des angefochtenen Urteils) vertretenen Rechtsauffassung kommt es für die Verhängung einer Sperrzeit nach § 134 Abs. 2 i.V.m. § 119 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 AFG entscheidend darauf an, ob der Arbeitslose nach seinem Gesundheitszustand in der Lage war, das Arbeitsangebot anzunehmen. Es muß sich nämlich um ein rechtswirksames Arbeitsangebot gehandelt haben. Das liegt aber nur vor, wenn das Angebot den Grundsätzen der Arbeitsvermittlung nach den §§ 14, 15 und 16 AFG entsprochen hat, wonach die Eignung des Arbeitslosen und seine persönlichen Verhältnisse, insbesondere die Tatsache, ob der Arbeitslose die Arbeit nach seiner Leistungsfähigkeit verrichten kann, angemessen zu berücksichtigen sind. Zur Feststellung, daß der Kläger gesundheitlich in der Lage gewesen sei, die bei der Firma A angebotene Arbeit anzunehmen, hat sich das LSG auf das von der Beklagten eingeholte Gutachten des Medizinal-Oberrates Sch-H vom 24. März 1972 und die Vernehmung der Zeugin Helga A vor dem SG gestützt. Die Ausführungen in dem medizinischen Gutachten vom 24. März 1972 und die Aussage der Zeugin H A hätten aber gerade das Berufungsgericht von seiner eigenen Rechtsauffassung aus dazu drängen müssen, den Sachverhalt von Amts wegen weiter dahin aufzuklären, ob der Kläger in der Lage war, die ihm angebotene Arbeit nach seinem Gesundheitszustand zu leisten. Das LSG führt nämlich selbst (S. 11 des angefochtenen Urteils) aus, daß dem Kläger "ohne weiteres die Arbeiten in einer Bürstenherstellungsfirma, wenn es sich hierbei nicht um schwere Holzstemmarbeiten handele, zumutbar" seien. Es hat andererseits aber festgestellt, daß gelegentlich bei der Firma A schwere Holzstemmarbeiten ausgeführt würden, die meisten anderen Arbeiten aber "wohl leichtere bis mittelschwere Arbeiten" seien. Es bestehe auch "kein Anlaß zur Annahme, daß der Kläger von Holzstemmarbeiten, die über sein objektives Leistungsvermögen hinausgehen, nicht auf Anfrage freigestellt worden wäre". Mit Recht rügt die Revision, daß sich das LSG hier auf nicht brauchbare Angaben der Zeugin H A für seine Feststellungen gestützt hat. Gerade durch die Angaben der Zeugin H A, daß gelegentlich Holzstemmarbeiten zu verrichten seien und ihre unsichere Beurteilung, die anderen Arbeiten "seien wohl leichtere bis mittelschwere Arbeiten", hätte sich das Berufungsgericht zu weiterer Sachaufklärung dahin gedrängt fühlen müssen, welche Anforderungen wirklich bei der Firma A an die Leistungsfähigkeit des Klägers gestellt worden wären und ob es der Betriebsablauf ermöglicht hätte, ihn von gelegentlich anfallenden schweren Holzstemmarbeiten zu befreien, da er diese Arbeiten nach dem medizinischen Gutachten vom 24. März 1972 auf jeden Fall nicht verrichten durfte. Hier durfte sich vor allem das LSG nicht mit einer durch Tatsachen nicht belegten Vermutung begnügen, es bestehe "kein Anlaß zur Annahme, daß der Kläger von Holzstemmarbeiten, die über sein objektives Leistungsvermögen hinausgehen, nicht auf Anfrage freigestellt worden wäre". Dies hätte das Berufungsgericht durch weiteres Befragen der Zeugin H A oder durch Vernehmung des mit dem Betriebsablauf besonders vertrauten und vom Kläger als Zeugen benannten Inhaber der Firma A aufklären müssen. Da das LSG dies versäumt hat, hat es damit die ihm von Amts wegen obliegende Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt. Die Revision ist somit nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.

Die Revision ist auch begründet. Es läßt sich nicht ausschließen, daß bei einer verfahrensrechtlich fehlerfreien Sachaufklärung eine für den Kläger günstigere Entscheidung ergehen wird. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben, ohne daß es noch eines Eingehens auf die vom Kläger weiter erhobene Verfahrensrüge nach § 109 SGG bedarf.

Da die bisher getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts über die Zumutbarkeit der angebotenen Arbeit für den Kläger, auf die es hier entscheidend ankommt, in der Sache selbst nicht ausreichen, muß der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Über die Kosten des Revisionsverfahrens hat das LSG in dem abschließenden Urteil mitzuentscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646601

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