Entscheidungsstichwort (Thema)

Entschädigung wie eine Berufskrankheit. Venenerkrankung

 

Orientierungssatz

1. Für eine Entschädigung einer Krankheit nach § 551 Abs 2 RVO ist ua Voraussetzung, daß der Versicherte zu einer bestimmten Personengruppe gehört, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung Einwirkungen ausgesetzt ist, die nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft geeignet sind, Krankheiten solcher Art zu verursachen (vgl die Urteile des BSG vom 30.1.1986 2 RU 80/84 = BSGE 59, 295 und vom 18.3.1987 9b RU 58/85).

2. Es ist nicht nachgewiesen, daß bei Gießereiarbeitern, die typischerweise einer besonderen Hitzebelastung bei auch stehender Arbeit ausgesetzt sind, zahlenmäßig noch häufiger Venenerkrankungen auftreten, als bei der übrigen Bevölkerung als allgemeine Verschleißerkrankung aufgrund der verschiedensten Ursachen.

3. Die Voraussetzung einer höheren Gefährdung bestimmter Personengruppen bezieht sich dabei auf das allgemeine Auftreten der Krankheit, nicht dagegen auf die Verursachung der Krankheit durch die gefährdende Tätigkeit. Ob eine Krankheit in einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordert den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung derartiger Krankheitsbilder, um mit Sicherheit daraus schließen zu können, daß die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt.

 

Normenkette

RVO § 551 Abs 2 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 28.05.1986; Aktenzeichen L 2 U 1176/85)

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 07.02.1985; Aktenzeichen S 15 U 165/83)

 

Tatbestand

Der im Jahre 1919 geborene Kläger war in den Jahren 1950 bis 1972 als Gießer in einer Gießerei tätig, die er danach von seinem Schwiegervater übernahm und bis zum Jahre 1982 führte.

Im Februar 1982 erstattete er eine Berufskrankheiten-Anzeige. Er leide seit dem Jahre 1970 an einem postthrombotischen Syndrom beider Beine, das er auf berufsbedingte Hitzeeinwirkungen am Schmelzofen bei Temperaturen bis 1.400 Grad sowie eine Hitze durch Schmelzofen und Schmelztiegel mit Gasentwicklungen beim Schmelzen verschiedener Metalle zurückführte.

Die Beklagte lehnte eine Entschädigung ab, weil keine Berufskrankheit (BK) vorliege und die Erkrankung auch nicht wie eine BK zu entschädigen sei (Bescheid vom 27. Dezember 1982 und Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1985).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, da keine neuen Erkenntnisse iS des § 551 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vorlägen, die eine Entschädigung wie eine BK rechtfertigen könnten (Urteil vom 7. Februar 1985).

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und zur Begründung ua ausgeführt (Urteil vom 28. Mai 1986): Die Venenerkrankung des Klägers sei durch seine berufliche Tätigkeit mitverursacht worden. Trotz der Bejahung der haftungsausfüllenden Kausalität im Einzelfall scheide hier aber eine Anwendung des § 551 Abs 2 RVO aus, weil die übrigen Voraussetzungen für die Entschädigung der Venenerkrankung wie eine BK nicht vorlägen. Es könne hier nicht festgestellt und davon ausgegangen werden, daß der Kläger zu einer bestimmten Personengruppe gehöre, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung Einwirkungen ausgesetzt gewesen sei, die nach Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft geeignet seien, Krankheiten solcher Art, wie sie beim Kläger beständen, zu verursachen. Dabei beziehe sich die Voraussetzung einer höheren Gefährdung bestimmter Personengruppen auf das allgemeine Auftreten der Krankheit, nicht dagegen auf die Verursachung der Krankheit durch die gefährdende Tätigkeit. Ob eine Krankheit in einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftrete als bei der übrigen Bevölkerung, erfordere gerade den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen. Daß weder ein solcher Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsstörungen noch eine langfristige zeitliche Überwachung der Krankheitsbilder hier vorlägen, ergebe sich nach Überzeugung des Senats einerseits aufgrund des Hinweises von Dr. von G., daß tiefe Bein-Beckenvenentrombosen eine häufige Erkrankung seien, die an sich durch die verschiedenartigen Ursachen hervorgerufen werden könne. Schon daraus folge, daß die genannte Erkrankung außer bei Gießereiarbeitern, denen der Kläger zugerechnet werden könne, auch in der übrigen Bevölkerung durchaus häufig vorkomme. Bei der Venenerkrankung, hinsichtlich der hier, bezogen auf die konkreten Einwirkungen, nur medizinische Erkenntnisse für den Kläger vorlägen, könne hinsichtlich des Erfordernisses der gruppentypischen besonderen Gefährdung nicht deshalb von der Feststellung einer größeren Zahl gleichartiger oder ähnlich gefährdeter Arbeitnehmer abgesehen werden, weil etwa die Art der Gefährdung im konkreten Einzelfall nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft zu dem Schluß zwinge, daß eine nicht bekannte und konkret auch nicht oder nicht mehr feststellbare Vielzahl von Arbeitnehmern dieser an sich gruppentypischen arbeitsbedingten Gefahr in gleicher Weise ausgesetzt wäre. Es könne auch weiter durchaus davon ausgegangen werden, daß bis zum Jahre 1981 Filigranschmuck nur in wenigen Betrieben gegossen worden sei. Daraus folge, vor allem auch unter Berücksichtigung der allgemeinen Verbreitung der Venenerkrankungen in der Bevölkerung, aber nicht, daß der Kläger als einziger oder erster der krankheitsverursachenden besonderen Einwirkungen am Arbeitsplatz, nämlich stehender Tätigkeit mit extremer Hitzeeinwirkung, ausgesetzt gewesen sei. Es könne also nicht davon ausgegangen werden, daß der Kläger der erste - und einzige - Fall einer an sich gruppentypischen besonderen Gefährdung durch die Arbeitsbedingungen sei. Es brauche danach hier nicht weiter darauf eingegangen zu werden, ob ferner "neue" medizinische Erkenntnisse im Hinblick auf die Entstehung von Venenerkrankungen, insbesondere bei Hitzeeinwirkung und Stehbelastung, beständen.

Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und ua wie folgt begründet: Die Ausführungen des 8. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) in dem Urteil vom 29. Oktober 1981 (8/8a RU 82/80 - SozR 2200 § 551 Nr 20) müßten im vorliegenden Fall deshalb zutreffend sein, weil feststehe, daß die Tätigkeit des Klägers von anderen Personen nicht ausgeübt werde. Dies hänge vor allem damit zusammen, daß der Kläger praktisch als einziger eine Gießtechnik angewendet habe, die von den anderen Gießereien, die Filigranschmuck hergestellt hätten, nicht angewendet worden sei. Auch die Ablehnung des Anspruchs des Klägers mit Hinweis auf das fehlende Vorliegen genereller, über den Einzelfall des Klägers hinausgehender medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse sei rechtsfehlerhaft. Nach der Auskunft des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) lägen keine medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse vor. Dies bedeute nichts anderes, als daß nicht bekanntgeworden sei, ob bestimmte Personengruppen, die in gleicher Weise wie der Kläger in ihrer Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung besonderen krankheitsverursachenden Einwirkungen ausgesetzt seien. Solche Fälle seien dann nach der Auffassung des 8. Senats des BSG gemäß § 551 Abs 2 RVO wie eine BK zu entschädigen. Im Hinblick auf die abweichende Auffassung des 2. Senats in seinem Urteil vom 30. Januar 1986 (2 RU 80/84) werde angeregt, die Sache dem Großen Senat gemäß § 42 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vorzulegen.

Der Kläger beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 27. Dezember 1982 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Venenerkrankung wie bei einer Berufskrankheit Verletztenrente dem Grunde nach zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Das LSG ist in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats davon ausgegangen, daß die Voraussetzungen für die - hier allein noch in Streit stehende - Entschädigung der Erkrankung des Klägers nach § 551 Abs 2 RVO wie eine BK nicht gegeben sind.

Nach § 551 Abs 2 RVO sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs 1 RVO erfüllt sind. Diese Vorschrift ist keine "Härteklausel", nach der nur deshalb zu entschädigen wäre, weil die Nichtentschädigung für den Betroffenen eine individuelle Härte bedeuten würde (BSGE 44, 90, 93; 59, 295, 297). Sie will auch nicht erreichen, daß jede Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang mit der Berufstätigkeit im Einzelfall nachgewiesen oder hinreichend wahrscheinlich ist, wie eine BK entschädigt werden soll (BSGE 59, 295, 297; BSG SozR 2200 § 551 Nr 18). Sie stellt vielmehr einen Kompromiß zwischen dem in § 551 Abs 1 RVO verankerten Listensystem und der von einigen Seiten gewünschten "Generalklausel" dar (BSGE 59, 295, 297). Der Senat hat in seinem Urteil vom 30. Januar 1986 (BSGE 59, 295) außerdem noch einmal dargelegt, daß für eine Entschädigung einer Krankheit nach § 551 Abs 2 RVO ua Voraussetzung sei, daß der Versicherte zu einer bestimmten Personengruppe gehöre, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung Einwirkungen ausgesetzt ist, die nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft geeignet seien, Krankheiten solcher Art zu verursachen (BSGE aaO Seite 298; ebenso BSG Urteil vom 18. März 1987 - 9b RU 58/85 -). Die Voraussetzung einer höheren Gefährdung bestimmter Personengruppen bezieht sich dabei auf das allgemeine Auftreten der Krankheit, nicht dagegen auf die Verursachung der Krankheit durch die gefährdende Tätigkeit. Ob eine Krankheit in einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordert, wie das LSG nicht verkannt hat, den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung derartiger Krankheitsbilder, um mit Sicherheit daraus schließen zu können, daß die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt (BSGE aaO). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist jedoch nicht nachgewiesen, daß bei Gießereiarbeitern, die typischerweise einer besonderen Hitzebelastung bei auch stehender Arbeit ausgesetzt sind, zahlenmäßig noch häufiger Venenerkrankungen auftreten, als bei der übrigen Bevölkerung als allgemeine Verschleißerkrankung aufgrund der verschiedensten Ursachen. Die Revision hat die tatsächlichen Feststellungen nicht mit begründeten Verfahrensrügen angegriffen, so daß sie für den Senat bindend sind. Damit ist aber die für eine Entschädigung der Krankheit des Klägers nach § 551 Abs 2 RVO erforderliche Voraussetzung nicht erfüllt, daß er zu einer bestimmten Personengruppe gehört, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung Einwirkungen ausgesetzt ist, die nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft geeignet sind, Krankheiten solcher Art, wie sie bei ihm bestehen, zu verursachen.

Das Berufungsgericht ist nicht von dem Urteil des 8. Senats des BSG vom 29. Oktober 1981 (BSGE 52, 272) abgewichen, wie es auf Seite 21 seiner Urteilsbegründung dargelegt hat. Selbst wenn man demnach mit der Revision davon ausgeht, daß der Kläger als einziger eine besondere Gießtechnik angewandt hat, unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem, der dem Urteil des 8. Senats des BSG zugrunde gelegen hat dadurch, daß nach den eigenen Angaben des Klägers er als einziger die Gießarbeiten in der von ihm geschilderten Form ausgeübt hat, so daß auch eine - wovon das Urteil des 8. Senats (aaO) ausgeht (vgl BSGE 59, 295, 299) - lediglich nicht bekannte und nur konkret nicht nachweisbare Personengruppe nicht feststellbar ist. Außerdem ist den tatsächlichen Feststellungen und dem sie stützenden Gutachten nicht zu entnehmen, daß Gießarbeiten derart, wie sie der Kläger nach seinen Angaben durchgeführt hat, zu einem gegenüber der allgemeinen Bevölkerung wesentlich häufigerem Auftreten von Venenerkrankungen führen würden. Es kann demnach nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht davon ausgegangen werden, daß der Kläger hinsichtlich der besonderen Gießarbeiten einer Personengruppe angehört hat, bei der, wenn sie das gleiche Gießverfahren verwendet hätte, nachweisbar Venenerkrankungen in höherem Maße als bei der übrigen Bevölkerung aufgetreten wären. Daß im Hinblick auf die nach den Angaben des Klägers nur von ihm ausgeübte spezielle Form der Gießerei ein größeres Erfahrungsmaterial nicht bekannt ist, rechtfertigt entgegen der Auffassung der Revision keine für den Kläger günstigere Entscheidung, da fehlendes ärztliches Wissen und wissenschaftliche Erkenntnisse sich zu Lasten des Versicherten auswirken.

Auf die weitere Voraussetzung des § 551 Abs 2 RVO, daß ua "neue" wissenschaftliche Erkenntnisse die Gefährdung einer bestimmten Personengruppe ergeben müssen, kommt es damit im vorliegenden Fall nicht mehr an.

Die Revision war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666207

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