Orientierungssatz

Beanstandung von Beiträgen nach Anerkenntnis der Versicherungsberechtigung im Rentenbescheid - Wirksamkeit von Beiträgen im Rentenbescheid - Bindungswirkung von Rentenbescheiden und von Anerkenntnissen

 

Normenkette

AVG § 143; RVO § 1421; AVG § 145 Abs 3 S 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1423 Abs 3 S 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 06.02.1980; Aktenzeichen L 10 An 30/79)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 07.12.1978; Aktenzeichen S 20 An 278/77)

 

Tatbestand

Streitig ist im wesentlichen eine Beanstandung von Beiträgen.

Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, die Kläger zu 2) und 3) sind Waisen des im April 1976 verstorbenen, zuletzt freiwillig versicherten Heinz F. Im Juli 1976 stellte die Klägerin zu 1) bei der Stadt H. für sich und ihre Kinder Antrag auf Hinterbliebenenrenten. Dabei brachte sie 87 vom Versicherten erworbene lose Beitragsmarken mit. Sie klebte diese Marken in die ihr nunmehr auf den Namen des Versicherten ausgestellten Versicherungskarten Nr 6 und 7 ein und entwertete sie für die Zeit von Januar 1969 bis März 1976. Dieser Vorgang wurde von dem den Antrag aufnehmenden Bediensteten auf dem Antragsvordruck vermerkt. Die Beklagte rechnete die Versicherungskarten Nr 6 und 7 im August 1976 auf und bewilligte den Klägern im September 1976 Hinterbliebenenrenten, bei deren Berechnung sie den Inhalt der genannten Versicherungskarten berücksichtigte.

Durch Bescheid vom 1. April 1977, der einen vorangegangenen Bescheid vom 13. Dezember 1976 ersetzte, beanstandete die Beklagte durch ein an die Klägerin zu 1) gerichtetes Schreiben die gelegentlich des Rentenantrags entrichteten Beiträge. Daneben teilte sie den Klägern unter Bezug hierauf im März 1977 mit, daß sie die Renten neu berechnet habe; dabei verringere sich die Witwenrente von 345,80 DM auf 303,60 DM und jede Halbwaisenrente von 210,80 DM auf 203,50 DM; die Renten würden jedoch in ihrer bisherigen Höhe weitergezahlt, eine Erhöhung im Zuge der Rentenanpassung werde aber erst möglich sein, wenn die richtig berechneten Zahlbeträge die derzeitigen übersteigen würden.

Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Nach Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) beziehen sich die Klagen auch auf die Mitteilungen über das vorläufige Unterbleiben von Rentenerhöhungen bei Rentenanpassungen; das ergebe sich zwar nicht aus den gestellten Anträgen, wohl aber aus dem schriftsätzlichen Vorbringen. Insoweit seien die Klagen freilich mangels eines Verwaltungsaktes unzulässig. Im übrigen seien sie unbegründet. Die Beanstandung sei zu Recht erfolgt, weil die Beiträge erst nach dem Tode des Versicherten entrichtet worden seien. Die Bindungswirkung der Rentenbescheide nach § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) schließe die Beanstandung der unwirksamen Beiträge nicht aus, weil die Berechnungsfaktoren von der Bindungswirkung nicht erfaßt würden. An dieser Auffassung sei auch gegenüber neuerdings erhobenen Bedenken (BSGE 46, 236, 237 - 239) festzuhalten. Dem Vertrauensschutz des Rentenbeziehers werde dadurch ausreichend Rechnung getragen, daß die Rentenhöhe nicht angetastet werden dürfe. Hinweise auf das Recht der Kriegsopferversorgung seien nicht überzeugend, weil die Korrekturmöglichkeiten bindender Versorgungsbescheide weitaus umfassender als in der Rentenversicherung ausgestaltet (gewesen) seien. Durch gesetzliche Regelungen, wonach Versicherungszeiten außerhalb des Leistungsverfahrens verbindlich festgestellt werden könnten, würde nicht generell die Möglichkeit einer Feststellung von Versicherungszeiten eröffnet. Durch die Berücksichtigung der unwirksamen Beiträge habe die Beklagte auch kein Anerkenntnis iS des § 145 Abs 3 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) abgegeben. Die gegenteilige Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamtes (RVA) sei durch die Auswirkungen gesetzlicher Neuregelungen, insbesondere hinsichtlich der Bindungswirkung, überholt; mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach Berechnungsfaktoren nicht von der Bindungswirkung erfaßt würden, sei sie nicht vereinbar. Die Beklagte habe schließlich ihr Beanstandungsrecht nicht verwirkt gehabt.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügen die Kläger, das LSG habe hinsichtlich der Klagen gegen die Mitteilungen der Beklagten nicht auf die Stellung sachdienlicher Anträge hingewirkt. Im übrigen habe das LSG den Sinn des § 131 Abs 1 Satz 1 AVG verkannt; die Beitragsmarken seien vom Versicherten rechtzeitig erworben worden. Gerade das Verhalten der Klägerin zu 1) spreche für ihre Unerfahrenheit und Redlichkeit. Abgesehen davon liege in der Rentenbewilligung ein Anerkenntnis, das eine Beanstandung ausschließe.

Die Kläger beantragen, die Urteile der Vorinstanzen sowie den Beanstandungsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revisionen sind im wesentlichen begründet.

Wie die Revisionsanträge und die Revisionsbegründung ergeben, wenden sich die Kläger nicht dagegen, daß das LSG in seinen Entscheidungsgründen die von ihm angenommenen Klagen (Anfechtungsklagen) gegen die den Klägern im März 1977 zugegangenen Mitteilungen der Beklagten als unzulässig abgewiesen hat. Die Kläger rügen jedoch, das LSG habe es unterlassen, sie auf sachdienliche Anträge hinzuweisen und - wie ergänzt werden muß - dann über diese ebenfalls zu entscheiden. Insofern können die Revisionen der Kläger jedoch keinen Erfolg haben. Sie stützen ihre Rechtsmittel in diesem Punkt allein auf eine Verletzung des § 112 Abs 2 Satz 2 SGG. Zu einer derartigen Verfahrensrüge gehört gem § 164 Abs 2 Satz 3 SGG die Angabe, welche Anträge sachdienlich gewesen wären, weil nur dann der behauptete Verfahrensmangel erkennbar wird. Sachdienlich gewesene Anträge haben die Kläger indessen nicht bezeichnet, so daß schon darum ihre Verfahrensrüge nicht durchgreifen kann.

Im übrigen - soweit die Revisionen den Beanstandungsbescheid betreffen - sind die Revisionen begründet. Die dagegen erhobenen Anfechtungsklagen sind zulässig. Daß die Beanstandung einen Verwaltungsakt darstellt, der im Klagewege angefochten werden kann, ist inzwischen auch Auffassung des 1. Senats des BSG (Urteil vom 26. Januar 1983 - 1 RA 11/82 -); seine gegenteilige frühere Rechtsprechung (BSGE 24, 13 f) ist überholt. Der Charakter der Beanstandung als Verwaltungsakt ergibt sich nach der Meinung des erkennenden Senats schon daraus, daß der Versicherungsträger mit ihr eine Unwirksamkeit von Beiträgen verbindlich feststellen will. Der Zulässigkeit der Klagen der Kläger zu 2) und zu 3) gegen den Beanstandungsbescheid steht ferner nicht entgegen, daß der Bescheid an sich nur an die Klägerin zu 1) gerichtet war. Die Beklagte hat nämlich, vor allem in ihren an alle Kläger gerichteten Mitteilungen vom März 1977, deutlich zu erkennen gegeben, daß die Beanstandung auch gegenüber den Klägern zu 2) und zu 3) Rechtswirkungen entfalten und diese somit ebenfalls als "Adressaten" des Beanstandungsbescheides gelten sollten.

Zu Unrecht haben die Vorinstanzen jedoch die Klagen gegen den Beanstandungsbescheid für unbegründet erachtet; dieser Bescheid ist rechtswidrig. Es trifft zwar zu, daß es an einer wirksamen Entrichtung der streitigen Beiträge fehlt. Freiwillige Beiträge sind unwirksam, wenn sie nach dem Tode des Versicherten entrichtet worden sind (§ 141 Abs 1 AVG). Entrichtet werden die Beiträge nicht bereits durch den Ankauf der Beitragsmarken, sondern erst durch deren Einkleben in die Versicherungskarte (§ 131 Abs 1 Satz 1 AVG). Dies ist hier erst nach dem Tode des Versicherten geschehen. Dem LSG ist auch darin zuzustimmen, daß der Beanstandung der Beiträge nicht bereits nach § 77 SGG die Bindungswirkung der erteilten Rentenbescheide entgegensteht. Den Ausführungen des LSG, mit denen sich dieses mit den lautgewordenen Bedenken gegen die bisherige Rechtsprechung zum Umfang dieser Bindungswirkung auseinandergesetzt hat, tritt der erkennende Senat uneingeschränkt bei.

Die Beanstandung war jedoch entgegen der Ansicht des LSG durch ein Anerkenntnis der Versicherungsberechtigung aufgrund des § 145 Abs 3 Satz 2 AVG in der bis zum 31. Dezember 1980 geltenden Fassung - § 145 Abs 3 Satz 2 AVG aF - ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift, die durch Gesetz vom 18. August 1980 zwar gestrichen, hier aber noch anwendbar ist, kann der Versicherungsträger, wenn er die Versicherungspflicht oder die Versicherungsberechtigung anerkannt hat, den Rentenanspruch nicht mehr mit der Begründung ablehnen, daß Versicherungspflicht nicht bestanden hat oder Beitragsmarken zu Unrecht verwendet worden sind. Die Vorschrift ist nach ihrem Schutzgedanken über ihren Wortlaut hinaus auch auf Beanstandungen außerhalb des Leistungsverfahrens anzuwenden (BSGE 30, 17, 19 f; 49, 85, 91). Daraus folgt, daß sich ihr Anwendungsbereich auf Fälle erstreckt, in denen lediglich die Rentenhöhe bei späteren Rentenanpassungen in Frage steht. Das Anerkenntnis braucht nicht in Form eines ausdrücklichen Bescheides abgegeben zu werden; das Verhalten muß aber nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen als ein Anerkenntnis, dh als eine erkennbare Bejahung der Versicherungspflicht oder der Versicherungsberechtigung aufgefaßt werden können (vgl SozR 2200 § 1423 Nr 12 mwN). Dazu bedarf es eines Verhaltens des Versicherungsträgers, aus dem sich ergibt, daß er die Frage der Versicherungspflicht oder der Versicherungsberechtigung geprüft und sie in bejahendem Sinne beantwortet hat. Das ist insbesondere dann anzunehmen, wenn dem Versicherungsträger ein unklares oder bestrittenes Rechtsverhältnis zur Prüfung vorgelegen hat (AN 1914, 685, 687; SozR 2200 § 1423 Nr 12). Ein schlüssiges Verhalten ist aber auch dann als Anerkenntnis zu werten, wenn der Versicherungsträger bei der Vorbereitung einer Entscheidung notwendigerweise die Wirksamkeit einer Beitragsleistung mit einem positiven Ergebnis geprüft haben mußte. Das trifft, wie bereits das frühere RVA entschieden hat (AN 1913, 406), insbesondere bei der Rentenbewilligung zu (anders bei der Ablehnung, vgl BSGE 11, 248). Beitragszeiten dürfen nämlich hierbei nur angerechnet werden, wenn die Beiträge wirksam entrichtet worden sind; sind bei der Rentenberechnung bestimmte Beitragszeiten berücksichtigt, so muß der Versicherungsträger geprüft haben, ob ein Recht zur Beitragsentrichtung bestanden hat, und dabei zu einem positiven Ergebnis gelangt sein. Deshalb liegt in den Bescheiden über die Hinterbliebenenrenten der Kläger das - wenn auch unrichtige - Anerkenntnis, daß die streitigen freiwilligen Beiträge beim Einkleben in die Versicherungskarten Nr 5 und 6 noch wirksam entrichtet werden durften. Insofern ist rechtlich keine wesentlich andere Sachlage gegeben, als sie dem vom RVA entschiedenen Fall zugrunde lag.

Die Rechtsprechung des früheren RVA ist entgegen der Auffassung des LSG nicht durch § 77 SGG und die daraus abgeleitete Rechtsprechung zur Bindungswirkung von Rentenbescheiden gegenstandslos geworden. § 77 SGG läßt zwar - aus wohlerwogenen Gründen - Entscheidungen über Vorfragen nicht an der Bindungswirkung des Entscheidungssatzes und darum die Berechnungsfaktoren nicht an der Bindungswirkung des Rentenbescheides teilnehmen. Das schließt jedoch nicht aus, daß der Gesetzgeber durch weitere Vorschriften die Möglichkeit schafft, auch über Vorfragen des Rentenbescheides bindend zu entscheiden. Eine solche Möglichkeit wurde durch § 145 Abs 3 Satz 2 AVG aF geboten und bis zum 31. Dezember 1980 beibehalten. Die Vorschrift hat eine eigene Bindungswirkung für Anerkenntnisse begründet, die (zusätzlich) neben die Bindungswirkung von Rentenbescheiden treten konnte. Daß nach ihr ausdrückliche Anerkenntnisbescheide ergehen konnten, läßt sich nicht ernstlich bezweifeln; wenn die Rechtsprechung auch die Möglichkeit eines konkludenten Anerkenntnisses bejaht hat, so hat sie damit nur einem am Zweck dieser Vorschrift orientierten Bedürfnis Rechnung getragen.

Die Beklagte hat das Anerkenntnis nicht zurückgenommen oder widerrufen; sie war dazu auch nicht befugt. Das Anerkenntnis beruht auf einer fehlerhaften Sachbehandlung durch die Beklagte, die nicht alles ihr Zumutbare unternommen hatte, um bei der Rentenfestsetzung zu einer zutreffenden Entscheidung zu gelangen. Nach einhelliger Rechtsprechung (vgl BSGE 30, 17; 49, 85; SozR 2200 § 1422 Nr 1; § 1423 Nr 12; SozR Nr 1 zu § 137 RKG) rechtfertigt ein fahrlässiger Irrtum des Versicherungsträgers eine Rücknahme oder einen Widerruf des Anerkenntnisses der Wirksamkeit bereits entrichteter Beiträge nicht.

Nach alledem war, wie in der Sache geschehen, zu erkennen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Da die Kläger nur in geringfügigem Maße unterlegen sind, waren in Anwendung von § 193 SGG die Kosten des Rechtsstreits insgesamt der Beklagten aufzuerlegen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661696

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