Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Grenze des häuslichen Bereichs, die für Beginn und Ende des versicherten Wegs nach und von der Arbeitsstätte maßgebend ist (Weiterentwicklung BSG 1956-03-13 2 RU 124/54 = BSGE 2, 239).

 

Normenkette

RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. November 1960 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Kläger beansprucht Entschädigung für die Folgen eines Unfalls vom 18. Dezember 1957.

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) rutschte er, als er nach der Fahrt von der Arbeitsstätte mit seinem Fahrrad zu Hause angekommen war und sein Fahrrad im Schuppen aufbewahren wollte, auf dem Boden des Schuppens aus. Er fiel mit dem Gesicht gegen eine aus Holz bestehende Vorrichtung, an der er sein Fahrrad abzustellen pflegte. Dabei verletzte er sich am linken Auge (Abriß des Unterlides). Der Kläger hatte mit seinem Fahrrad zunächst von der Straße aus den Hof seines Anwesens durch eine Tür betreten, war am Wohnhaus, zu dem eine Freitreppe hinaufführt, vorbeigegangen, hatte eine Wagenremise durchschritten und schließlich in dem hinter der Wagenremise liegenden Holzschuppen das Fahrrad abstellen wollen.

Hinsichtlich des Zeitpunkts des Unfalls gab der Kläger zunächst an, er habe bis 18.00 Uhr gearbeitet, der Unfall habe sich gegen 19.00 Uhr ereignet. Später hat er diese Darstellung dahin berichtigt, daß sich der Unfall gegen 22.00 Uhr ereignet und er vorher an einer Weihnachtsfeier des Betriebes teilgenommen habe.

Die Beklagte lehnte die Entschädigungsansprüche durch Bescheid vom 2. August 1958 mit folgender Begründung ab: Die Weihnachtsfeier habe von 16.30 Uhr bis 19.00 Uhr gedauert. Der Kläger sei mit noch einigen anderen Arbeitskameraden aber bis ungefähr 22.00 Uhr zusammengeblieben und habe erst dann den Heimweg angetreten. Maßgebende Persönlichkeiten der Firma seien nur bis 19.00 Uhr anwesend gewesen. Dieser Zeitpunkt müsse deshalb als offizieller Schluß der Weihnachtsfeier angesehen werden. Durch den längeren Aufenthalt nach Abschluß der Weihnachtsfeier sei der Zusammenhang mit dem Betrieb gelöst worden. Der Heimweg habe deshalb nicht mehr unter Versicherungsschutz gestanden.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Karlsruhe erhoben und zur Begründung vorgetragen, der Inhaber der Firma, Dr. R, sei bis gegen 21.30 Uhr anwesend gewesen. Bis dahin sei auch die Belegschaft vollständig beisammen gewesen. Erst nachdem Dr. R die Feier verlassen habe, sei auch der Kläger nach Hause gegangen.

Das SG hat durch Urteil vom 2. Juni 1959 den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für den Unfall vom 18. Dezember 1957 die Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) zu gewähren. Es hat als erwiesen angesehen, daß Dr. R bis gegen 21.00 Uhr anwesend gewesen ist, und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß unter den gegebenen Umständen auch der Heimweg des Klägers noch unter Versicherungsschutz gestanden habe.

Die Beklagte hat gegen dieses Urteil fristgerecht Berufung beim LSG Baden-Württemberg eingelegt. Sie hat erneut die Auffassung vertreten, daß die Heimfahrt des Klägers mit der versicherten Tätigkeit nicht mehr in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe. Außerdem hat sie aber nunmehr ergänzend vorgetragen, ein Arbeitsunfall liege schon deshalb nicht vor, weil sich der Unfall beim Einstellen des Fahrrads im Schuppen des Anwesens des Klägers ereignet habe. Dieser Schuppen gehöre, wie alle Räumlichkeiten des Gebäudes, dem häuslichen Wirkungskreis des Klägers an.

Das LSG hat durch Urteil vom 23. November 1960 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid abgewiesen. Die Revision ist vom LSG zugelassen worden.

Zur Begründung hat das LSG unter Hinweis auf sein Urteil vom 27. Mai 1959 (Breithaupt 1959, 800) folgendes ausgeführt: Der Kläger habe im Unfallzeitpunkt nicht mehr unter Versicherungsschutz gestanden, selbst wenn der Weg von der Betriebsfeier zu seinem Anwesen als versichert angesehen werde. Der Kläger habe vor dem Unfall den häuslichen Bereich, der vom Unfallversicherungsschutz nicht umfaßt werde, bereits erreicht gehabt. Die Entwicklung der Rechtsprechung über die Abgrenzung des häuslichen Bereichs sei in BSG 2, 239 näher dargelegt. Gegenüber der Entscheidung des Reichsversicherungsamts (RVA) AN 1941, 130 seien in letzter Zeit beachtliche Einwendungen erhoben worden (Schmalzel DVZ 1953, 178, Schieckel SGB 1955, 151). Auch der Senat sei der Auffassung, daß die Festlegung der Grenze des häuslichen Bereichs an der äußeren Tür des Wohngebäudes nur ein im Interesse der Rechtssicherheit errichtetes, einprägsames Abgrenzungsmerkmal darstelle, das in Grenzfällen keine unbedingte Bedeutung beanspruchen könne. Der Sinn der Versagung des UV-Schutzes im häuslichen Bereich liege darin, daß dieser dem Versicherten im allgemeinen besser als anderen Personen bekannt sei und eine Gefahrenquelle darstelle, für die der Versicherte selbst verantwortlich sei. Die äußere Tür sei deshalb im Regelfall ein gut verwendbares Grenzzeichen. In Ausnahmefällen werde sie jedoch als Kriterium dem Sachverhalt nicht gerecht. Das komme auch in der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Ausdruck. Ebenso wie in Einzelfällen die Grenze des häuslichen Bereichs hinter der Haustür liegen könne, sei es möglich, daß der häusliche Bereich auch Räume umfasse, die nicht zum Wohngebäude im engeren Sinne gehören, aber nach ihrem Zweck der eigentlichen haus- und eigenwirtschaftlichen Betätigung dienen und damit zum häuslichen Wirkungskreis gehören (so auch OVA Speyer, Breithaupt 1946-48, 136, anderer Meinung OVA Kassel WzS 1954 Heft 8 Beilage und OVA Trier Breithaupt 1949, 587). Die Gründe, die nach der Entscheidung des BSG für den Wegfall des Versicherungsschutzes sprächen, gelten für den Schuppen ebenso wie für das nach der Straße gelegene Wohngebäude. Denn das hinter der Außentür liegende Treppenhaus im Wohngebäude und der Schuppen einschließlich der Wagenremise rechneten gleichermaßen zum häuslichen Wirkungskreis. Es komme auch nicht darauf an, ob der Schuppen mit dem Wohngebäude eine unmittelbare Verbindung habe. Vielmehr sei entscheidend, daß er einschließlich der Wagenremise in gleicher Weise wie alle Räumlichkeiten des Wohngebäudes dem persönlichen Wirkungskreis zugehöre. Auch wenn man den Begriff des Hausfriedensbruchs heranziehe, dürfe außer Zweifel stehen, daß der Schuppen zu den Bestandteilen der Häuslichkeit zu rechnen sei. Im übrigen sei der Abstand zwischen Wohngebäude und Schuppen so gering, daß die Entfernung keine andere Beurteilung rechtfertige. Es könne dahingestellt bleiben, ob, wie die Beklagte meine, der häusliche Bereich schon mit dem Durchschreiten des Hoftors erreicht gewesen sei. Denn der Unfall habe sich erst ereignet, nachdem der Kläger die Wagenremise durchschritten und den Holzschuppen bereits betreten hatte.

Dieses Urteil ist an den Kläger am 12. Dezember 1960 mittels eingeschriebenen Briefes übersandt worden. Der Kläger hat am 16. Dezember 1960 Revision eingelegt und sie am 3. Januar 1961 begründet.

Er beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Karlsruhe vom 2. Juni 1959 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision des Klägers ist zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Das LSG hat dahingestellt gelassen, ob die Fahrt des Klägers von der Betriebsfeier nach Hause noch unter Versicherungsschutz stand (§ 543 aF der Reichsversicherungsordnung - RVO -), und hat infolgedessen keine für eine Entscheidung dieser Rechtsfrage ausreichenden Feststellungen getroffen, so daß diese Frage auch in der Revisionsinstanz offengelassen werden muß. Das LSG hat jedoch im Ergebnis zutreffend entschieden, daß der Kläger jedenfalls im Zeitpunkt des Unfalls nicht mehr unter Versicherungsschutz stand.

Wenn der nach § 543 aF RVO unter Versicherungsschutz stehende Weg zur Arbeitsstätte, wie im vorliegenden Fall, von der Wohnung aus angetreten wird und der Heimweg wieder zur Wohnung zurückführt, dann ist für die Begrenzung des - der versicherten Arbeitstätigkeit gleichgestellten - Zurücklegens dieses "Weges" die Grenze des Bereichs maßgebend, in dem sich das unversicherte persönliche Leben des Versicherten abspielt. Dem steht nicht entgegen, daß der Versicherte u. U. auch in seinem persönlichen Lebensbereich Strecken zurücklegen muß, um den Weg zur Arbeit antreten oder nach dem Heimweg endgültig zur beliebigen Verwendung seiner Freizeit übergehen zu können; denn innerhalb des persönlichen Lebensbereichs treten die ursächlichen Beziehungen, die zwischen dem Zurücklegen von Wegstrecken und der versicherten Arbeitstätigkeit bestehen, in der Regel gegenüber den ursächlichen Beziehungen zum unversicherten persönlichen Leben als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund (vgl. auch das zu einem Unfall innerhalb eines Gebäudes, in dem sich Wohnräume und Betriebsräume befinden, ergangene Urteil des erkennenden Senats vom 29. Januar 1960, BSG 11, 267).

Mit der Abgrenzung des Bereichs, der hiernach für Beginn und Ende des nach § 543 aF RVO versicherten Wegs im Regelfall maßgebend ist, hat sich der erkennende Senat im Urteil vom 13. März 1956 (BSG 2, 239) auseinandergesetzt, auf das im einzelnen verwiesen wird. In diesem Urteil hat der Senat mit ausführlicher Begründung dargelegt, daß der unversicherte häusliche Lebensbereich unter regelmäßigen Verhältnissen nicht schon mit der den eigentlichen Wohnbereich abschließenden Tür endet, sondern sich auch noch auf das Treppenhaus des Wohnhauses erstreckt und erst mit dem Durchschreiten der Außenhaustür des Wohngebäudes verlassen wird. Dementsprechend endet andererseits der Weg von der Arbeitsstätte im Regelfalle auch erst mit dem Erreichen dieser Tür. Das Urteil vom 13. März 1956 bezieht sich jedoch, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, auf die in städtischen Miethäusern mit abgeschlossenen Stockwerkswohnungen üblichen Verhältnisse. Abgesehen davon, daß die im Urteil dargelegten Grundsätze auch in solchen Fällen nicht schematisch angewendet werden können und die Berücksichtigung von Besonderheiten nicht ausschließen, können die Grundsätze nicht ohne weiteres auf andersartige Wohnverhältnisse übertragen werden. Wie der Senat bereits im Urteil angedeutet hat, rechtfertigen auch Beweisschwierigkeiten hinsichtlich des Zwecks, dem das Zurücklegen des Weges diente, eine solche Schematisierung nicht, während andererseits - entgegen der Auffassung der Revision - das Fehlen derartiger Zweifel es für sich allein nicht rechtfertigt, das Zurücklegen von Wegstrecken innerhalb des persönlichen Lebensbereichs schon oder noch dem Zurücklegen des versicherten Weges zuzurechnen.

Das LSG hat mit Recht geprüft, wie unter den hier vorliegenden Verhältnissen der persönliche Lebensbereich des Klägers abzugrenzen ist. Auch nach der Auffassung des erkennenden Senats ist hierfür von entscheidender Bedeutung, daß der Kläger nicht als Mieter nur einen Teil der auf dem Grundstück vorhandenen Räumlichkeiten für Zwecke seines persönlichen Lebens nutzen konnte, sondern als Eigentümer die Verfügungsgewalt über das gesamte Anwesen hatte, die auch nicht durch die Überlassung von Räumen an familienfremde Mieter eingeschränkt war. Das LSG hat offengelassen, ob unter diesen besonderen Umständen schon der durch Tore gegenüber der Öffentlichkeit und dem Straßenbereich abgeschlossene Hofraum zum persönlichen Lebensbereich des Klägers gehört. Auch der erkennende Senat brauchte diese Frage nicht abschließend zu entscheiden; denn auf jeden Fall hat das LSG im vorliegenden Fall mit Recht die Wagenremise und den dahinterliegenden Holzschuppen dem Bereich zugerechnet, der durch die ausschließliche Verfügungsberechtigung des Klägers gekennzeichnet ist und innerhalb dessen die ursächlichen Beziehungen zur unversicherten persönlichen Lebenssphäre in der Regel auch rechtlich allein im Vordergrund stehen. Auch nach der Auffassung des erkennenden Senats war der Kläger in diesem Bereich nicht mehr "unterwegs". Das Abstellen des Fahrrads im Holzschuppen gehört nicht mehr zum Zurücklegen des Wegs von der Arbeitsstätte. Da dieser Vorgang sich, wie dargelegt, im Bereich des unversicherten persönlichen Lebens abgespielt hat, ist es rechtlich unwesentlich, daß der Kläger das Fahrrad deshalb wieder ordnungsmäßig verwahren mußte, weil er es für den Heimweg von der Arbeitsstätte benutzt hatte.

Das LSG hat hiernach zutreffend das Bestehen eines Versicherungsschutzes verneint und auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG Karlsruhe aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Revision ist unbegründet und muß zurückgewiesen werden.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens ergeht auf Grund von § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

BSGE, 10

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