Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 07.03.1960)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 7. März 1960 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger war bis Ende April 1957 als Kraftfahrzeug-Handwerker bei der Reparaturwerkstatt M. in Salzgitter beschäftigt. Er hatte dieses Beschäftigungsverhältnis gekündigt und wollte am 2. Mai 1957 in den Dienst der Firma Auto-P. in Teichhütte (Harz) treten. Am 30. April 1957, dem letzten Tag seiner Beschäftigung bei M., nahm der Kläger Urlaub, den er dazu benutzte, mit einem von der Firma P. zur Verfügung gestellten Wagen seine Privatsachen von Salzgitter nach Teichhütte zu bringen. Da der Firmeninhalber M. tagsüber abwesend war, konnte der Kläger seine – noch nicht fertig gemachten – Arbeitspapiere von ihm nicht in Empfang nehmen. Um dies nachzuholen, wollte der Kläger abends von Teichhütte nochmals nach Salzgitter zurückkehren. Auf dieser Fahrt mit seinem eigenen Kraftrad erlitt der Kläger gegen 19 Uhr einen Unfall, durch den er sich erheblich verletzte. Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch des Klägers mit der Begründung ab, der zum Unfall führende Weg habe nicht unter Versicherungsschutz gestanden, da die beabsichtigte Abholung der Arbeitspapiere weder die Interessen des alten noch die des neuen Arbeitgebers berührt, sondern wesentlich im eigenen Interesse des Klägers gelegen habe.

Das Sozialgericht Braunschweig hat am 26. September 1958 die Beklagte verurteilt, den Verkehrsunfall vom 30. April 1957 als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Kläger für die Unfallfolgen die gesetzlichen Leistungen zu gewähren. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 7. März 1960 den Urteilsspruch dahin neugefaßt, daß die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides verurteilt wird, dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 30. April 1957 eine der Minderung seiner Erwerbsfähigkeit entsprechende Rente zu gewähren; im übrigen hat das LSG die Berufung zurückgewiesen: Der Weg des Klägers von Teichhütte nach Salzgitter habe mit dem – am 30. April 1957 noch nicht gelösten – Beschäftigungsverhältnis bei der Firma M. ursächlich zusammengehangen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei anzunehmen, daß mit der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses zusammenhängende Tätigkeiten zu den versicherten Tätigkeiten im Rahmen des Arbeitsverhältnisses gehören (BSG 8, 176). Am Unfalltag wäre somit die versicherte Arbeitstätigkeit des Klägers bei M. frühestens mit der beabsichtigten Abholung der Papiere beendet gewesen. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 23. März 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 14. April 1960 Revision eingelegt und sie gleichzeitig sowie mit dem innerhalb der verlängerten Frist (§ 164 Abs. 1 Satz 2 des SozialgerichtsgesetzesSGG –) eingegangenen Schriftsatz vom 17. Mai 1960 begründet. Die Revision rügt, die Vorinstanzen hätten die §§ 542 Abs. 1, 543 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung unrichtig angewandt. Am Nachmittag des 30. April 1957, nachdem der Kläger sich bereits bei der Firma M. abgemeldet und seine Privatsachen fortgeschafft hatte, habe es für ihn irgendwelche betrieblichen Beziehungen zur bisherigen Arbeitsstätte nicht mehr gegeben. An der Rückfahrt nach Salzgitter am Abend des Unfalltages sei der Unternehmer Mulder nicht interessiert gewesen. Nur der Kläger selbst habe ein rein privates Interesse daran gehabt, noch während des Urlaubstages seine Papiere zu erhalten. Der hier gegebene Sachverhalt unterscheide sich damit erheblich von demjenigen der vom LSG angeführten BSG-Entscheidung. Selbst wenn in der unfallbringenden Fahrt eine sogenannte gemischte Tätigkeit (BSG 3, 240) zu erblicken sein sollte, habe diese wesentlich nur dem Kläger, nicht aber dem Unternehmen gedient.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist statthaft und zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Nach der grundsätzlichen Auffassung des erkennenden Senats gehören Handlungen, die notwendig sind, um ein Arbeitsverhältnis durch Kündigung oder Einigung über eine vorzeitige Auflösung zu beenden, zu den versicherten Tätigkeiten im Rahmen des Arbeitsverhältnisses (BSG 8, 176). Der Versicherungsschütz wurde hiernach bejaht für den Weg, den der Beschäftigte zurücklegte, um seinen Vorgesetzten aufzusuchen und mit diesem die Möglichkeit einer Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu besprechen. Dabei wurde als ausschlaggebend der Gesichtspunkt angesehen, daß sich die Pflicht, eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch ordnungsgemäße Kündigung herbeizuführen, unmittelbar aus dem bestehenden Arbeitsvertrag ergibt und der Arbeitgeber in jedem Fall ein wesentliches Interesse an einer ordnungsgemäßen Kündigung hat. Das LSG meint, der hier vorliegende Sachverhalt sei nach ähnlichen Gesichtspunkten zu beurteilen. Das trifft im Ergebnis zu, wenngleich die Revision mit Recht darauf hinweist, daß die beiden Fälle nicht genau übereinstimmen, sondern daß es sich hier um das auf die Kündigung folgende letzte Stadium bei der Auflösung des Arbeitsverhältnisses, nämlich die Aushändigung der „Arbeitspapiere” an den Arbeitnehmer handelt.

Welche den Kläger betreffenden Urkunden unter diesen Papieren im einzelnen zu verstehen sind, ist vom LSG nicht festgestellt worden. Diese Unterlassung steht indessen einer revisionsrechtlichen Beurteilung des Sachverhalts nicht entgegen, denn der Begriff „Arbeitspapiere” ist im allgemeinen Sprachgebrauch hinreichend deutlich gekennzeichnet (vgl. Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 6. Aufl., Bd. 1 S. 155). In dem hier gegebenen Fall des Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis kamen als Arbeitspapiere des Klägers, die ihm sein bisheriger Arbeitgeber M. auszuhändigen hatte, in Betracht: Das von M. auszustellender Dienstzeugnis und die Arbeitsbescheinigung (§ 174 Abs. 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung –AVAVG–), die von Mulder bis dahin aufbewahrte, von ihm mit der Entgeltbescheinigung (§ 1401 Abs. 2 RVO) zu versehende Versicherungskarte sowie die Lohnsteuerkarte (vgl. Gros in Arbeitsrecht-Blattei, Stichwort „Arbeitspapiere”, Abschnitt B). Der Umstand, daß sich bezüglich der Behandlung dieser Papiere für den Arbeitgeber bestimmte Öffentlich-rechtliche Verpflichtungen ergeben, reicht zwar nicht aus, um jede ihrer Beschaffung dienende Tätigkeit des Arbeitnehmers dem Versicherungsschutz zu unterstellen. So ist z. B. nach einer Entscheidung des erkennenden Senats das Besorgen einer Lohnsteuerkarte grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich des steuerpflichtigen Arbeitnehmers zuzurechnen (vgl. BSG 11, 154). Entsprechendes wäre auch bei Wegen anzunehmen, die der Beschäftigte zwecks Aushändigung oder Umtausches der Versicherungskarte (§§ 1411, 1412 RVO) zurücklegt. Der vorliegende Rechtsstreit betrifft jedoch nicht einen solchen, das Arbeitsverhältnis nur von fern berührenden Umgang mit den Arbeitspapieren, sondern die Abwicklung von unmittelbar aus dem Arbeitsverhältnis folgenden Rechtsbeziehungen zwischen dem Kläger und dem Firmeninhaber Mulder.

Diese Rechtsbeziehungen haben als gemeinsame Grundlage die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers für die in seinem Unternehmen Beschäftigten. Ihr entspringt die – auch gesetzlich festgelegte – Pflicht des Arbeitgebers, bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Zeugnis auszustellen (vgl. Hueck/Nipperdey aaO S. 418 ff). Weiterhin ergibt sich aus diesem Grundsatz die Verpflichtung des Arbeitgebers, die ihm überlassenen Arbeitspapiere sorgfältig aufzubewahren und sie mit den erforderlichen Eintragungen zu versehen (vgl. Hueck/Nipperdey aaO S. 375, Gros aaO Abschn. D II). Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat der Arbeitgeber diese verschiedenen Papiere zur Aushändigung an den Arbeitnehmer rechtzeitig fertigzustellen. Der Arbeitnehmer ist zur Abholung der Papiere gegen Empfangsbescheinigung verpflichtet (vgl. Gros aaO Abschn. E I, II). Dies war nach den Feststellungen des LSG dem Kläger im Laufe des 30. April 1957 zunächst deshalb nicht möglich, weil der Unternehmer M. tagsüber nicht anwesend war und die: Papiere auch noch nicht fertiggestellt hatte. Hieraus folgte an sich für den Unternehmer die Pflicht, nunmehr auf seine Rechnung und Gefahr die Arbeitspapiere dem Kläger zu übersenden. Die Fahrt nach Salzgitter, die der Kläger am Abend noch antrat, diente auch dazu, den Unternehmer von dieser Pflicht zu entlasten. Damit war ein wesentlicher Zusammenhang dieses Weges mit der bisherigen versicherten Tätigkeit des Klägers hergestellt, unbeschadet dessen, daß sicherlich auch der Kläger selbst an der baldigen Empfangnahme seiner Arbeitspapiere interessiert war. Angesichts des wesentlichen Zusammenhangs der zum Unfall führenden Fahrt mit dem Beschäftigungsverhältnis kann auch die von der Beklagten in den Vorinstanzen dargelegte Erwägung nicht gebilligt werden, der Kläger hätte die Übersendung der Arbeitspapiere mit der Post abwarten können.

Die Revision ist hiernach nicht begründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Brackmann, Schmitt, Dr. Baresel

 

Fundstellen

Haufe-Index 929573

BSGE, 23

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