Leitsatz (redaktionell)

Nach dem BSG-Urteil vom 1961-12-14 11 RV 584/61 = SozR Nr 30 zu SGG § 109, kann sich gerade ein Antrag nach SGG § 109 auch auf die Feststellung einer "gesundheitlichen Schädigung" iS des BVG § 1 dh eines schädigenden Ereignisses oder Vorganges, als Voraussetzung für einen Versorgungsanspruch beziehen, wenn zu der Ermittlung eine medizinische Aufklärung geboten erscheint.

 

Normenkette

SGG § 109; BVG § 1

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. Februar 1973 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Auf einen Versorgungsantrag des Klägers vom Dezember 1959 anerkannte das Versorgungsamt F - VersorgA -, das ein Gutachten von dem Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten Dr. Sch vom 8. November 1960 eingeholt hatte, nach ursprünglicher Ablehnung eine "chronische Mittelohrentzündung und Schwerhörigkeit rechts" als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) ohne rentenberechtigenden Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 25 v. H. (Bescheid vom 22. Juni 1961). Den dagegen eingelegten Widerspruch nahm der Kläger zurück. Zu einem weiteren Antrag des Klägers stellte das VersorgA fest, die Schädigungsfolgen hätten sich nicht wesentlich verschlimmert und die MdE sei nicht wegen eines beruflichen Betroffenseins höher zu bewerten (Bescheid vom 8. November 1962). Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Bescheid vom 23. Januar 1963, Urteil des Sozialgerichts - SG - Frankfurt (Main) vom 13. März 1964). Nachdem der Kläger im September 1969 wiederum eine Verschlimmerung seines Kriegsleidens geltend gemacht und dies auf eine Bescheinigung des Hals-, Nasen- und Ohrenarztes Dr. F gestützt hatte, stellte das VersorgA nach neuer Begutachtung fest, in den anerkannten Schädigungsfolgen sei keine wesentliche Verschlimmerung eingetreten, die Zunahme der Schwerhörigkeit auf beiden Ohren beruhe im wesentlichen auf altersbedingten Veränderungen (Bescheid vom 21. Januar 1970). Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg (Bescheid vom 7. Oktober 1970, Urteil des SG vom 25. Februar 1972). Im Berufungsverfahren stützte der Kläger sein Rentenbegehren zusätzlich auf eine kombinierte Mittel- und Innenschwerhörigkeit links und beantragte hilfsweise, ein Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von dem Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten Dr. N, O, einzuholen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 21. Februar 1973): Eine Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolge durch Kriegseinflüsse, die sich auf die MdE auswirke und eine Neufeststellung des Versorgungsanspruches nach § 62 BVG bedinge, sei nicht nachgewiesen oder wahrscheinlich. Dies folge aus Dr. Sch letztem Gutachten vom 31. Oktober 1969 und aus der vom Beklagten dem SG eingereichten fachärztlichen Stellungnahme des Obermedizinalrates Dr. Z. Die von den Ärzten festgestellte Verschlechterung des Hörvermögens sei teilweise altersbedingt, vor allem links. Die kombinierte linksseitige Mittel- und Innenschwerhörigkeit sei nicht mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf den Kriegsdienst zurückzuführen. Ein schädigendes Ereignis oder ein schädigender Vorgang mit Auswirkungen auf das linke Ohr, eine der für die Anerkennung erforderlichen Voraussetzungen sei nicht nachgewiesen. Die Angabe des Klägers, das linke Ohr sei 1943 und 1944 im Wehrdienst mit behandelt worden, genüge dafür nicht, sei auch wenig glaubhaft, da der Kläger 1960 Dr. Sch mitgeteilt habe, 1943 seien Ohrenschmerzen rechts mit Schwerhörigkeit aufgetreten und sei eine rechtsseitige Mittelohrentzündung festgestellt worden. Weder 1960 noch 1962 habe der Kläger gegenüber Dr. Sch Beschwerden von seiten des linken Ohres erwähnt. Bis 1962 sei auch eine linksseitige Schwerhörigkeit nicht festgestellt worden; sie habe sich vielmehr nach den eigenen Angaben des Klägers erst ab 1967 bemerkbar gemacht. Nach fachärztlicher Beurteilung sei diese Schwerhörigkeit teils auf altersbedingte Prozesse, teils auf Entzündungen des Mittelohres nach 1962 zurückzuführen. Da eine Schädigung des linken Ohres im Kriegsdienst nicht nachgewiesen oder wahrscheinlich sei, brauche aus rechtlichen Gründen nicht medizinisch aufgeklärt zu werden, welche Gesundheitsstörung auf ein solches Ereignis zurückzuführen sei; das vom Kläger nach § 109 SGG beantragte Gutachten brauche nicht eingeholt zu werden.

Der Kläger rügt mit der nicht zugelassenen Revision als wesentlichen Verfahrensmangel, das LSG habe gegen die §§ 109 und 128 SGG verstoßen. Da er im Berufungsverfahren einen Rentenanspruch sowohl auf die anerkannte Schädigungsfolge als auf eine zusätzliche kombinierte Mittel- und Innenschwerhörigkeit links gestützt habe, hätte das Gutachten nach § 109 SGG von Dr. N zu beiden Leidenszuständen eingeholt werden müssen. Bei Berücksichtigung des gesamten Akteninhaltes und des Sachantrages des Klägers hätte das LSG selbst unter der Voraussetzung, daß es ein schädigendes Ereignis bezüglich des linksseitigen Ohrenschadens nicht feststellen konnte, den nach § 109 SGG gestellten Antrag nicht zurückweisen dürfen, soweit er die Streitfrage betroffen habe, ob infolge Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen ein rentenberechtigender Grad der MdE bestehe. Dr. Sch und Dr. F hätten die Ursache der weiteren Abnahme des Hörvermögens unterschiedlich beurteilt. "Vorsorglich" rügt der Kläger, das LSG hätte den Antrag nach § 109 SGG auch nicht insoweit zurückweisen dürfen, als er die zusätzliche Anerkennung der linksseitigen Schwerhörigkeit betroffen habe. Durch das beantragt Gutachten hätte gerade das bestrittene schädigende Ereignis in medizinischer Hinsicht nachgewiesen werden sollen. Da Dr. Sch in seinem letzten Gutachten die Störungen am linken Ohr auf Spätfolgen von Mittelohrentzündungen zurückgeführt habe, hätte medizinisch genau geklärt werden müssen, wann diese Entzündungen abgelaufen seien. Falls sie in die Zeit des Kriegsdienstes zu verlegen seien, wäre das erforderliche schädigende Ereignis bewiesen. Die eigenen Angaben des Klägers seien in dieser Hinsicht nicht entscheidend, da er als medizinischer Laie einen am linken Ohr im Wehrdienst aufgetretenen Prozeß nicht habe richtig erkennen und würdigen können. Am linken Ohr seien aber schon 1960 Trommelfellnarben fachärztlich festgestellt worden.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt und sich nicht zur Revisionsbegründung geäußert.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil das Berufungsverfahren an einem wesentlichen Mangel leidet, den der Kläger zutreffend gerügt hat. Die Revision ist auch insoweit erfolgreich, als der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen ist.

Das LSG hat die Berufung gegen das klageabweisende Urteil aus zwei Gründen zurückgewiesen: Die als Schädigungsfolge gemäß § 1 BVG anerkannte rechtsseitige Ohrschädigung habe sich gegenüber dem Zustand von 1962 nicht in einem solchen Umfang verschlechtert, daß sie nunmehr eine MdE von mehr als 20 v. H. und damit eine solche in rentenberechtigendem Grad bedinge; außerdem sei als Voraussetzung für die Anerkennung der linksseitigen Schwerhörigkeit als Schädigungsfolge ein schädigendes Ereignis oder ein schädigender Vorgang nicht erwiesen. Wie die Revision in erster Linie zutreffend als wesentlichen Verfahrensmangel rügt, hätte das LSG auf Antrag des Klägers zu der ersten Streitfrage nach § 109 SGG ein Gutachten von dem vom Kläger im Hilfsantrag benannten Facharzt Dr. N einholen müssen. Diese Notwendigkeit ergab sich aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, das das Berufungsgericht zu berücksichtigen hatte, insbesondere aus den Anträgen des Klägers (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG). Der Kläger hatte sowohl den Antrag auf eine Versorgungsrente, über den in dem angefochtenen Bescheid vom 21. Januar 1970 entschieden worden ist, als in dem vor dem SG gestellten Antrag sein Rentenbegehren ausschließlich, im Berufungsantrag ua auf eine Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolge gestützt, und demnach sollte allein das rechtsseitige Ohrenleiden eine MdE in rentenberechtigendem Grad bedingen. Wenn das LSG aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen gefolgert hat, daß die Verschlimmerung der rechtsseitigen Schwerhörigkeit teilweise altersbedingt sei und als Schädigungsfolge die Erwerbsfähigkeit nicht um mehr als 20 v. H. mindere, hätte es zu dieser medizinisch zu klärenden Streitfrage das beantragte Gutachten nach § 109 SGG einholen müssen. Das Unterlassen einer solchen Beweisaufnahme ist in jedem Fall ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; gesetzliche Ausnahmegründe sind hier außer Betracht.

Außerdem hätte das LSG, was die Revision ebenfalls zutreffend rügt, den nach § 109 SGG gestellten Beweisantrag bezüglich des linksseitigen Ohrenleidens, mit dem der Kläger im zweiten Rechtszug seinen Rentenanspruch zusätzlich hat begründen dürfen (BSG 6, 297), nicht zurückweisen dürfen. Zu Unrecht hat das LSG die Ablehnung dieses Antrages auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) in SozR Nr. 30 zu § 109 SGG gestützt. Nach dieser Entscheidung kann sich gerade ein Antrag nach § 109 SGG auch auf die Feststellung einer "gesundheitlichen Schädigung" im Sinne des § 1 BVG, d. h. eines schädigenden Ereignisses oder Vorganges, als Voraussetzung für einen Versorgungsanspruch beziehen, wenn zu der Ermittlung eine medizinische Aufklärung geboten erscheint. Bereits insoweit war die durch den Antrag des Klägers angestrebte medizinische Begutachtung rechtserheblich. Die Revision hat auch im gebotenen Umfang dargelegt, warum dies der Fall war und warum der darauf gerichtete Antrag nicht hätte zurückgewiesen werden dürfen. Zu einem Versorgungsanspruch wegen des linksseitigen Ohrenleidens müßte, wie das LSG zutreffend angenommen hat, in erster Linie eine kriegsdienstbedingte "Schädigung", mit der das linksseitige Ohrenleiden wahrscheinlich in ursächlichem Zusammenhang stände, nachgewiesen sein (§ 1 Abs. 1 und 3 Satz 1 BVG), und die dafür erforderliche Beweiswürdigung ist ua von medizinischen Erfahrungen abhängig. Das Berufungsgericht ist auch zu dem für den Kläger ungünstigen Ergebnis im wesentlichen aufgrund von Tatsachen gelangt, die nur ein Arzt fachmännisch würdigen könnte. Neben diesen Feststellungen, die den Umfang der Ohrenbehandlung im Kriegsdienst sowie die Beschwerden und Hörleistungen von seiten des linken Ohres bis 1962 betreffen und die der Kläger nicht im einzelnen mit einer Verfahrensrüge angegriffen hat, fehlt in der Beweiswürdigungskette die Tatsache, daß bereits 1960 Dr. Sch Trommelfellnarben am linken Ohr festgestellt hat; die Abnahme des linksseitigen Hörvermögens ist aber nach seinem am 31. Oktober 1969 erstatteten Gutachten teilweise durch narbige Veränderungen im Mittelohr und an den Fenstern zum Innenohr infolge früherer Mittelohrentzündungen verursacht worden. Den Trommelfellbefund, auf den die Revision hingewiesen hat, hat das LSG wohl im Tatbestand des angefochtenen Urteils erwähnt, aber in den Gründen nicht verwertet. Diese Tatsache hätte das Berufungsgericht veranlassen müssen, einen medizinischen Sachverständigen, in diesem Fall mindestens den ach § 109 SGG benannten Arzt darüber zu hören, ob die Mittelohrerkrankungen auf dem linken Ohr lange Zeit vor 1960 abgelaufen sind und ob der Trommelfellbefund auf eine entsprechende Schädigung durch den Kriegsdienst im Zusammenhang mit dem 1943/44 behandelten rechtsseitigen Ohrleiden schließen läßt. In dem neuen Verfahrensabschnitt, in dem ein linksseitiges Ohrenleiden ausdrücklich als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG geltend gemacht worden ist, hätte auch durch eine fachärztliche Befragung des Klägers geklärt werden müssen, ob seine früheren Angaben, von denen das LSG ausgegangen ist, zuverlässig und erschöpfend waren. Möglicherweise hätte eine solche medizinische Beweiserhebung, bezogen auf den Nachweis eines schädigenden Vorganges im Sinne des § 1 BVG, mit Hilfe von weiteren verwertbaren Auskünften des Klägers zum Krankheitsverlauf zu einem anderen Ergebnis geführt als die Würdigung durch die medizinisch nicht fachkundigen Richter des LSG. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß die jetzige Erkrankung auf dem linken Ohr auch ohne Behandlungsbedürftigkeit, Beschwerden und Hörminderung vor 1962 bereits durch eine Schädigung im Zusammenhang mit dem Kriegsdienst ursächlich beeinflußt worden ist. Abgesehen davon hätte eine erneute genauere Befragung des Klägers durch einen Facharzt evtl. zu anderen Erkenntnissen über den Zustand des linken Ohres seit 1943, soweit er für den Kläger in Erscheinung getreten ist, führen können.

Da nach alledem das LSG möglicherweise bei Vermeidung des Verfahrensfehlers anders entschieden hätte als in dem angefochtenen Urteil, ist die Verfahrensrüge begründet. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen kann der Senat nicht in der Sache entscheiden. Vielmehr muß auf den Antrag des Klägers nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG, dem auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens überlassen bleibt, zurückverwiesen werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648948

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