Entscheidungsstichwort (Thema)

Regelmäßige Erwerbsarbeit

 

Leitsatz (redaktionell)

1. In der Tatsache einer regelmäßigen Erwerbsarbeit ist nicht schon von Gesetzes wegen ein Umstand zu sehen, der der Annahme der EU entgegensteht.

2. Arbeitseinkünfte sind nicht in Rechnung zu stellen, wenn sie nur mit dem Risiko unmittelbarer Schädigung erworben werden.

 

Normenkette

RVO § 1286 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Mai 1964 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Dem - damals 55 Jahre alten - Kläger wurde vornehmlich wegen eines die Beweglichkeit stark einschränkenden chronisch-degenerativen Wirbelsäulenleidens und eines Herzmuskelschadens von November 1960 an die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt. Mit Bescheid vom 18. April 1963 wandelte die Beklagte diese Rente in eine solche wegen Berufsunfähigkeit um. Dafür war maßgebend, daß der Kläger im Februar 1962 bei seinem früheren Arbeitgeber - einem Bauunternehmer - eine Tätigkeit als Budenwart aufgenommen hatte, diese Stellung seitdem fortdauernd einnahm und damit mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielte. Darin, daß der Kläger einer regelmäßigen Beschäftigung nachging, sah die Beklagte eine Änderung seiner Verhältnisse. Sie folgerte daraus die Berechtigung zur Rentenumwandlung, und zwar auch für den Fall, daß der Kläger die Erwerbsarbeit auf Kosten seiner Gesundheit verrichte.

Mit der Klage macht der Kläger geltend, er könne das Arbeitseinkommen nicht entbehren, weil die Erwerbsunfähigkeitsrente zu seinem und seiner Familie Unterhalt nicht ausreiche. Im übrigen könne er den bescheidenen Pflichten an seinem Arbeitsplatz - wie Reinigen der Baubuden und Aufwärmen des Essens seiner Arbeitskollegen - nur deshalb nachkommen, weil ihm vom Arbeitgeber ein außergewöhnliches Entgegenkommen gezeigt werde.

Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat mit Urteil vom 4. Dezember 1963 den Bescheid der Beklagten aufgehoben. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat durch Urteil vom 8. Mai 1964 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Vorinstanzen haben nach Erhebung von Sachverständigenbeweis eine Besserung der gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers nicht festgestellt. Sie haben aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H die Überzeugung gewonnen, daß für der Kläger selbst eine leichte Beschäftigung in einiger Regelmäßigkeit gesundheitlich schädlich sei. Dieser Sachverhalt erfüllt nach Ansicht des Berufungsgerichts den Tatbestand der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Der Kläger arbeite - so hat das LSG ausgeführt - nicht ohne Risiko für Leib und Leben. - Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie meint, Einkünfte aus Arbeitserwerb schlössen den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er hält der Ansicht der Beklagten entgegen, daß es der Verfassung, insbesondere dem Sozialstaatsgedanken widerspräche, wenn eine Rente nur deshalb umgewandelt oder entzogen werden dürfte, weil der Rentner an seiner Gesundheit Raubbau treibe und arbeite.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist unbegründet. Dem LSG ist darin beizupflichten, daß die Umwandlung der Erwerbsunfähigkeitsrente in eine Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht gerechtfertigt war. Diese Maßnahme hätte zur Voraussetzung gehabt, daß der Kläger infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr erwerbsunfähig gewesen wäre (§ 1286 Abs. 1 Satz 3 RVO). Da zumindest die Erwerbsunfähigkeit des Klägers fortbestand, war der Bescheid der Beklagten rechtlich zu beanstanden und aufzuheben.

Die Erwerbsunfähigkeit des Klägers ist zu bejahen, weil er nach den von den Tatsachenrichtern getroffenen - und zulässigen Revisionsangriffen nicht ausgesetzten - Feststellungen nicht mehr imstande ist, ohne Gefahr für seine Gesundheit regelmäßig zu arbeiten und dadurch mehr als geringfügige Einkünfte zu erzielen. In der Tatsache einer regelmäßigen Erwerbsarbeit ist nicht schon von Gesetzes wegen ein Umstand zu sehen, der der Annahme von Erwerbsunfähigkeit entgegensteht. Das hat der Senat bereits in seiner Entscheidung 4 RJ 177/64 vom 30. Oktober 1968 klargestellt und näher begründet. In dieser Entscheidung heißt es: Der Wortteil "Unfähigkeit" in Erwerbsunfähigkeit deutet darauf hin, daß es nicht auf ein wirkliches Verhalten oder einen Tätigkeitserfolg ankommt. Es geht vielmehr - wie es auch die gesetzliche Definition des Begriffs Erwerbsunfähigkeit in § 1247 Abs. 2 RVO ausdrückt - um ein "Können", nämlich darum, ob der Betreffende imstande ist, Arbeit zu leisten, die zu einem für andere wirtschaftlich verwertbaren Ergebnis führt und deshalb für den Arbeitenden als Erwerbsquelle dienen kann. An diese Wortvorstellung hat der Gesetzgeber angeknüpft. In den Gesetzesmaterialien zu § 1258 Abs. 3 des Regierungsentwurfs, aus dem § 1247 Abs. 2 RVO geworden ist, heißt es, erwerbsunfähig sei, wer "nicht mehr imstande" sei, "durch eine Erwerbstätigkeit Einkünfte zu erzielen" (BT-Drucks. II 2437). Die Wendung "nicht mehr imstande ist" wird an einer anderen Stelle der Begründung des Regierungsentwurfs abgewandelt in "nicht in der Lage ist". Beide Formulierungen werden in der Umgangssprache und in der Sprache des Gesetzes sinngleich mit "nicht mehr fähig" gebraucht. - Die Erwerbsunfähigkeit unterscheidet sich von der Berufsunfähigkeit u. a. durch das Maß desjenigen Leistungsvermögens, das dem Versicherten nach einem Kräfteverlust verblieben ist. Diese Verschiedenheit ändert aber nichts daran, daß beide Begriffe bestimmte Voraussetzungen gemeinsam haben. Dazu gehört, daß der unterschiedliche Grad der Kräfteeinbuße nicht aufgrund des wirklich erzielten, sondern des noch erzielbaren Arbeitsverdienstes gemessen wird. Arbeitseinkünfte sind infolgedessen nicht in Rechnung zu stellen, wenn sie nur mit dem Risiko unmittelbarer Schädigung erworben werden.

Eine abweichende Lösung hätte unvertretbare Auswirkungen. Wer den Belastungen eines Mindestmaßes von Erwerbsarbeit nicht mehr gewachsen ist, aber trotzdem etwa deshalb weiterarbeitet, weil die Rente als Lebensgrundlage nicht ausreicht, erhielte nicht einmal diese niedrige Rente. Das wäre mit dem Ziel der gesetzlichen Rentenversicherungen unvereinbar.

Die Vorinstanzen haben also richtig entschieden. Die Revision ist mit der auf § 193 SGG gestützten Kostenentscheidung zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324106

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