Entscheidungsstichwort (Thema)

Erstattung eines weiteren Gutachtens in der mündlichen Verhandlung nach Erläuterung des schriftlichen Gutachtens. Ablehnung des Vertagungsantrags. Verletzung rechtlichen Gehörs

 

Orientierungssatz

Hat der ärztliche Sachverständige im Termin zur mündlichen Verhandlung sein schriftliches Gutachten nicht lediglich nur erläutert, sondern aufgrund des im Termin zur mündlichen Verhandlung beschlossenen und verkündeten Beweisbeschlusses ein weiteres Gutachten zu den selben Beweisfragen wie im schriftlichen Gutachten erstattet, hat das Gericht auf Antrag den Termin zur mündlichen Verhandlung zu vertagen, um den Beteiligten Gelegenheit zu geben, zu den neuen Darlegungen des Sachverständigen Stellung nehmen zu können.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs 2 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 10.09.1980; Aktenzeichen III UBf 32/78)

SG Hamburg (Entscheidung vom 09.05.1978; Aktenzeichen 23 U 308/76)

 

Tatbestand

Der Kläger wurde am 6. Dezember 1974 auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte als Fußgänger von einem Pkw angefahren und anschließend wegen seiner Verletzungen bis zum 12. Dezember 1974 im Krankenhaus stationär behandelt. Durch Bescheid vom 23. Juni 1976 lehnte die Beklagte sowohl die Gewährung eines Übergangsgeldes über den 5. März 1975 hinaus als auch die Gewährung einer Verletztenrente ab, da die Arbeitsunfähigkeit seit dem 6. März 1975 auf einem unfallfremden psychischen Krankheitsbild nach Art eines depressiven Versagenszustandes beruhe und der Arbeitsunfall eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Maße über die 13. Woche hinaus nicht hinterlassen habe.

Die hiergegen erhobene Klage auf Gewährung von Übergangsgeld bis zur Beendigung unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit und auf anschließende Zahlung einer Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 50 vH hat das Sozialgericht (SG) Hamburg nach Beweiserhebung abgewiesen (Urteil vom 9. Mai 1978). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen der Unfallfolge "Organische Hirnleistungsschwäche mit psycho-reaktiver Fehlentwicklung" vom 10. April 1976 an eine Verletztenrente nach einer MdE um 50 vH zu zahlen (Urteil vom 10. September 1980). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Die im gerichtlichen Verfahren vernommenen ärztlichen Sachverständigen Prof. Dr. S., Dr. Ha., Dr. W. und Dr. Hu. hätten übereinstimmend, wenn auch mit unterschiedlicher Begründung, eine unfallbedingte organische Hirnleistungsschwäche angenommen. Selbst wenn zugunsten der Beklagten davon auszugehen sei, daß der Unfall nicht zu einer Hirnquetschung geführt habe, sei eine organische Hirnleistungsschwäche nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. Hu. jedenfalls durch eine unfallbedingte Gehirnerschütterung verursacht worden. Da psycho-reaktive Störungen aufgrund einer Gehirnerschütterung auftreten könnten, habe das LSG es auch für billigenswert gefunden, die nach dem Unfall aufgetretenen psychisch-reaktiven Folgen als unfallbedingte Gesundheitsstörungen mitzuberücksichtigen. Gestützt auf die Darlegungen von Dr. Hu. erscheine dies gerechtfertigt, weil die Ermittlungen keinen begründeten Hinweis auf eine vor dem Unfall bereits zutagegetretene krankheitswertige psychische Störung des Klägers ergeben hätte und somit angenommen werden dürfe, daß die Fähigkeit des Klägers zur Kompensation des Unfallgeschehens auch durch den Arbeitsunfall gemindert worden sei. Entsprechend den Darlegungen von Dr. Hu. sei daher die MdE mit 50 vH insgesamt einzuschätzen. Durch den Antrag der Beklagten auf Vertagung der mündlichen Verhandlung sei das Gericht nicht an einer Entscheidung zuungunsten der Beklagten gehindert gewesen. Der Sachverständige Dr. Hu. habe zwar in der mündlichen Verhandlung abweichend von seinem schriftlich erstatteten Gutachten vom 24. Januar 1980 psychisch-reaktive Folgen als durch den Arbeitsunfall mitbewirkt bezeichnet. Seine Darlegungen hielten sich aber im Rahmen der Beweisfragen, zu denen er sich gutachtlich schriftlich geäußert habe und im Termin erläuternd habe Stellung nehmen sollen.

Das LSG hat die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und macht geltend, das LSG habe unter Verstoß gegen seine Amtsermittlungspflicht und unter Überschreitung des Rechts auf freie Beweiswürdigung in der Sache falsch entschieden und ihren Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, daß es dem begründeten Antrag ihres Vertreters auf Vertagung der mündlichen Verhandlung vom 30. September 1980 nicht stattgegeben habe, obwohl der Sachverständige Dr. Hu. in dieser Verhandlung sein schriftliches Gutachten nicht nur erläutert habe, sondern überraschend zu einem anderen - für sie ungünstigen - Ergebnis gelangt sei.

Sie beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung

des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zu erneuten Verhandlung und Entscheidung

an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision     der Beklagten ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Die Beklagte rügt zutreffend, das Verfahren des Berufungsgerichts leide an einem wesentlichen Mangel. Das LSG hat nach der Lage des Falles dadurch, daß es dem begründeten Vertagungsantrag der Beklagten nicht stattgegeben, sondern nach der Vernehmung des ärztlichen Sachverständigen Privatdozent Dr. Hu. in der mündlichen Verhandlung vom 10. September 1980 ein der Beklagten ungünstiges Urteil verkündet hat, den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt (§ 62 iVm § 128 Abs 2 SGG).

Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren (§ 62 SGG). Zur Gewährleistung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist in § 128 Abs 2 SGG vorgeschrieben, daß das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Die hiernach den Beteiligten vom Gericht zu bietende Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen erfordert es, daß hierfür eine angemessene Zeit eingeräumt wird (BSGE 11, 165, 166). Welche Zeit den Beteiligten zu geben ist, um den Anspruch auf rechtliches Gehör noch als gewahrt ansehen zu können, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Art und dem Umfang der neu zutagegetretenen Tatsachen (s BSG SozR Nr 11 zu § 62 SGG; Beschluß vom 29. September 1958 - 9 RV 94/55 -). Davon hängt es auch ab, ob das Gericht die Sache zur Gewährung des rechtlichen Gehörs vertagen muß.

Im vorliegenden Fall hat das LSG, wie es den Beteiligten in der Mitteilung des Termins zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme bekanntgegeben hat, Dr. Hu. als Sachverständigen zur "Erläuterung" seines schriftlichen Gutachtens vom 24. Januar 1980 geladen. Die gerichtliche Anordnung, daß der Sachverständige ein schriftlich erstattetes Gutachten erläutern soll (§ 118 Abs 1 SGG iVm § 411 Abs 3 der Zivilprozeßordnung -ZPO-), dient dem Recht der Beteiligten, dem Sachverständigen zu dem von ihm schriftlich erstatteten Gutachten diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlich sind (§§ 116 Satz 2, 118 Abs 1 SGG iVm §§ 397, 402 ZPO; s BSG SozR Nr 160 zu § 162 SGG). Dr. Hu. hat jedoch in der mündlichen Verhandlung vom 10. September 1980 sein schriftliches Gutachten nicht lediglich erläutert, womit die Beteiligten nach der Terminsmitteilung rechnen mußten, sondern aufgrund des im Termin beschlossenen und verkündeten Beweisbeschlusses ein weiteres Gutachten zu denselben Beweisfragen wie im schriftlichen Gutachten erstattet. Das LSG ist (s S 7 des Urteils) davon ausgegangen, daß Dr. Hu. in seinem mündlich erstatteten Gutachten abweichend von seiner vorher schriftlich geäußerten Auffassung auch psychisch-reaktive Folgen als durch den Arbeitsunfall mitbewirkt bezeichnet hat. Nach der Sitzungsniederschrift, die in Kurzschrift aufgenommen und den Beteiligten mit deren Einverständnis nicht vorgelesen worden ist (s § 122 SGG iVm § 162 Abs 2 ZPO), hat Dr. Hu. allerdings nach einem Hinweis auf die Schwierigkeit der Bewertung psycho-reaktiver Folgen als Unfallfolge ausgesagt, daß eine "vollständige" Berücksichtigung solcher Folgen aus nervenärztlicher Sicht nicht recht verständlich erscheine. Andererseits können die voraufgehenden Äußerungen Zweifel daran aufkommen lassen, ob Dr. Hu. einen ursächlichen Zusammenhang der psycho-reaktiven Fehlhaltung des Klägers und dem Unfall hat bejahen wollen oder nur unterstellt hat. Er hat insoweit ua erklärt, "wenn" man die psycho-reaktiven Folgen, die sich im Anschluß an den Verkehrsunfall beim Kläger zeigen, als Unfallfolge berücksichtigen wolle, so müsse man die MdE auf mindestens 50 vH, eher aber wohl 60 bis 70 vH einschätzen. In seinem ausführlich begründeten schriftlichen Gutachten hat er demgegenüber als Folge einer unfallbedingten Gehirnerschütterung eine MdE von "kaum mehr als 20 vH, allenfalls 30 vH" angenommen. Bei seiner Vernehmung hat er darüber hinaus ausgeführt, der Medikamentenmißbrauch des Klägers könne als eine Folgeerscheinung der unfallbedingten Kopfschmerzen angesehen werden. Schließlich hat er auf Vorhalt des Vertreters der Beklagten erklärt, es sei eine überholte medizinische Vorstellung, daß eine Gehirnerschütterung stets leichter als eine Gehirnquetschung sei und ihre Folgen regelmäßig nach zwei Jahren abgeklungen seien.

Unter diesen Umständen hätte das LSG, da es die mündlichen Aussagen des Sachverständigen Dr. Hu. in seinem Urteil verwerten wollte, dem Antrag des Vertreters der Beklagten auf Vertagung stattgeben müssen. Zutreffend hatte der Sitzungsvertreter der Beklagten in seinem Vertagungsantrag ua geltend gemacht, die Beklagte müsse Gelegenheit haben, zu den neuen Darlegungen des Sachverständigen Stellung zu nehmen. Von dem medizinisch nicht gebildeten Vertreter der Beklagten konnte nicht der Vortrag speziellen medizinischen Fachwissens erwartet werden, der hier nach Lage des Falles aus der Sicht der Beklagten erforderlich gewesen wäre, um eine für sie ungünstige Entscheidung zu vermeiden. Andererseits mußte die Beklagte nicht damit rechnen, daß Dr. Hu. aufgrund eines neuen Beweisbeschlusses ein weiteres - nach der Auffassung des LSG sogar abweichenden - Gutachten erstatten würde, da zunächst nur die Erläuterung des schriftlich erstatteten Gutachtens angeordnet worden war. Schon deshalb ist der Auffassung des LSG nicht zu folgen, eine Vertagung sei entbehrlich gewesen, weil die Beklagte in der mündlichen Verhandlung mit einem beratenden Arzt als Beistand hätte erscheinen können. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob und unter welchen Umständen es einem Beteiligten allgemein zuzumuten ist, zur Wahrnehmung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör bei der Vernehmung ärztlicher Sachverständiger in der mündlichen Verhandlung mit einem entsprechend wissenschaftlich gebildeten Beistand aufzutreten. Hier hätte das LSG nach Vertagung der Verhandlung und Übersendung der Niederschrift über die Aussagen des Sachverständigen der Beklagten eine angemessene Frist zur Äußerung einräumen müssen. Das rechtliche Gehör der Beklagten ist verletzt; darin liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens, auf dem die Entscheidung des LSG beruhen kann, dessen Heilung jedoch in der Revisionsinstanz nicht möglich ist (s ua Meyer-Ladewig, SGG, § 62 RdNr 11 mwN).

Das Urteil des LSG ist danach aufzuheben und die Sache auf den Hilfsantrag der Beklagten zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das LSG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666392

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