Leitsatz (amtlich)

1. Die aufgrund einer Versicherungsberechtigung begonnene Mitgliedschaft in einer Ersatzkasse endet nicht durch die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung (Abgrenzung zu BSG 1976-07-20 3 RK 20/75 = BSGE 42, 113).

2. Die versicherungsberechtigten Mitglieder einer Ersatzkasse können bei Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung auch dann versicherungspflichtige Mitglieder dieser Kasse werden, wenn die versicherungspflichtige Beschäftigung nicht zum Beitritt berechtigen würde.

 

Normenkette

RVO § 176b Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1974-08-07, § 507 Abs. 4 Fassung: 1974-08-07, § 517 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15; SVAufbauV 12 Art. 2 § 4 Abs. 1 Fassung: 1952-08-13

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 13.12.1978; Aktenzeichen L 4 Kr 46/77)

SG Hildesheim (Entscheidung vom 11.05.1977; Aktenzeichen S 2 Kr 29/76)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 13. Dezember 1978 und das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 11. Mai 1977 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat der Beigeladenen deren außergerichtliche Kosten in allen Rechtszügen zu erstatten. Im übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beigeladene mit Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung als Angestellte Pflichtmitglied der beklagten Arbeiter-Ersatzkasse werden kann, der sie als freiwilliges Mitglied bereits angehörte, oder ob sie Pflichtmitglied der klagenden Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) ist.

Die Beigeladene ist der Beklagten, bei der ihr Vater versichert war, nach § 176b Abs 1 Nr 2 der Reichsversicherungsordnung -RVO- (iVm § 514 Abs 1 RVO) beigetreten. Im August 1976 war sie als Angestellte erstmals versicherungspflichtig beschäftigt. Sie legte ihrem Arbeitgeber, um von der Mitgliedschaft bei einer Krankenkasse befreit zu werden, eine Bescheinigung über ihre Zugehörigkeit zur Ersatzkasse vor (§ 517 RVO). Die Klägerin klagt jedoch auf Feststellung, daß die Beigeladene ab 1. August 1976 ihr Mitglied ist.

Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hat der Klage stattgegeben, und das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Nach § 4 Abs 1 Satz 4 der 12. Aufbau-Verordnung (Aufbau-VO) vom 24. Dezember 1935 (RGBl I 1537) idF der 15. Aufbau-VO vom 1. April 1937 (RGBl I 439) und des Gesetzes vom 13. August 1952 (BGBl I 437) könnten zwar Arbeiter, die Angestellte werden, Mitglieder einer Arbeiter-Ersatzkasse bleiben. Diese Regelung sei aber ausdrücklich auf Versicherungspflichtige beschränkt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (BSGE 42, 113, 116) sei eine enge Auslegung dieser Vorschrift geboten (Urteil des SG Hildesheim vom 11. Mai 1977; Urteil des LSG Niedersachsen vom 13. Dezember 1978).

Die Beklagte hat die von dem LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 517 RVO und des § 4 Abs 1 der 12. Aufbau-VO.

Sie beantragt,

die Urteile des LSG Niedersachsen vom 13. Dezember 1978 und des SG Hildesheim vom 11. Mai 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Revisionsbeklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) entscheidet.

II

Die Revision ist begründet. Die angefochtenen Urteile sind aufzuheben. Die Klage ist abzuweisen.

Die Beigeladene hat das Recht auf Befreiung von der Mitgliedschaft bei der klagenden AOK, denn sie ist, wie dies § 517 Abs 1 RVO verlangt, versicherungspflichtiges Mitglied der beklagten Ersatzkasse.

Die Beigeladene ist Mitglied der Beklagten. Sie konnte der Beklagten freiwillig beitreten, als der Anspruch ihres Vaters auf Familienhilfe für sie erlosch (§ 176b Abs 1 Nr 2 RVO). Zuständig war die Beklagte, bei der ihr Vater Mitglied war (§ 176 Abs 2 Satz 2 iVm § 514 Abs 1 Satz 1 RVO).

Die durch den freiwilligen Beitritt begründete Mitgliedschaft der Beigeladenen ist nicht dadurch beendet worden, daß die Beigeladene eine versicherungspflichtige Beschäftigung als Angestellte aufgenommen hat. Zwar ist sie dadurch nach § 165 Abs 1 Nr 2 RVO versicherungspflichtig und Mitglied bei der Klägerin geworden (vgl § 306 Abs 1, § 234 RVO). Die Mitgliedschaft bei der Beklagten ist hierdurch gleichwohl nicht nach § 312 Abs 1 RVO beendet worden. Nach § 312 Abs 1 RVO endet die Mitgliedschaft, sobald der Versicherte Mitglied einer anderen Krankenkasse wird. § 312 Abs 1 RVO gilt aber, wie der Wortlaut sagt, nur für "Krankenkassen", dh nur dann, wenn der Versicherte von einem Krankenversicherungsträger im Sinne des § 225 RVO zu einem anderen dieser Träger überwechselt. Die entsprechende Anwendung dieser Vorschrift im Ersatzkassenrecht ist nicht angeordnet. Dies würde auch § 517 Abs 1 RVO widersprechen. Diese Vorschrift setzt nämlich gerade voraus, daß zwei Mitgliedschaften nebeneinander bestehen können.

Auch führte nicht zum Ende der Mitgliedschaft, daß die Beigeladene, als sie als Angestellte eine Beschäftigung aufnahm, aus dem Mitgliederkreis der Beklagten ausschied, für den diese nach § 176b iVm § 514 Abs 1 Satz 1 RVO und § 4 Abs 1 Satz 1,2 Alternative der 12. Aufbau-VO zuständig ist. Aus § 4 Abs 1 Sätze 1 und 2 der 12. Aufbau-VO folgt, daß die Ersatzkassen nur bei der Aufnahme von neuen Mitgliedern auf den ihnen zugewiesenen Personenkreis beschränkt sind. Denn die Zugehörigkeit zu diesem Personenkreis wird nur im Zeitpunkt der Aufnahme neuer Mitglieder verlangt. Die Mitgliedschaft endet nicht, wenn ein Mitglied die Eigenschaft verliert, die für seine Zugehörigkeit zu dem Mitgliederkreis maßgebend war. Diese klare Regelung kann nicht durch die Sätze 3 und 4 des § 4 der 12. Aufbau-VO in Zweifel gezogen werden. Hier war in der 12. Aufbau-VO ursprünglicher Fassung und in der Fassung der 15. Aufbau-VO tatsächlich eine Sonderregelung getroffen worden, wonach der Wechsel Arbeiter/Angestellter und umgekehrt im Laufe der Mitgliedschaft zur Beendigung der Mitgliedschaft führte. Durch das Gesetz vom 13. August 1952 (BGBl I 4 37), auf das die heutige gültige Fassung des Satzes 4 zurückgeht, sollte festgelegt werden, daß nun auch für die Eigenschaft Arbeiter oder Angestellter nichts anderes gilt als für die anderen den Mitgliederkreis bestimmenden Eigenschaften. Das hat der 3. Senat des BSG in seinem Urteil vom 27. Mai 1971 (SozR Nr 10 zur 12. Aufbau-VO vom 24.12.1935, § 4) dargelegt. Unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte des § 4 der 12. Aufbau-VO bedeutet der Hinweis auf die Versicherungspflicht der hier genannten Arbeiter und Angestellten keine Beschränkung, sondern eine Hervorhebung. Satz 4 ist so zu verstehen, daß sogar versicherungspflichtige Mitglieder, wenn sie ihre Eigenschaft als Arbeiter oder Angestellte - die sie bei Begründung der Mitgliedschaft haben mußten -, verlieren, weiterhin Mitglieder der Ersatzkasse bleiben dürfen, der sie bisher angehört haben. Ist - wie hier - schon die Begründung der Mitgliedschaft bei einer Arbeiter-Ersatzkasse unabhängig von der Zugehörigkeit zur Arbeiterschaft, so besteht kein Grund, diese Zugehörigkeit für die Fortdauer der Mitgliedschaft zu verlangen.

Die Beigeladene darf aber nicht nur Mitglied der Beklagten bleiben. Sie ist auch versicherungspflichtiges Mitglied im Sinne der Befreiungsvorschrift des § 517 Abs 1 RVO geworden. Weder diese Vorschrift noch § 4 Abs 1 der 12. Aufbau-VO verlangen, daß die zu befreiende Person dem Berufskreis angehört, für den die Ersatzkasse zuständig ist. Das hat bereits das Reichsversicherungsamt (RVA) entschieden (vgl Grundsätzliche Entscheidung vom 14. September 1938 in AN S 449, 450). Das RVA hat entschieden, daß ein Versicherter, der einer Ersatzkasse in einem Zeitpunkt beigetreten ist, in dem seine Aufnahme zulässig war, Mitglied der Ersatzkasse bleiben kann, auch wenn er infolge Stellungswechsels aus dem Berufskreis, für den die Ersatzkasse zugelassen ist, ausscheidet. Damit ist aber zugleich entschieden worden, daß dieser Versicherte auch "versicherungspflichtiges" Mitglied der Ersatzkasse bleiben kann. Denn der Streit in dem damaligen Fall ging um die Frage, ob die Ersatzkasse oder die Pflichtkasse zuständig war. Mit der oben gekennzeichneten Rechtsauffassung ist - für das RVA selbstverständlich - klargestellt worden, daß ein Anspruch auf Befreiung besteht, wenn auch die zu befreiende Person zur Zeit der Befreiung nicht mehr dem beitrittsberechtigten Berufskreis angehört.

Es kann aber auch nicht verlangt werden, daß die zu befreiende Person zur Zeit ihres Beitritts zum Berufskreis der Ersatzkasse gehört hat, wie dies in dem vom RVA entschiedenen Fall angenommen werden kann. Da der beitrittsberechtigte Personenkreis mehr umfaßt als den versicherungspflichtigen Berufskreis - nämlich jetzt auch die nach § 176b Abs 1 Nr 2 RVO versicherungsberechtigten Personen -, besteht kein Grund, die Rechte des versicherungsberechtigten Personenkreises zu beschränken. Auch diesem Personenkreis muß, wenn er versicherungspflichtig wird, das Recht des § 517 RVO zustehen. Wollte man § 517 RVO einschränkend auslegen, so wäre die Kontinuität der Mitgliedschaft, die § 4 Abs 1 der 12. Aufbau-VO - wie ausgeführt - gewährleistet, für den versicherungsberechtigten Mitgliederkreis praktisch verhindert. Denn es besteht kein Interesse daran, eine Mitgliedschaft bei einer Ersatzkasse fortzusetzen, wenn der Versicherte nicht gleichzeitig berechtigt ist, von der Mitgliedschaft bei seiner Pflichtkasse (§ 225 RVO) befreit zu werden.

Allerdings gebietet die hier vertretene Auffassung, die Beigeladene nicht nur im Sinne des § 517 RVO, sondern auch im Sinne des § 507 RVO als versicherungspflichtig zu beurteilen. Denn nur eine Versicherung, die der Pflichtversicherung bei einer Pflichtkasse mindestens gleichwertig ist, rechtfertigt die Befreiung. Mit der Erteilung der Befreiungsbescheinigung nach § 517 Abs 2 RVO wird zum Ausdruck gebracht, daß die Beigeladene nunmehr auch der Ersatzkasse gegenüber die Rechte und Pflichten einer pflichtversicherten Person hat.

Das Urteil des 3. Senats vom 20. Juli 1976 (BSGE 42, 113) steht dem nicht entgegen. Im Gegenteil: Der 3. Senat hat ausgeführt, daß die Befreiung deshalb nicht möglich ist, weil die Mitgliedschaft bei der Ersatzkasse durch die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung endete (§ 165 Abs 6 RVO). Eine Befreiung wäre in dem damaligen Fall nur möglich gewesen, wenn der Versicherte neu in die Ersatzkasse hätte aufgenommen werden können. Das ist aber im Streitfall nicht erforderlich, weil die Beigeladene Mitglied der Beklagten geblieben ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1, 2, 4 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 19

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