Orientierungssatz

Die Ansicht, Zeiten einer versicherungspflichtigen Beschäftigung könnten - bei Versicherungsfällen vor dem 1966-01-01 - nicht als Ausfallzeiten bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage behandelt werden, ist weder mit dem Gesetzeswortlaut noch mit einer gefestigten Rechtsprechung des BSG unvereinbar. Das Urteil des 1. Senats vom 1966-03-23 1 RA 221/62 = (SozR Nr 6 zu § 1255 RVO) bezieht sich nur auf freiwillige Beiträge, das Urteil des 12. Senats vom 1973-05-17 12 RJ 190/72 = (SozR Nr 13 zu § 1255 RVO) nur auf Versicherungsfälle seit dem 1966-01-01. Auch auf den Zusammenhang dieser Urteile läßt sich diese Ansicht nicht mit der für eine Anwendung von AVG § 79 erforderlichen Sicherheit stützen.

 

Normenkette

AVG § 79 Fassung: 1957-02-23, § 32 Abs. 7 S. 2 Fassung: 1965-06-09, § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23, § 1255 Abs. 7 S. 2 Fassung: 1965-06-09, § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 27. November 1973 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Unter den Beteiligten ist noch streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, im Wege einer Anwendung von § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) dem Kläger die Zeit vom 1. Dezember 1952 bis 30. November 1953 statt als Beitragszeit als Ausfallzeit anzurechnen.

Der Kläger wurde im Oktober 1944 zur Wehrmacht eingezogen; er war bis dahin invalidenversichert. Nach einer Verwundung lag er bis zum Januar 1947 im Lazarett. Anschließend bezog er eine Invalidenrente. Diese wurde ihm zum 30. September 1952 entzogen, auf Grund eines gerichtlichen Vergleichs jedoch für die Monate Oktober und November 1952 weitergewährt. Vom 1. Oktober 1952 bis 30. November 1953 bezog der Kläger als gemeldeter Arbeitsloser Arbeitslosenunterstützung. In dieser Zeit arbeitete er wöchentlich einen Tag; das Entgelt wurde auf die Arbeitslosenunterstützung angerechnet; die hierfür entrichteten Beiträge zur Angestelltenversicherung wurden für die Monate Oktober und November 1952 von der Beklagten wegen des Rentenbezugs beanstandet und erstattet. Die Beklagte hat die Zeit des Wehrdienstes (bis Januar 1947) als Ersatzzeit und die anschließende Zeit des Rentenbezugs (bis November 1952) als Ausfallzeit i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 6 AVG anerkannt.

Mit Bescheid vom 7. Juli 1964 bewilligte die Beklagte dem Kläger Altersruhegeld. Dabei berücksichtigte sie die Zeit vom 1. Dezember 1952 bis 30. November 1953 als Beitragszeit. Mit Schreiben vom 4. August 1970 beantragte der Kläger u. a. eine Berücksichtigung dieser Zeit als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG. Die Beklagte lehnte dieses Begehren mit Bescheid vom 15. September 1970 und Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 1971 ab. Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hamburg u. a. die Beklagte verurteilt, die jetzt noch streitige Zeit statt als Beitragszeit als Ausfallzeit zu berücksichtigen (Urteil vom 22. Januar 1973). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg u. a. unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. November 1973). Es hat ausgeführt:

Die Voraussetzungen, unter denen die Beklagte als von der Unrechtmäßigkeit ihres früheren Bescheides überzeugt zu gelten habe, seien nichterfüllt. § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG gelte nach Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. d des Rentenversicherungsänderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 nicht für Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1966. Zwar habe der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) die Ansicht vertreten, daß während einer sonst anrechenbaren Ausfallzeit entrichtete freiwillige Beiträge auch bei Versicherungsfällen vor dem Inkrafttreten des RVÄndG nicht von § 32 Abs. 5 AVG erfaßt würden (SozR Nr. 6 zu § 1255 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Diese Auffassung stehe jedoch im Widerspruch zu Meinungen im Schrifttum und zur Rechtsprechung des 12. Senats des BSG (SozEntsch V § 1256 RVO nF Nr. 3 sowie SozR Nr. 13 zu § 1255 RVO). Damit könne die Ablehnung der Beklagten zumindest nicht als offensichtlich rechtwidrig angesehen werden; ob es auch am Merkmal der Unterbrechung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung fehle, könne dahinstehen.

Das LSG hat die Revision zugelassen. Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und ausgeführt:

Die Rechtsprechung des BSG sei möglicherweise nicht frei von Unklarheiten und Widerspruch. Dies dürfe jedoch eine Überzeugungsbildung des Versicherungsträgers nach § 79 AVG nicht beeinträchtigen, wenn ein Gericht abschließend zu dem Ergebnis gelange, die im früheren Bescheid vertretene Rechtsauffassung sei nicht haltbar. Zu einem solchen Ergebnis müsse die Prüfung durch das BSG aber führen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 22. Januar 1973 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.

Auf die Richtigkeit der mit bindend gewordenem Verwaltungsakt vertretenen Auffassung komme es bei der Anwendung von § 79 AVG nicht entscheidend an. Maßgebend sei vielmehr, ob sich auf Grund einer gefestigten Rechtsprechung der Eindruck, die Ablehnung sei zu Unrecht erfolgt, habe aufdrängen müssen. Das Vorliegen dieser Voraussetzung habe das LSG zu Recht verneint.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, daß die angefochtenen Bescheide der Beklagten nur einer Nachprüfung unter dem Gesichtspunkt des § 79 AVG unterliegen. Damit ist entgegen der Ansicht der Revision für eine Ersetzung der Rechtsaufassung des Versicherungsträgers durch die des Gerichts nur Raum, wenn die Auffassung des Versicherungsträgers offensichtlich unhaltbar ist (BSG 28,179 (184)). Der Versicherungsträger kann mithin nur dann als von der Unrechtmäßigkeit seiner Ablehnung überzeugt angesehen werden, wenn er die Unrichtigkeit seiner Auffassung angesichts des klaren Gesetzeswortlauts oder auf Grund einer gesicherten Rechtsprechung hätte erkennen müssen (vgl. BSG 19,38 (43 f); SozR Nr. 12 zu § 1300 RVO). Diese Voraussetzungen sind, wie das LSG im Ergebnis zutreffend entschieden hat, hier nicht erfüllt.

Die im früheren Bescheid der Beklagten vertretene Auffassung, daß Zeiten einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nicht als Ausfallzeiten angerechnet und auch bei Ermittlung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage nicht als solche behandelt werden könnten, ist, soweit es sich um Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1966 handelt, nicht unvereinbar mit dem Gesetzeswortlaut. Sie steht auch nicht im Widerspruch zu einer gefestigten Rechtsprechung des BSG. Wenn der 1. Senat in seinem Urteil vom 23. März 1966 (SozR Nr. 6 zu § 1255 RVO) eine Behandlung von Zeiten, für die wirksam Beiträge entrichtet sind, als Ausfallzeiten für möglich gehalten hat, so bezieht sich diese Entscheidung zwar auf Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1966, aber nur auf Zeiten einer freiwilligen Versicherung. Die Erwägungen dieses Urteils lassen sich nicht ohne weiteres auf Zeiten einer Pflichtversicherung übertragen, zumal bei Vorliegen von Beitragszeiten eine Anrechnung als Ausfallzeiten grundsätzlich ausgeschlossen ist (SozR Nr. 21 zu § 1259 RVO). Das Urteil des 12. Senats vom 17. Mai 1973 (SozR Nr. 13 zu § 1255 RVO) läßt zwar auch Pflichtbeiträge während einer anzurechnenden Ausfallzeit bei der Ermittlung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage unberücksichtigt, es stützt sich hierbei jedoch ausschließlich auf die mit Wirkung vom 1. Januar 1966 in Kraft getretene Regelung des § 1255 Abs. 7 Satz 2 RVO (= § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG); im Urteil vom 21. November 1969 (SozEntsch aaO) wird vom 12. Senat eine Rückwirkung dieser Vorschrift auf frühere Versicherungsfälle ausgeschlossen. Der Annahme der Revision, daß für Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1966 zumindest hinsichtlich von Bezugszeiten nach dem 1. Januar 1966 nichts anderes gelten könne wie bei späteren Versicherungsfällen, steht Art. 5 § 3 RVÄndG entgegen. Damit fehlt es an einer Entscheidung des BSG, in der für Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1966 eine Anrechnung oder Behandlung von Zeiten der Pflichtversicherung als Ausfallzeiten für zulässig erklärt wäre. Auch aus dem Zusammenhang der Urteile des 1. Senats und des 12. Senats läßt sich schon wegen der Unterschiedlichkeit der Ausgangspunkte ein solcher Grundsatz jedenfalls nicht mit der für eine Anwendung von § 79 AVG erforderlichen Sicherheit herleiten. Selbst wenn - wie das LSG und die Revision meinen - die Entscheidungen in ihren Begründungen in einem gewissen Widerspruch zueinander stehen sollten, würde gerade das der Annahme einer gesicherten höchstrichterlichen Rechtsprechung (BSG 19,38 (44)) entgegenstehen; es ist nicht ersichtlich, warum ein solcher Widerspruch denknotwendig und offenkundig allein i. S. der Ansicht der Revision aufzulösen sein sollte.

Soweit die Revision meint, der Versicherungsträger müsse stets dann als von der Unrichtigkeit seiner den früheren Bescheid tragenden Auffassung überzeugt gelten, wenn ein Gericht abschließend zum Ergebnis gelange, diese Rechtsauffassung sei unrichtig, verkennt sie Sinn und Bedeutung von § 79 AVG. Diese Vorschrift dient nicht dazu, den früher erhobenen Anspruch einer völlig neuen Prüfung wie bei der ersten Feststellung der Leistung zu unterziehen (SozR Nr. 12 zu § 1300 RVO). Auch wenn man hier einen Ermessensspielraum des Versicherungsträgers verneint, erstreckt sich nach dem Wortlaut des § 79 AVG die gerichtliche Nachprüfung der Ablehnung einer Neufeststellung zunächst darauf, ob sich der Versicherungsträger von der Unrechtmäßigkeit seiner früheren Entscheidung überzeugt hat. Die Rechtsprechung behandelt den Versicherungsträger allerdings auch dann als von der Unrechtmäßigkeit "überzeugt", wenn die Unhaltbarkeit der von ihm vertretenen Rechtsansicht offenkundig und unzweifelhaft ist (vgl. BSG 19,38 (43)). Da jedoch - wie dargelegt - die Rechtsauffassung der Beklagten zumindest nicht schlechthin unvertretbar ist, braucht sich der erkennende Senat zur Richtigkeit dieser Auffassung nicht abschließend zu äußern; damit entfällt aber auch die Möglichkeit, die Überzeugung der Beklagten durch eine solche des Gerichts zu ersetzen.

Die Revision war daher zurückzuweisen. Dabei konnte der Senat - ebenso wie das LSG - dahingestellt lassen, ob ohne die Pflichtbeiträge eine Ausfallzeit i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG überhaupt vorliegen würde.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648105

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