Leitsatz (amtlich)

Um eine "Nachzahlung für zurückliegende Zeiten" (FAG SV § 17 Abs 1 S 3) handelt es sich auch bei einer Heiratsabfindung (RVO § 588 Abs 2 aF), die von dem bis zum 1945-05-08 zuständig gewesenen Unfallversicherungsträger wegen des Zusammenbruchs nicht mehr ausgezahlt werden konnte.

 

Normenkette

SVFAG § 17 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1953-08-07; RVO § 588 Abs. 2 Fassung: 1925-07-14

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 23. Juni 1960 und des Sozialgerichts Berlin vom 22. Januar 1959 werden aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin war in erster Ehe mit dem Flugzeugführer Helmuth ... in Berlin verheiratet, der als Zivilangestellter beim Reichsluftfahrtministerium beschäftigt war und am 18. April 1940 in Ausübung seines Dienstes tödlich verunglückte. Die Klägerin und ihr Sohn erhielten Hinterbliebenenrente von der Reichsausführungsbehörde für Unfallversicherung ( RAfU ). Auf Anfrage erhielt die Klägerin von der RAfU im Januar 1945 die Auskunft, daß ihr bei Wiederverheiratung gemäß § 588 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF eine Abfindung im Betrage von 4.320,- RM zustehe. Die Klägerin schloß sodann im März 1945 ihre zweite Ehe und beantragte zugleich die Gewährung der Abfindung; der Antrag wurde jedoch von der RAfU wegen des Zusammenbruchs nicht mehr erledigt. Die Versicherungsanstalt Berlin (VAB) zahlte die Waisenrente für den Sohn der Klägerin weiter, lehnte jedoch im November 1946, Februar 1947 und Januar 1952 Anträge der Klägerin auf Gewährung der Heiratsabfindung ab.

Solche Anträge stellte die Klägerin auch bei der Beklagten, nachdem diese für die Bearbeitung zuständig geworden war. Die Beklagte lehnte diese Anträge mit formlosen Schreiben vom 10. Dezember 1952 und 13. Februar 1958 sowie schließlich mit Bescheid vom 26. März 1958 ab; in diesem Bescheid führte die Beklagte aus, auf Grund des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7. August 1953 (FAG) könnten Ansprüche erst vom 1. April 1952 an anerkannt werden, im übrigen fehlten für eine Befriedigung von Ansprüchen aus der Zeit vor der Kapitulation die gesetzlichen Voraussetzungen.

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat durch Urteil vom 22. Januar 1959 den mit der Klage angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die beantragte Abfindung zu zahlen: Nach § 2 der Verordnung zur Überführung der Ausführungsbehörde für UV in der britischen Zone vom 14. März 1951 (BGBl I 190 - ÜberführungsVO ) sei die Beklagte als Rechtsnachfolgerin der RAfU anzusehen. Das FAG finde hier keine Anwendung, weil es nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 nur für nicht mehr bestehende, stillgelegte oder außerhalb des Bundesgebietes befindliche Versicherungsträger gelte, also für Fälle, in denen niemand mehr für die Erledigung der alten Aufgaben zuständig sei. Maßgebend sei demnach der Untergang des Versicherungsträgers als Rechtsperson. Als nicht untergegangen seien aber alle Ausführungsbehörden anzusehen, bei denen infolge organisatorischer Änderungen an Stelle der früher bestimmten Versicherungsträger eine andere Stelle, wie im vorliegenden Fall die Beklagte, getreten sei. - Die Rechtsmittelbelehrung des Urteils beginnt mit dem Satz: "Gegen diese Entscheidung ist das Rechtsmittel der Berufung nach § 150 Ziffer 1 SGG gegeben."

Mit ihrer Berufung hat die Beklagte u. a. geltend gemacht, es bestehe für sie keinerlei Verpflichtung, derartige Ansprüche aus der Zeit vor der Kapitulation zu befriedigen. Die RAfU gehöre zu den weggefallenen Versicherungsträgern im Sinne des FAG, die BAfU sei nicht ihre Rechtsnachfolgerin. Gegen die BAfU könnten nur Ansprüche erhoben werden, die vom FAG auch zeitlich erfaßt würden. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat durch Urteil vom 23. Juni 1960 die Berufung mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die von der Beklagten der Klägerin zu gewährende Abfindung im Verhältnis 10,- RM = 1,- DM umzustellen ist: Als Rechtsgrundlage der Verpflichtung der Beklagten komme das FAG nicht in Betracht, weil dessen Vorschriften nur subsidiäre Bedeutung hätten und nicht heranzuziehen seien, wenn - wie hier - schon auf Grund anderer Bestimmungen ein Entschädigungsanspruch bestehe. Der Anspruch der Klägerin gründe sich auf die ÜberführungsVO vom 14. März 1951 in Verbindung mit § 15 Abs. 1 des Gesetzes über Zulagen und Mindestleistungen in der gesetzlichen UV und zur Überleitung des UV-Rechts im Land Berlin vom 29. April 1952 (BGBl I 253 - UZG). Die ÜberführungsVO regele die Funktionsnachfolge der vor dem Zusammenbruch bestehenden UV-Ausführungsbehörden und bestimme in § 2, daß der BAfU die Abwicklung der Aufgaben der ehemaligen RAfU obliege, gegen welche die Klägerin bei ihrer Wiederverheiratung im März 1945 einen Abfindungsanspruch nach § 588 Abs. 2 RVO aF erlangt und geltend gemacht habe. Durch § 15 Abs. 1 UZG sei die Zuständigkeit und Leistungspflicht der Beklagten auf das Land Berlin erstreckt worden. Zwar sei diese Vorschrift erst mit Wirkung vom 1. April 1952 in Kraft getreten (§ 26 Abs. 3 UZG). Hieraus sei jedoch nicht zu folgern, daß die schon vorher entstandenen und fällig gewordenen Ansprüche gegen eine frühere Ausführungsbehörde nicht ebenfalls auf Grund der ÜberführungsVO von der Beklagten abzuwickeln seien. Diese Folgerung wäre vielmehr nur dann gerechtfertigt, wenn die Entstehungszeit des Anspruchs in die Zeit von Juni 1945 bis Dezember 1950 fiele, in der in Berlin das Sonderrecht der VAB-Satzung gegolten habe, welche den Abfindungsanspruch nicht kannte. Der Abfindungsanspruch der Klägerin sei jedoch bereits mit der Wiederverheiratung im März 1945 entstanden und zur gleichen Zeit auch fällig geworden. Er sei - wegen der wiederholten Geltendmachung bei RAfU , VAB und BAfU - auch nicht durch Verjährung untergegangen. Als ehemalige RM-Verbindlichkeit unterliege der Abfindungsanspruch jedoch der Umstellung im Verhältnis 10 : 1 (BSG 6, 19). Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 16. Juli 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 1. August 1960 Revision eingelegt und sie am 8. September 1960 wie folgt begründet: Das LSG habe die Vorschriften des § 20 Abs. 1 FAG, der §§ 15 Abs. 1, 26 Abs. 3 UZG und des § 2 der ÜberführungsVO unrichtig angewandt. Zwischen RAfU und BAfU bestehe weder Rechts- noch Funktionsnachfolge. Durch die ÜberführungsVO seien keine materiell-rechtlichen Verpflichtungen der BAfU begründet worden, dies sei vielmehr erst durch das FAG mit Wirkung vom 1. April 1952 an geschehen. Ansprüche auf laufende Rentenleistungen für die Zeit bis zum 31. März 1952 seien von den nach dem FAG zuständig gewordenen Versicherungsträgern nicht zu befriedigen; dasselbe müsse auch für Ansprüche auf einmalige Leistungen gelten, die in der Zeit vor dem 1. April 1952 entstanden seien. Grundsätzlich hafte die Bundesrepublik nicht für Verbindlichkeiten des Reichs aus der Zeit vor der Kapitulation; das allgemeine Kriegsfolgengesetz vom 5. November 1957 (BGBl I 1747) habe für Ansprüche aus § 588 Abs. 2 RVO aF keine Ausnahmeregelung geschaffen, der Anspruch der Klägerin sei mithin erloschen. Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die Revision ist statthaft durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Die an sich durch § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG ausgeschlossene Berufung der Beklagten war dennoch - wie das LSG mit Recht angenommen hat - statthaft, da das SG sie zugelassen hatte. Zwar findet sich ein Zulassungsausspruch weder im Tenor noch in den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils. Jedoch hat das SG im einleitenden Satz seiner Rechtsmittelbelehrung nicht auf § 143 SGG (vgl. SozR SGG § 150 Nr. 41), sondern ausdrücklich auf § 150 Nr. 1 SGG Bezug genommen. Dies reicht noch aus, um eine Zulassung der Berufung zu erkennen (vgl. BSG 8, 154, 158).

In der Sache selbst kann der erkennende Senat dem angefochtenen Urteil nicht beipflichten. Beide Vorinstanzen haben angenommen, der Klaganspruch sei aus § 2 der Überführungs-VO herzuleiten, da diese Vorschrift eine Rechtsnachfolge bzw. Funktionsnachfolge der Beklagten gegenüber der ehemaligen RAfU begründet habe. Dieser Auffassung ist der Senat in seiner Rechtsprechung nicht gefolgt (vgl. BSG 15, 295; ferner bereits Urteil vom 14. Dezember 1960, 2 RU 253/57). Wie er vielmehr mit eingehender Begründung (aaO S. 297, 298) dargelegt hat, ist in der durch § 2 Abs. 2 der ÜberführungsVO vorgesehenen "Abwicklung der Aufgaben" (hier zu Nr. 2: der ehemaligen RAfU ) eine ausschließlich organisatorische Regelung in dem Sinn zu erblicken, daß die BAfU die für die Feststellung neuer Leistungen und die Zahlung laufender Renten zuständige Stelle sein sollte. Dagegen enthält die ÜberführungsVO keine materiell-rechtliche Regelung über Ansprüche derjenigen Personen, welche bei einem der in dieser Vorschrift aufgezählten weggefallenen Versicherungsträger versichert waren. Eine solche Regelung ist vielmehr erst mit dem FAG erfolgt. Für die Annahme einer Haftung der BAfU unter dem Gesichtspunkt einer Rechts- oder Funktionsnachfolge im Verhältnis zum Deutschen Reich bzw. seinen ehemaligen Ausführungsbehörden ist daher kein Raum.

Entsprechendes gilt auch für den vom LSG angeführten § 15 Abs. 1 UZG; auch dieser Vorschrift ist in keiner Weise zu entnehmen, daß hiermit eine über das rein Organisatorische hinausgehende Regelung getroffen werden sollte.

Der Senat sieht sich durch die im angefochtenen Urteil dargelegten Erwägungen auch nicht veranlaßt, von seiner bisher vertretenen Ansicht zur Bedeutung der ÜberführungsVO abzugehen.

Hiernach kommt es - entgegen der Auffassung der Vorinstanzen - für die Beurteilung des Klaganspruchs entscheidend auf das FAG an. Die Klägerin gehört zu dem von diesem Gesetz erfaßten Personenkreis (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 FAG). Hinsichtlich der vor Inkrafttreten des FAG am 1. April 1952 (§ 20 Abs. 1) eingetretenen Versicherungsfälle, deretwegen nicht bereits eine Leistung für die vorangegangene Zeit festgestellt wurde, bestimmt § 17 Abs. 1 Satz 1 FAG, daß die Leistung nach Maßgabe dieses Gesetzes mit dem 1. April 1952 beginnt; nach Satz 3 dieser Vorschrift finden Nachzahlungen für zurückliegende Zeiten nicht statt. Dies bedeutet, daß rückständige Rentenbeträge für die Zeit vor dem 1. April 1952 von dem nach dem FAG zuständigen Unfallversicherungsträger nicht zu gewähren sind (BSG 7, 269, 274). Nach Meinung des Senats fällt aber unter diese Vorschrift auch ein im März 1945 entstandener und fällig gewordener Anspruch auf Heiratsabfindung gemäß § 588 Abs. 2 RVO aF. Eine Gesetzesauslegung, welche einen solchen Abfindungsanspruch anders als rückständige Rentenansprüche behandeln würde, erscheint nicht vertretbar.

Eine für die Klägerin günstigere Entscheidung wird auch nicht durch das Fremdrenten- und Auslandsrenten- Neuregelungsgesetz vom 25. Februar 1960 (FANG) ermöglicht. Selbst wenn dieses Gesetz - was der Senat offenläßt - hier anwendbar wäre, müßte aus Art. 6 § 24 Abs. 1 FANG gefolgert werden, daß eine nachträgliche Gewährung der Heiratsabfindung hiernach ebenfalls nicht beanspruch werden kann.

Auf die begründete Revision der Beklagten ist daher unter Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen die Klage abzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten ergeht gemäß § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379952

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