Leitsatz (amtlich)

Zum Unfallversicherungsschutz einer Geschäftsinhaberin auf einem Weg, der innerhalb des Wohn- und Geschäftshauses von den Wohnräumen zum Laden zurückgelegt und auf dem die während der Nacht dort verwahrte, für das Geschäft benötigte Geldkassette mitgeführt wird.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 7. Dezember 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin betreibt zusammen mit ihrem Ehemann im eigenen Haus ein Einzelhandelsgeschäft. Im Erdgeschoß befinden sich der Laden, ein Lagerraum, Küche und Wohnzimmer, im Obergeschoß Schlaf- und Kinderzimmer sowie ein als Warenlager dienender Raum. Der Ehemann pflegt gegen 4.30 Uhr aufzustehen und dann in die Meierei zu fahren, um dort Milchprodukte zu holen. Nach der Rückkehr nach etwa einer Stunde packt er seinen Verkaufswagen, mit dem er gegen 6.45 Uhr wegfährt. Die Klägerin steht in der Regel um 5.00 Uhr auf. Nach der Morgentoilette nimmt sie die regelmäßig nachts im Schlafzimmer verwahrte Geldkassette an sich und geht nach unten in den Laden. Hier packt sie die Lebensmittel zusammen, die der Ehemann auf seiner Tour mitnehmen soll. Vor dessen Abfahrt frühstücken die Eheleute in der Küche oder im Wohnzimmer. Um 7.00 Uhr öffnet die Klägerin den Laden, soweit er als Milchgeschäft geführt wird.

Am 25. Januar 1968 gegen 5.30 Uhr befand sich die Klägerin auf dem Weg vom Schlafzimmer zum Geschäft. Die Geldkassette trug sie unter dem linken Arm. Auf der Treppe kam sie zu Fall. Sie erlitt einen rechtsseitigen Schenkelhalsbruch.

Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 24. Mai 1968 die begehrte Unfallentschädigung, weil der Unfall sich im unversicherten häuslichen Bereich ereignet habe; daß die Klägerin die für das Geschäft benötigte Geldkassette mit sich geführt habe, sei unerheblich.

Das Sozialgericht (SG) Itzehoe hat durch Urteil vom 16. Dezember 1968 aus denselben Erwägungen die Klage abgewiesen.

Auf die Berufung der Klägerin hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 7. Dezember 1970 die Entscheidung des Erstgerichts sowie den Bescheid der Beklagten aufgehoben und festgestellt, daß der Schenkelhalsbruch die Folge eines Arbeitsunfalls sei Zur Begründung hat es ausgeführt:

Die zwischen den Betriebsräumen im Erdgeschoß zu der im ersten Stock des Hauses gelegenen Wohnung führende Treppe, auf welcher der Unfall sich ereignet habe, sei dem häuslichen Bereich zuzuordnen. Unerheblich sei, ob sich auch im Obergeschoß Betriebsräume befänden; im Zeitpunkt des Unfalls sei die Klägerin auf dem Weg vom Schlafzimmer in den Laden gewesen. Die Aufbewahrung der Geldkassette im Schlafzimmer sei angesichts der privaten Nutzung dieses Raumes ohne Bedeutung. Der Gang in das Erdgeschoß sei indessen nicht nur zur Aufnahme der Geschäftstätigkeit unternommen worden, sondern habe auch dem Transport der dafür notwendigen Geldkassette gedient. Es liege somit eine sogenannte gemischte Tätigkeit vor. Hierbei habe die Klägerin unter Unfallversicherungsschutz (UV-Schutz) gestanden, weil der Transport der Kassette nicht lediglich ein unwesentlicher Nebenzweck einer privaten Tätigkeit gewesen, sondern gerade im Hinblick auf das Geschäft erfolgt sei. Die Kassette sei in erster Linie für die Geschäftseröffnung um 7.00 Uhr, aber auch für die Ausrüstung des Ehemannes mit Wechselgeld benötigt worden. Das Tragen der Kassette habe den Unfall auch rechtlich wesentlich verursacht. Wie es im einzelnen zu dem Unfall gekommen sei, könne allerdings nicht festgestellt werden. Die Klägerin nehme an, sie habe sich auf der Treppe "vertreten". Nach allgemeiner Lebenserfahrung sei gerade bei einem "Vertreten" auf einer Treppe die Unfallgefahr erheblich erhöht, da der Stolpernde mit nur einer Hand sich nicht am Geländer abfangen oder die Folgen des Sturzes mindern könne.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet: Bedenken prozessualer Art gegen die Aufhebung des angefochtenen Bescheids sowie die Feststellung, daß der Schenkelhalsbruch die Folge eines Arbeitsunfalls sei, seien angesichts der lediglich hierauf im zweiten Rechtszug gerichteten Prozeßanträge nicht zu erheben. Das LSG habe jedoch zu Unrecht die Voraussetzungen des § 548 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bejaht. Nach dem festgestellten Sachverhalt habe es sich nicht um die Beförderung eines Arbeitsgeräts gehandelt. Die Klägerin sei in das Erdgeschoß ihres Hauses gegangen, um mit der Tätigkeit in ihrem Geschäft zu beginnen. Auf diesem Weg sei sie nach feststehender Rechtsprechung nicht unfallgeschützt gewesen. Die Geldkassette habe sie bei dieser Gelegenheit lediglich mitgenommen. § 549 RVO sei somit nicht anzuwenden. Dieselbe Erwägung spreche aber auch gegen die Anwendbarkeit des § 548 Abs. 1 RVO. Die Geldkassette sei 1 1/2 Stunden vor Geschäftseröffnung noch nicht unbedingt im Laden benötigt worden. Das erforderliche Wechselgeld habe der Ehemann gewiß bereits aus der Kassette entnommen, als diese noch im Schlafzimmer aufbewahrt gewesen sei; er sei im Zeitpunkt des Unfalls schon unterwegs gewesen. Die betriebliche Beziehung sei in diesem Zeitpunkt somit noch nicht so erheblich gewesen, um einen inneren Zusammenhang mit der geschäftlichen Tätigkeit herzustellen. Das Berufungsgericht sei zwar ferner der Auffassung, daß der Transport der Kassette ein besonderes betriebliches Risiko dargestellt und zur Entstehung des Unfalls wesentlich beigetragen habe. Die dazu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen habe das LSG jedoch unterlassen; es habe insbesondere nicht festgestellt, wie groß und schwer die Kassette sei. Trotzdem habe es dem Mitführen der Kassette eine wesentliche Mitverursachung für den Unfall zugebilligt, obwohl es nicht habe feststellen können, wie es im einzelnen zu dem Unfall gekommen sei. Es sei insoweit nicht auf den vom LSG angewandten Erfahrungssatz, sondern auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, insbesondere auf den Zustand der Treppe, ihre Breite, die Höhe der Treppenstufen und auf die Art des Geländers. Da, wie das Berufungsgericht festgestellt habe, die Klägerin die Kassette unter dem linken Arm getragen habe, habe sie entgegen der Annahme des LSG beim Stolpern auch die linke Hand frei gehabt. Die Ausführungen des Berufungsgerichts über den Unfallhergang und seine insoweit angestellten Vermutungen seien daher nicht ausreichend, einen ursächlichen Zusammenhang des Sturzes mit der geschäftlichen Tätigkeit anzunehmen.

Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Entgegen der Ansicht der Beklagten sei sie dadurch, daß sie die Kassette unter dem linken Arm getragen habe, beim Sturz mehr in dem Bestreben, diesen zu vermeiden, behindert gewesen, als wenn sie die Kassette in der linken Hand getragen hätte; jeder Mensch sei in einer solchen Lage instinktiv bemüht, die Kassette nicht fallen zu lassen. Da sie in diesem Augenblick den linken Arm zur Abwehr des Sturzes nicht habe gebrauchen können, sei es unwesentlich, wie groß die Geldkassette sei.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nicht begründet.

Anders als das Berufungsgericht, das diese Frage nicht erörtert hat, weist die Revision darauf hin, daß die Geldkassette, welche die Klägerin am frühen Morgen des 25. Januar 1968 auf dem Weg ins Geschäft mit sich geführt hatte, ein Arbeitsgerät im Sinne von § 549 RVO sei. Hiergegen hat der Senat Bedenken; nicht jeder Gegenstand ist ein Arbeitsgerät im Rechtssinne, nur weil er zur Verrichtung der Tätigkeit im Unternehmen gebraucht werden kann (BSG 24, 243, 246). Indessen kann dies dahingestellt bleiben, weil sich der UV-Schutz aus § 548 Abs. 1 RVO ergibt. Das Berufungsgericht hat zu Recht die Voraussetzungen dieser Vorschrift als erfüllt angesehen. § 550 RVO ist, wenn sich - wie hier - Wohnung und Arbeitsstätte innerhalb desselben Gebäudes befinden, nicht anwendbar (BSG 11, 267; 12, 165). Ob, wie das LSG angenommen hat, die Treppe, auf der die Klägerin zu Fall gekommen ist, ungeachtet dessen, daß im ersten Stock ein Raum für Unternehmenszwecke benutzt worden ist, dem häuslichen unversicherten Bereich zuzuordnen ist (vgl. BSG 11, 267; 12, 165; BG 1959, 80; Breithaupt 1959, 993, DOK 1962, 232), kann dahinstehen. Auch wenn man mit dem Berufungsgericht davon ausgeht, hat dieses nach Lage des vorliegenden Falles zutreffend den UV-Schutz bejaht, weil der Unfall im ursächlichen Zusammenhang mit der Tätigkeit im Unternehmen steht.

Der erkennende Senat hat dies in einem Fall angenommen, in dem jemand auf dem Weg zu den Geschäftsräumen Waren mitgenommen hatte, welche in einem Wohnraum aufbewahrt wurden, und noch im häuslichen Bereich verunglückt ist (Urteil vom 15. Dezember 1959 - 2 RU 60/58 - SozEntsch. BSG IV § 542 (a) Nr. 16). Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich davon rechtlich nicht wesentlich. Ebenso wie die von ihm zu verkaufenden Waren gehören bei einem Einzelhändler die in seinem Geschäft vereinnahmten Gelder zu den wichtigen Gegenständen seines Unternehmens (BSG 26, 45, 47). Ihre Verwahrung nach Geschäftsschluß außerhalb der Geschäftsräume an einem für sicherer gehaltenen Ort dient ebenso der Tätigkeit im Unternehmen wie ihr Zurückbringen in die Geschäftsräume für Geschäftszwecke. Dies traf bei der Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls zu. Bevor ihr Ehemann seine Verkaufstour antrat, für die er Wechselgeld benötigte, und sie selbst das Geschäft öffnete, kam die Klägerin nicht mehr in das obere Stockwerk hinauf; deshalb pflegte sie schon um 5.30 Uhr die Geldkassette mit in den Laden zu nehmen. Das Verlangen der Beklagten, sie solle, erst wenn sie das Geld für das Geschäft benötige, sich in das Schlafzimmer begeben und stehe nur auf diesem eigens für diesen Zweck zurückgelegten Weg unter UV-Schutz, wird den Gegebenheiten des täglichen Lebens nicht gerecht. Die Klägerin war im Zeitpunkt des Unfalls nicht nur in ihrem Haus unterwegs, um ihre geschäftliche Tätigkeit aufzunehmen, sondern auch um die für die Führung des Geschäftsbetriebs notwendigen Geldmittel in den Laden zu verbringen. Da diese Tätigkeit dem Unternehmen wesentlich gedient hat, liegt jedenfalls eine sogenannte gemischte Tätigkeit (BSG 3, 240) mit der Folge vor, daß bei dem Sturz auf der Treppe UV-Schutz gegeben war (gleicher Auffassung LSG Niedersachsen, Breithaupt 1968, 201; LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1969, 22; LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1972, 285; a. A. Bay. LSG, Bay. AMBl. 1958 Teil B S. 65, Breithaupt 1968, 478). Insofern weicht der vorliegende Sachverhalt von dem ab, über den der erkennende Senat im Urteil vom 23. März 1972 (2 RU 153/70) zu entscheiden hatte.

Da die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls eine nach § 548 Abs. 1 RVO geschützte Tätigkeit verrichtet hat, ist die vom LSG ferner geprüfte, nach der Meinung der Revision ausreichender tatsächlicher Feststellungen ermangelnde Frage, ob durch das Mitführen der Geldkassette der Unfall mit herbeigeführt worden ist, im Hinblick darauf, daß betriebsfremde Ursachen für die Entstehung des Unfalls ersichtlich nicht in Frage kommen, ohne versicherungsrechtliche Bedeutung. Hinsichtlich der haftungsausfüllenden Kausalität besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.

Die Revision der Beklagten war deshalb als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670169

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