Entscheidungsstichwort (Thema)

Entsprach ein Bescheid über eine Dauerleistung zwar der ständigen Rechtsprechung des BSG zum Zeitpunkt seines Erlasses, nicht jedoch der für den Bezieher günstigeren Rechtsprechung zum Zeitpunkt seiner Überprüfung, liegt kein Fall des § 48 Abs. 2, sondern ein solcher des § 44 Abs. 1 vor

 

Beteiligte

Klägerin und Revisionsbeklagte

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob die Witwe eines Versicherten nach dessen Tod die Korrektur einer ihm mit bindendem Bescheid zu niedrig gewährten Rente verlangen kann.

Dem 1979 verstorbenen Ehemann der Klägerin hatte die Beklagte mit Bescheid vom 14. Oktober 1966 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt. Sie hatte die Rente nach den vor Inkrafttreten des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) - 1. Juli 1965 - geltenden Vorschriften berechnet, dabei eine Überprüfung nach den neuen gesetzlichen Vorschriften angekündigt und dem Versicherten schließlich durch Bescheid vom 8. Dezember 1966 mitgeteilt, daß seine Rente nicht von den neuen Vorschriften berührt werde. Bei Feststellung der Hinterbliebenenrente der Klägerin berücksichtigte die Beklagte eine bei Berechnung der Versichertenrente nicht angerechnete Zurechnungszeit von 108 Kalendermonaten nach dem RVÄndG 1965.

Im April 1980 beantragte die Klägerin die Neufeststellung der Rente ihres verstorbenen Ehemannes unter Berücksichtigung der Zurechnungszeit von 108 Kalendermonaten. Die Beklagte lehnte dies durch Bescheid vom 2. Dezember 1980 mit der Begründung ab, § 59 Satz 2 des Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuches (SGB I) stehe der Neufeststellung der Versichertenrente nach dem Tode des Versicherten entgegen, weil ein Verwaltungsverfahren über die Feststellung der Versichertenrente im Zeitpunkt des Todes des Versicherten nicht anhängig gewesen sei. Die Widerspruchsstelle der Beklagten leitete den Widerspruch der Klägerin dem Sozialgericht (SG) als Klage zu.

Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 26. September 1983 verpflichtet, die Versichertenrente des Ehemannes der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu berechnen. Die zugelassene Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 5. April 1984 zurückgewiesen: Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bedeute die von § 44 Abs. 1 Satz 1 des 10. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) vorgeschriebene Rückwirkung der Berichtigung eines Verwaltungsaktes auf den Zeitpunkt seines Erlasses, daß das Verwaltungsverfahren bei einem Antrag des Rechtsnachfolgers des Versicherten auf Berichtigung eines dem Versicherten gegenüber ergangenen und bindend gewordenen Verwaltungsakts als im Zeitpunkt des Todes des Versicherten anhängig im Sinne von § 59 SGB I anzusehen sei.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 59 SGB I. Sie ist der Auffassung, das in § 59 SGB I festgelegte Erlöschen der Ansprüche des Versicherten auf Geldleistungen werde nicht durch die in § 44 SGB X vorgesehene Rückwirkung beseitigt. Nach dem Tode des Versicherten könne daher ein ihn rechtswidrig benachteiligender Bescheid auf Antrag der Hinterbliebenen nicht mehr korrigiert werden. Dafür spreche auch, daß dem Versicherungsträgern andernfalls die Erhebung der Einrede der Verjährung unmöglich gemacht werde.

Die Beklagte beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Klage gegen den Bescheid vom 2. Dezember 1980 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Der Senat hat beschlossen, nach Aktenlage zu entscheiden, da die Voraussetzungen des § 126 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erfüllt sind.

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen. Zu Recht haben die Vorinstanzen die Beklagte für verpflichtet erachtet, die Versichertenrente des Ehemannes der Klägerin neu festzustellen.

In der gegen die Ablehnung der Neufeststellung der Rente des Versicherten erhobenen Klage handelt es sich um eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Die Klägerin begehrt die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 2. Dezember 1980 und deren Verpflichtung zu der in diesem Bescheid abgelehnten Neufeststellung der Versichertenrente (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG). Rechtsgrundlage der von der Klägerin begehrten Neufeststellung der Versichertenrente ist § 44 SGB X. Diese Vorschrift ist gemäß Art II § 40 Abs. 2 SGB X erstmals anzuwenden, wenn der aufzuhebende Verwaltungsakt - hier der Bescheid vom 14. Oktober 1966 mit der Ergänzung durch den Bescheid vom 8. Dezember 1966 - vor dem 1. Januar 1981 erlassen worden ist. Art 2 § 40 Abs. 2 Satz 3 SGB X greift hier nicht ein, weil die Bestandskraft des genannten Rentenbescheides und des ergänzenden Bescheides nach damals geltenden Recht (vgl. § 1300 Reichsversicherungsordnung - RVO - a.F.) der Neufeststellung zu Gunsten des Versicherten nicht entgegenstand. Soweit dieser Beurteilung die Entscheidung des 5a Senats des BSG vom 25. Februar 1981 (BSGE 51, 209 = SozR 2200 § 627 RVO Nr. 8) entgegensteht, hat dieser seine dort vertretene Rechtsauffassung im Anschluß an die Entscheidung des Großen Senats des BSG vom 15. Februar 1982 (BSGE 54, 223 = SozR 1300 § 44 SGB X Nr. 3) im Urteil vom 20. April 1983 (BSGE 55, 87, 88 SozR a.a.O. Nr. 4) aufgegeben.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist die Beklagte, soweit sie bei Erlaß des Rentenbescheides vom 14. Oktober 1966 und des ergänzenden Bescheides vom 8. Dezember 1966 das Recht unrichtig angewandt und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht hat, trotz Unanfechtbarkeit dieser Bescheide verpflichtet, sie mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Die Voraussetzungen dieser Bestimmung treffen zu. Die Beklagte räumt ein, daß der Rentenbescheid vom 14. Oktober 1966 nicht unter Berücksichtigung des RVÄndG erstellt worden ist. Sie räumt weiter ein, daß für den Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit des Ehemannes der Klägerin die in bezug auf die Halbdeckung dem Versicherten günstigere Bestimmung des § 1260 Abs. 1 Satz 3 i.d.F. des Art 1 § 1 Nr. 23 des RVÄndG galt und diese Vorschrift zur Anrechnung einer Zurechnungszeit von 108 Kalendermonaten führen mußte. Deshalb ist bei Erlaß des genannten Bescheides das Recht unrichtig angewandt und insoweit sind Sozialleistungen i.S. des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu Unrecht nicht erbracht worden. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut dieser Vorschrift hat dies zu Folge, daß die Beklagte den Verwaltungsakt der Rentenfeststellung mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknehmen muß, obwohl er unanfechtbar geworden ist. Nach Abs. 4 der Vorschrift ist die Erbringung der bislang zu Unrecht nicht erbrachten Sozialleistungen allerdings auf einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme beschränkt. Dabei wird bei einer Rücknahme auf Antrag nach den Sätzen 2 und 3 der Bestimmung der Zeitraum von 4 Jahren vom Beginn des Jahres an zurückgerechnet, in dem der Rücknahmeantrag gestellt worden ist. Da dies hier im April 1980 geschehen ist, muß die Beklagte die Versichertenrente für die Zeit ab 1. Januar 1976 unter Berücksichtigung der Zurechnungszeit des § 1260 Abs. 1 RVO neu feststellen.

Die Beklagte ist ihrer aus § 44 SGB X folgenden Verpflichtung zur Rücknahme des rechtswidrigen Rentenbescheides und zur Neufeststellung in dem vorstehend bezeichneten Umfang nicht durch § 59 SGB I enthoben. Nach dieser Bestimmung erlöschen Ansprüche auf Geldleistungen - anders als Ansprüche auf Dienst- und Sachleistungen - mit dem Tode nur, wenn sie im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten weder festgestellt sind noch ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig ist. Während bei den Ansprüchen auf Dienst- und Sachleistungen das Erlöschen mit dem Tode des Berechtigten ausnahmslos eintritt, erlöschen Ansprüche auf Geldleistungen nur ausnahmsweise, nämlich nur dann, wenn sie im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten noch nicht einmal verwaltungsmäßig anhängig gemacht waren. Daraus wird der für Geldleistungen maßgebliche Grundsatz erkennbar, daß sie mit dem Tode des Berechtigten regelmäßig nicht, sondern nur ausnahmsweise dann erlöschen sollen, wenn sie noch nicht einmal beim Leistungsverpflichteten anhängig gemacht worden sind. Diese Grundsatzregelung in Verbindung mit der Regelung über die Rücknahme rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte verbietet den von der Beklagten gezogenen Schluß, daß die Rechtsnachfolger des Versicherten Korrekturen der ihm bindend bewilligten Rente nach seinem Tode nicht mehr fordern können. Es ist nämlich kein sachlicher Grund dafür erkennbar, den in bezug auf die Ansprüche des Versicherten gegenüber dem Versicherungsträger geltenden Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit bei Verstößen des Versicherungsträgers hiergegen den sozialrechtlichen Sonderrechtsnachfolgern gegenüber nicht zur Anwendung zu bringen. Denn diesen Rechtsnachfolgern kann eine Versäumnis in Bezug auf den Neufeststellungsantrag jedenfalls nicht in höherem Maße rechtsnachteilig angelastet werden, als dem Versicherten selbst.

§ 44 Abs. 1 SGB X macht im übrigen die Verpflichtung des Versicherungsträgers zur Rücknahme rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte weder von einem Antrag des Versicherten noch von einem Antrag seiner Sonderrechtsnachfolger abhängig. Es handelt sich vielmehr um eine gesetzliche Verpflichtung der Leistungsträger, die nur dann nicht eingreift, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Hätte der Gesetzgeber auch den Tod des Berechtigten zum Anlaß nehmen wollen, die Rücknahme ihm gegenüber ergangener rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte auszuschließen, so hätte es auch insoweit einer Einschränkung der den Trägern der Sozialleistungen obliegenden Verpflichtung zur Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte bedurft. Da § 44 Abs. 1 SGB X eine solche Einschränkung nicht enthält, ist der Versicherungsträger auch nach dem Tode des Berechtigten verpflichtet, den rechtswidrigen Bescheid über die Feststellung der Rente des inzwischen verstorbenen Versicherten mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Im Hinblick auf diese Rückwirkung muß davon ausgegangen werden, daß ein Verwaltungsverfahren im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten i.S. des § 59 Satz 2 SGB I anhängig ist. Ein Antrag der Rechtsnachfolger des Versicherten kann sich nur im Rahmen des § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X auswirken; er ist aber weder Voraussetzung für die Rücknahme der rechtswidrigen Regelung noch für die Erbringung der zu Unrecht nicht erbrachten Sozialleistungen in dem Zeitraum bis zu 4 Jahren vor der Rücknahme.

Der Senat hält aus diesen Gründen an der bisherigen Rechtsprechung des BSG zum Verhältnis des § 44 SGB X zu § 59 SGB I fest, mit der der 1. Senat (vgl. BSGE 55, 220 = SozR 1200 § 59 Nr. 4 und SozR 1200 § 59 Nr. 5) die noch unter der Geltung der am 1. Januar 1981 außer Kraft getretenen §§ 627, 1300 der RVO entwickelte Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Neufeststellung der dem Versicherten zustehenden Leistung nach dessen Tod zugunsten der Rechtsnachfolger (vgl. BSGE 51, 209 = SozR 2200 § 627 Nr. 8 m.w.N.) fortgesetzt hat. Der Hinweis der Beklagten, bei dieser rechtlichen Beurteilung werde der Verwaltung die Einrede der Verjährung unmöglich gemacht, vermag schon deswegen nicht zu überzeugen, weil § 44 Abs. 4 SGB X die Erhebung der Einrede der Verjährung ersetzt und die Versicherungsträger der Entscheidung darüber enthebt, ob sie diese Einrede erheben wollen oder nicht.

Der zitierten bisherigen Rechtsprechung des BSG steht das Urteil des 11. Senats vom 25. Oktober 1984 (11 RA 18/84) nicht entgegen. Dort handelte es sich - anders als im vorliegenden Fall -nicht um die Korrektur einer dem Versicherten in zu niedriger Höhe gewährten Rente, sondern darum, daß die Umwandlung einer dem Versicherten - in richtiger Höhe - gewährten BU-Rente in die Leistung des Altersruhegeldes unterblieben war. Insoweit kann die Bestimmung über die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 44 SGB X nicht zur Anwendung kommen, wovon auch der 11. Senat in der genannten Entscheidung ausgeht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.5b RJ 56/84

Bundessozialgericht

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518489

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