Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussicht als Voraussetzung der Rehabilitationsleistung. Erstattungsanspruch

 

Orientierungssatz

1. Die durch § 1236 Abs 1 S 1 RVO dem Rentenversicherungsträger abverlangte "Voraussicht" bezieht sich ausdrücklich darauf, daß die zur Prüfung stehende Maßnahme geeignet erscheint, die geminderte oder gefährdete Erwerbsfähigkeit des Versicherten wiederherzustellen oder zu bessern; fehlt nach anzustellender Voraussicht diese Eignung, kann mithin das gesetzlich vorgegebene Ziel einer Maßnahme zur Rehabilitation evidentermaßen nicht erreicht werden, so ist für eine Bewilligung der Maßnahme kein Raum (Vergleiche BSG vom 18.2.1981 - 1 RA 93/79 - = SozR 2200 § 1236 Nr 31).

2. Wird der erstrebte Erfolg "voraussichtlich" nicht eintreten, so ist dem Versicherungsträger die Erbringung einer Rehabilitationsleistung verwehrt; er kann dann nicht iS von § 104 Abs 1 S 1 SGB 10 vorrangig einer solchen Leistung verpflichtet sein.

3. Durch den Gebrauch des Wortes "voraussichtlich" wollte der Gesetzgeber offenbar zum Ausdruck bringen, daß der Versicherungsträger von einem Erfolg der Rehabilitation nicht überzeugt zu sein braucht; es genügt, wenn ungeachtet nicht auszuräumender Zweifel mit einem Erfolg zu rechnen ist.

 

Normenkette

SGB 10 § 104 Abs 1 S 1 Fassung: 1982-11-04; RVO § 1531 Fassung: 1945-03-29, §§ 184a, 1236 Abs 1 S 1; BSHG

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 13.12.1983; Aktenzeichen L 1 J 82/83)

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 29.09.1982; Aktenzeichen S 4 J 1969/78)

 

Tatbestand

Der 1934 geborene Beigeladene zu 2) bezieht seit Oktober 1976 von der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), nachdem bei ihm Schwachsinn leichten Grades (Debilität), Propfschizophrenie und eine Neigung zum Alkoholmißbrauch diagnostiziert worden waren. Am 13. Juni 1977 wurde er wegen eines akuten Erregungszustandes in die Landesklinik N. eingeliefert. Von dort wurde er in die Rehabilitationseinrichtung Haus B. in E. verlegt, wo er vom 18. November 1977 bis 18. Juni 1978 verblieb. Die Kosten übernahm nach § 44 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vorläufig der klagende Landeswohlfahrtsverband.

Einen im Oktober 1977 gestellten Antrag der Landesklinik auf Kostenübernahme nach § 184a der Reichsversicherungsordnung (RVO) lehnte die beigeladene AOK (Beigeladene zu 1) ab. Im November 1977 beantragte die Landesklinik bei der beklagten LVA eine Kostenzusicherung. Die Beklagte lehnte das mit der Begründung ab, sie könne Leistungen, die lediglich der Anpassung und Gewöhnung an normale Verhältnisse dienten, nicht erbringen, der Beigeladene zu 2) beziehe Rente wegen EU und ein Rehabilitationserfolg sei nicht zu erwarten.

Mit der im September 1978 erhobenen Klage beantragte der Kläger, die Beklagte, hilfsweise die Beigeladene zu 1) - die er zunächst als Beklagte bezeichnete, die aber in der Folge vom Sozialgericht (SG) beigeladen und nur als Beigeladene bezeichnet wurde - zu verurteilen, die für den Aufenthalt des Beigeladenen zu 2) im Haus B. vom 18. November 1977 bis 18. Juni 1978 entstandenen Aufwendungen zu ersetzen. Das SG gab der Klage statt, das Landessozialgericht (LSG) wies sie ab. Zur Begründung führte das LSG aus, der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit sei gegeben, ein Ersatzanspruch aus § 1531 RVO aF und § 104 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren (SGB X) aber nicht begründet. Das LSG hat sich nach seinen Ausführungen nicht davon überzeugen können, daß vom Aufenthalt des Beigeladenen zu 2) im Haus B. voraussichtlich eine wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit zu erwarten gewesen sei; abgesehen davon würde die Beklagte eine Rehabilitation in fehlerfreier Ausübung ihres Ermessens abgelehnt haben. Es könne der Beklagten auch nicht angelastet werden, daß sie keinen geeigneteren Weg zur Rehabilitation oder Behandlung des Beigeladenen zu 2) aufgezeigt habe.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision verfolgt der Kläger nur noch seinen Anspruch gegen die Beklagte weiter. Nach seiner Meinung bedarf es entgegen der Ansicht des LSG keiner positiven Prognose hinsichtlich des Erfolgs der Rehabilitationsmaßnahme; die bloße Möglichkeit einer Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit müsse genügen. Ein Ermessensspielraum habe der Beklagten nicht zugestanden.

Der Kläger beantragt (sinngemäß), das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladene zu 1) bittet um Aufhebung des sie betreffenden Beiladungsbeschlusses; einen Sachantrag stellt sie nicht.

Der Beigeladene zu 2) hat sich nicht geäußert.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Ersatz- oder Erstattungsanspruch gegen die Beklagte. Ein etwaiger Anspruch gegen die Beigeladene zu 1) ist außer Streit; eine Aufhebung des Beiladungsbeschlusses ist jedoch im Revisionsverfahren nicht zulässig (BSGE 15, 295, 299).

Das LSG hat zu Recht angenommen, daß für die Streitsache der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben ist; hiervon ist auch das Bundessozialgericht (BSG) in vergleichbaren Fällen bisher stets ausgegangen.

Der nach § 1531 RVO erhobene Erstattungsanspruch ist allein nach § 104 SGB X zu beurteilen, weil er noch nach Inkrafttreten dieser Vorschrift Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens war (SozR 1300 Art 2 § 21 Nr 1). Eine Anwendung von § 102 SGB X scheidet aus, weil der Kläger nicht, wie das diese Vorschrift voraussetzt, für die Erbringung der Sozialleistung unzuständig, sondern allenfalls nachrangig zuständig war (vgl SozR 1300 § 102 Nr 1).

Ein Anspruch des Klägers gegen die Beklagte aus § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X würde voraussetzen, daß die Beklagte dem Beigeladenen zu 2) vorrangig zur Erbringung der vom Kläger erbrachten Rehabilitationsleistung verpflichtet gewesen wäre. Diese Voraussetzung ist, wie das LSG ohne Rechtsfehler erkannt hat, nicht erfüllt. Nach dem hier allein in Betracht kommenden § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO in der bis zum 31. Dezember 1981 geltenden und hier noch anwendbaren Fassung (RVO aF) kann der Rentenversicherungsträger Leistungen zur Rehabilitation erbringen, wenn die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen die Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte gefährdet oder gemindert ist und voraussichtlich erhalten, wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann. Damit hat die Ermessensausübung des Versicherungsträgers ua den "voraussichtlichen" Erfolg der in Betracht kommenden Maßnahme zur Voraussetzung (SozR 2200 § 1236 Nr 31). Wird der erstrebte Erfolg "voraussichtlich" nicht eintreten, so ist dem Versicherungsträger die Erbringung einer Rehabilitationsleistung verwehrt; er kann dann auch nicht im Sinne von § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X vorrangig einer solchen Leistung verpflichtet sein. Durch den Gebrauch des Wortes "voraussichtlich" wollte der Gesetzgeber offenbar zum Ausdruck bringen, daß der Versicherungsträger von einem Erfolg der Rehabilitation nicht überzeugt zu sein braucht; es genügt, wenn ungeachtet nicht auszuräumender Zweifel mit einem Erfolg zu rechnen ist. Der 8. Senat des BSG hat allerdings in seinem Urteil vom 24. März 1983 (SozR 2200 § 184a Nr 5), auf das sich der Kläger beruft, zum Ausdruck gebracht, daß Rehabilitationsmaßnahmen stets dann durchgeführt werden müßten, wenn ihr Erfolg unsicher, aber möglich sei. Es kann offenbleiben, ob diesen - übrigens im Zusammenhang mit der Ermessensausübung (vgl dazu SozR 2200 § 1236 Nr 5 S 8) gemachten - Ausführungen uneingeschränkt zu folgen ist. Es widerspräche dem Sinn und Zweck der Vorschriften über die medizinische und berufliche Rehabilitation, wollte man eine nur entfernte Möglichkeit des Erfolges genügen lassen, um etwa einen Anspruch des Versicherten auf eine zur Pflichtleistung erstarkte (so SozR 2200 § 184a Nr 3; vgl auch BSGE 50, 47, 50 f; 51, 44, 49; vgl dagegen BVerfG SozR 2200 § 1236 Nr 39 S 80) Förderung eines Studiums von jedenfalls bis zu zweijähriger Dauer (vgl § 1237a Abs 3 Satz 2 RVO) bejahen zu können. Die durch § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO dem Rentenversicherungsträger abverlangte "Voraussicht" bezieht sich ausdrücklich darauf, daß die zur Prüfung stehende Maßnahme geeignet erscheint, die geminderte oder gefährdete Erwerbsfähigkeit des Versicherten wiederherzustellen oder zu bessern; fehlt nach anzustellender Voraussicht diese Eignung, kann mithin das gesetzlich vorgegebene Ziel einer Maßnahme zur Rehabilitation evidentermaßen nicht erreicht werden, so ist für eine Bewilligung der Maßnahme kein Raum (SozR 2200 § 1236 Nr 31). Den Ausführungen des 8. Senats (SozR 2200 § 184a Nr 5) ist jedoch nicht die Ansicht zu entnehmen, das Wort "voraussichtlich" sei im Sinne von "möglicherweise" zu lesen, wobei es genüge, daß letzte Zweifel an einer solchen Möglichkeit nicht ausgeräumt werden könnten. Davon, daß, um zu einer Ablehnung zu gelangen, der Mißerfolg im voraus mit letzter Sicherheit feststehen müsse, ist in der zitierten Entscheidung nichts gesagt; ihr mag allenfalls entnommen werden können, daß nach Ansicht des 8. Senats für eine Ablehnung kein Raum ist, wenn der Versicherungsträger bei vorausschauender Betrachtung zum Schluß gelangt, daß die Maßnahme möglicherweise Erfolg haben werde, wenn auch nicht müsse. Damit ist aber die Meinung des erkennenden Senats vereinbar, daß jedenfalls dort, wo bei vorausschauender Betrachtung der Erfolg der Maßnahme nicht nur zweifelhaft ist, sondern wo unbeschadet der allen Prognosen anhaftenden Unsicherheiten die Möglichkeit eines Erfolges nicht bejaht und dieser mithin nicht erwartet werden kann, die Bewilligung der Maßnahme abgelehnt werden muß.

Das LSG hat festgestellt, daß es die Überzeugung, beim Beigeladenen zu 2) sei von dem Aufenthalt im Haus B. voraussichtlich eine wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit zu erwarten gewesen, nicht gewinnen konnte, und daß eine begründete Aussicht auf eine dauerhafte Eingliederung in eine Behindertenwerkstatt oder in den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht bestehe. Diese nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen lassen nach den vorstehenden Ausführungen eine Verkennung der in § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO verwandten Begriffe nicht erkennen. Der Senat muß daher davon ausgehen, daß Voraussetzungen dieser Vorschrift, auch soweit sie dem bei Anwendung von § 104 SGB X relevanten Kern des dort normierten Anspruchs ausmachen (vgl Urteil vom 14. Mai 1985 - 11a RJ 21/84 -), nicht erfüllt sind. Ohne Rechtsfehler hat das LSG schließlich auch eine Verpflichtung der Beklagten unter dem Gesichtspunkt verneint, daß sie nicht einen geeigneten Weg zur Rehabilitation aufgezeigt habe; war ein Rehabilitationserfolg iSv § 1236 RVO aF schlechterdings nicht zu erreichen, so gab es auch keinen Weg, der hätte aufgezeigt werden können. Die Revision war somit zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663700

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