Beteiligte

…, Kläger und Revisionsbeklagter

…, Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I.

Die Ehefrau des Klägers ist im Januar 1985 verstorben. Seinen Antrag auf Witwerrente lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 18. Juli 1985 mit der Begründung ab, die versicherte Ehefrau habe den Unterhalt ihrer Familie während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor ihrem Tode nicht überwiegend bestritten. Sie habe durch Arbeitseinkommen und den Wert der Haushaltsführung und Kindererziehung 18.551,21 DM zum Unterhalt der Familie beigesteuert, während der Kläger 28.034,70 DM dazu beigetragen habe. Wegen der zusätzlich gewährten Sozialhilfe von 8.777,67 DM habe der Unterhaltsbedarf der Familie insgesamt 55.363,58 DM betragen. Der für die Versicherte ermittelte Beitrag zum Familienunterhalt habe unter der Hälfte dieses Betrages gelegen.

Den Widerspruch des Klägers hat die Beklagte mit seinem Einverständnis gemäß § 85 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) dem Sozialgericht (SG) als Klage zugeleitet. Dieses hat die Beklagte am 15. Dezember 1986 unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, dem Kläger Witwerrente gemäß § 1264 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetzes (HEZG) vom 11. Juli 1985 - BGBl I S 1450 - (= RVO nF) zu gewähren. Das SG hat ausgeführt, Art 2 § 18 Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) idF des HEZG sei verfassungswidrig, soweit die Geltung des § 1264 Abs 2 RVO nF auf Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1985 beschränkt werde. Das Bundesverfassungsgericht habe nämlich dem Gesetzgeber in Leitsatz 3 seines Urteils vom 12. März 1975 (BVerfGE 39, 169 = SozR 2200 § 1266 Nr 2) den Auftrag gegeben, sich um eine Regelung der Witwerrente zu bemühen, die einen Verstoß gegen Art 3 Abs 2 und 3 des Grundgesetzes (GG) für die weitere Zukunft ausschließe. Dieser Verfassungsauftrag sei in den Entscheidungsgründen dahin konkretisiert, daß die Neuregelung bis zum Ende der übernächsten Legislaturperiode in Kraft gesetzt werden müßte, dh bis zum Ende des Jahres 1984. Aus der Verfassungswidrigkeit des § 1266 RVO in der vor Inkrafttreten des HEZG geltenden Fassung (= RVO aF) und der - verspäteten - Inkraftsetzung des § 1264 Abs 2 RVO nF für Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1985 ergebe sich für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 1985 eine Regelungslücke, die durch verfassungskonforme Anwendung des § 1264 Abs 2 RVO nF auf das Jahr 1985 geschlossen werden müsse, zumal die Gerichte in Berlin an einer Vorlage gemäß Art 100 Abs 1 GG gehindert seien.

Mit der zugelassenen und mit Zustimmung des Klägers eingelegten Sprungrevision rügt die Beklagte sinngemäß die Nichtanwendung des § 1266 RVO aF, die Anwendung des § 1264 Abs 2 RVO nF sowie die Verletzung des Art 2 § 18 Abs 2 und 3 ArVNG idF des HEZG.

Sie beantragt,die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils abzuweisen.

Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das SG begründet. Ein Anspruch des Klägers auf Witwerrente nach § 1264 Abs 2 RVO nF besteht nicht, da Art 2 § 18 Abs 2 ArVNG idF des HEZG nicht verfassungswidrig ist. Ob der Kläger nach § 1266 RVO aF Anspruch auf Witwerrente hat, vermag der Senat mangels der hierzu erforderlichen Feststellungen des SG nicht zu entscheiden.

Nach Art 2 § 18 Abs 2 ArVNG gilt § 1264 Abs 2 RVO nur, wenn der Tod der Versicherten nach dem 31. Dezember 1985 eingetreten ist. Die Ehefrau des Klägers ist jedoch bereits im Januar 1985 verstorben. Der Anspruch des Klägers auf Witwerrente richtet sich daher nach § 1266 RVO aF und ist mithin von der Feststellung abhängig, daß die Versicherte den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat. Feststellungen hierzu hat das SG von seinem materiell-rechtlichen Standpunkt aus nicht zu treffen brauchen und auch nicht getroffen. Es hat nämlich die Feststellungen der Beklagten hierzu nur referiert, ohne das darauf bezügliche Vorbringen des Klägers einer Würdigung mit dem Ergebnis eigener Feststellungen zu unterziehen.

Der Auffassung des SG, im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 1975 aaO sei es ein Verstoß gegen Art 3 Abs 2 und 3 GG, § 1264 Abs 2 RVO nF nicht auf die im Jahre 1985 eingetretenen Versicherungsfälle anzuwenden, vermag der Senat nicht zu folgen.

Verfassungsaufträge an den Gesetzgeber können sich aus einer in der Verfassung selbst vorgeschriebenen und befristeten Regelungsverpflichtung (vgl hierzu Art 117 Abs 1 GG), ebenso aber auch daraus ergeben, daß die Verwirklichung festgeschriebener Verfassungsgrundsätze den Gesetzgeber zum Handeln in angemessener Zeit verpflichtet. Um den Fall einer von der Verfassung selbst zeitlich festgelegten Verpflichtung handelt es sich hier nicht. Es geht dem Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 12. März 1975 vielmehr um die Anpassung der Regelung des Anspruchs auf Witwerrente an künftige Änderungen der gesellschaftlichen Struktur. Dabei ist davon auszugehen, daß § 1266 RVO aF nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 1963 (BVerfGE 17, 1) mit dem Grundgesetz vereinbar war und es auch nach seinem Urteil vom 12. März 1975 noch blieb. Letzteres betrifft somit auch nicht einen in der Verfassung ausdrücklich enthaltenen aber nicht befristeten Regelungsauftrag, den der Gesetzgeber - wie beispielsweise nach Art 6 Abs 5 GG - zu erfüllen hatte. Seine Verpflichtung zur Neuregelung des Hinterbliebenenrentenrechts ist vom Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 12. März 1975 vielmehr nur aus dem sich als Trend für die Zukunft abzeichnenden Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse in bezug auf die Erwerbstätigkeit von Ehefrauen hergeleitet worden, der - ohne Tätigwerden des Gesetzgebers - womöglich eine Verletzung des Gleichheitssatzes zur Folge habe.

Die Nichterfüllung eines in der Verfassung befristeten Gesetzgebungsauftrages, ebenso aber auch die Nichterfüllung eines unbefristeten Verfassungsauftrages innerhalb angemessener Zeit führt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu, daß nach Ablauf dieser Frist der Wille der Verfassung soweit wie möglich von der Rechtsprechung zu verwirklichen ist. Die Verfassungsnorm erlangt dann derogierende Kraft gegenüber entgegenstehendem einfachen Recht (so BVerfGE 3, 225; 25, 167). In beiden Fällen steht die Unvereinbarkeit des geltenden einfachen Rechts mit der Verfassung bereits fest, wobei nur im Falle des unbefristeten Verfassungsauftrages die angemessene Frist, in der das einfache Recht der Verfassung angeglichen werden muß, noch aus den Maßstäben der Verfassung und den sich in der Sache ergebenden Schwierigkeiten entnommen werden muß.

Im Gegensatz dazu ist § 1266 RVO aF vom Bundesverfassungsgericht weder im Urteil vom 24. Juli 1963 noch im Urteil vom 12. März 1975 für verfassungswidrig erklärt worden. Letzteres Urteil schließt allerdings aus der gestiegenen Erwerbsquote der verheirateten Frauen von 7,5% im Jahre 1950 auf rund 30% im Jahre 1973 auf einen Entwicklungstrend, dessen Verlauf nicht vorhersehbar sei, bei dessen Fortdauer aber die bislang verwendete typisierende Betrachtungsweise des im Vergleich zu den Witwern regelmäßig höheren Unterhaltsbedarfs der Witwen nicht mehr gebilligt werden könne. Angesichts der bei sämtlichen Möglichkeiten einer Neuregelung bestehenden Schwierigkeiten müsse der Gesetzgeber, der sich nach der früheren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf die Verfassungsmäßigkeit der Norm habe einstellen dürfen, zur Lösung dieser ungewöhnlich schweren Reformaufgabe hinreichend Zeit und die Befugnis haben, sich solange noch mit Typisierungen und Generalisierungen zu behelfen. Verfassungsrechtlich zu beanstanden wäre es allerdings, wenn er sich in Zukunft nicht intensiv um eine Lösung bemühen würde, um die sich in Richtung auf die Verfassungswidrigkeit hin bewegenden Wirkungen der gegenwärtigen Regelung aufzufangen. Daraus hat das Bundesverfassungsgericht den Verfassungsauftrag für den Gesetzgeber abgeleitet, eine Neuregelung vorzusehen, die "bis zum Ende der übernächsten Legislaturperiode in Kraft gesetzt werden müßte".

Die Verfassungswidrigkeit des § 1266 RVO aF und damit eine etwaige derogierende Wirkung des Art 3 GG hängt somit nicht allein vom Ablauf des angegebenen Zeitraums, sondern auch von der wesentlichen Zunahme der Erwerbsquote der verheirateten Frauen gegenüber dem Stand von 1973 sowie davon ab, daß sich der Gesetzgeber nicht intensiv um eine Lösung der Reformaufgabe bemüht hat. Feststellungen zu diesen Voraussetzungen hat das SG nicht getroffen; sie sind auch dem erkennenden Senat nicht evident. Deshalb kann dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 1975 neben der Verpflichtung des Gesetzgebers, sich um eine sachgerechte Lösung zu bemühen, nur die Prognose entnommen werden, dies sollte innerhalb einer - in regelmäßig verlaufenden Legislaturperioden ausgedrückten - Zeit von etwa 10 Jahren erreichbar sein. Wie bereits die dabei vom BVerfG verwendete - und oben zitierte - Formulierung im Konjunktiv zeigt, kann daraus eine Einengung des zeitlichen Planungsspielraums des Gesetzgebers im strikten Sinne der danach eintretenden Derogationswirkung nicht hergeleitet werden. Das gilt umsomehr, als die bedingte Fristsetzung in den Urteilsgründen des Bundesverfassungsgerichts naturgemäß lediglich unter Berücksichtigung der voraussehbaren "umfangreichen und zeitraubenden Vorarbeiten" erfolgen konnte, nicht aber unter Berücksichtigung der durch den unvorhersehbaren Regierungswechsel im Jahre 1982 zwangsläufig eingetretenen Verzögerung. Damit im Einklang hat bereits die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts aus der geringfügigen Überschreitung des im Urteil vom 12. März 1975 genannten Zeitpunkts für den Erlaß der Neuregelung keine verfassungsrechtlichen Bedenken hergeleitet (vgl Beschluß vom 27. März 1987 - 1 BvR 1284/86 -). Ein schwerwiegendes Versäumnis des Gesetzgebers, wie es zur Auslösung der derogierenden Wirkung erforderlich wäre, liegt nach alledem nicht vor.

Selbst wenn man aber dem Gesetzgeber mit Rücksicht auf den Regierungswechsel eine Verlängerung der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Neuregelungsfrist nicht zugestehen wollte, mußte es doch seinem Ermessen überlassen bleiben, von welchem Zeitpunkt an er die Neuregelung unter Berücksichtigung aller von ihm zu beachtenden Umstände, insbesondere der Haushaltslage, in Kraft setzt. Insoweit enthält das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 1975 jedenfalls keine Befristung und es ist auch nicht ersichtlich, daß der Gesetzgeber bei der Bestimmung des zeitlichen Geltungsbereichs seiner Neuregelung der Witwerrente verfassungswidrig gehandelt hat. In diesem Sinne hat auch bereits die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in ihrem Beschluß vom 27. März 1987 aaO entschieden. Danach ist eine willkürliche Ausklammerung der vor dem 1. Januar 1986 liegenden Versicherungsfälle jedenfalls nicht ersichtlich. Die Regelung des Art 2 § 18 Abs 2 ArVNG idF des HZEG hält sich sonach im Rahmen der dem Gesetzgeber zuzugestehenden Gestaltungsfreiheit, die nicht zuletzt auch davon bestimmt wird, den von der Neuregelung berührten Personen und Institutionen die Einstellung darauf zu ermöglichen.

Für die Entscheidung des Rechtsstreits wird es nunmehr darauf ankommen, festzustellen, ob die Ehefrau des Klägers in dem dem Versicherungsfall vorangegangenen maßgeblichen wirtschaftlichen Dauerzustand den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat. Dabei ist eine Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz als Unterhalt Dritter zum Gesamtunterhalt der Familie zu rechnen (BSGE 31, 90 = SozR Nr 7 zu § 1266 RVO). Ferner wird dem Vorbringen des Klägers nachzugehen sein, daß die Versicherte einen höheren Anteil an der Haushaltsführung und Kindererziehung gehabt habe, als die Beklagte angenommen habe. Erst wenn feststeht, wie dieser Betrag wertmäßig als Beitrag zur Haushaltsführung und Kindererziehung anzusetzen ist, kann entschieden werden, ob die Versicherte den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten und der Kläger deshalb Anspruch auf Witwerrente hat.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 518031

BSGE, 163

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