Verfahrensgang

LSG für das Land Brandenburg (Urteil vom 05.04.1995)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg vom 5. April 1995 wie folgt abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, das der Versicherten mit Bescheid vom 26. Januar 1978 zuerkannte Altersruhegeld für die Zeit ab 1. Januar 1992 unter Berücksichtigung zwischenzeitlicher Rentenanpassungen und unter Anrechnung der seit Januar 1992 bereits als Regelaltersrente gezahlten Beträge wieder zu gewähren.

Im übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob die Kläger von der Beklagten ab 1. Januar 1992 die Wiedergewährung des der Versicherten ab Mai 1976 zuerkannten Altersruhegeldes verlangen können.

Die im April 1911 in W. … geborene Versicherte lebte bis Mai 1987 in Nordrhein-Westfalen. Sie war zwischen Mai 1925 und April 1976 Mitglied der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz (LVA) und zuletzt der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA). Sie entrichtete für 426 Kalendermonate (35,5 Jahre) Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter und zur Angestelltenversicherung; ferner legte sie 29 Monate an Ausfallzeiten zurück (insgesamt 455 Monate an rentenrechtlichen Zeiten). Die Beklagte erkannte zuletzt mit Bescheid vom 26. Januar 1978 an, daß die Versicherte zum 1. Mai 1976 ein Recht auf Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres mit einem monatlichen Wert von zunächst 749,20 DM erworben hatte. Im Mai 1987 belief sich die Rentenhöhe auf 1.079,87 DM zuzüglich eines Betrages in Höhe des Beitrags zur Krankenversicherung der Rentner. Im Mai 1987 zog die Versicherte aus familiären Gründen zu ihrer Tochter nach E. … (DDR). Ab Juni 1987 zahlte die BfA keine Rentenbeträge mehr aus.

Die Versicherte erhielt in der DDR die Mindestrente aus der Sozialpflichtversicherung (sowie einen Sozialzuschlag), die ab Juli 1990 auf DM aufgewertet und nach dem 3. Oktober 1990 gemäß dem im Beitrittsgebiet bis Ende 1991 gültigen Rentenversicherungsrecht angeglichen und angepaßt wurde; sie belief sich im Dezember 1991 auf 598 DM zuzüglich 43 DM als Sozialzuschlag.

Im Juni und Oktober 1990 beantragte die Versicherte die Wiederaufnahme der Zahlung ihres Altersruhegeldes. Die BfA lehnte dies mit Schreiben vom 29. Oktober 1990, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 21. Januar 1993, ab, weil die Versicherte ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet genommen und ihr deswegen nach § 96 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) das ab Mai 1976 gewährte Altersruhegeld nicht mehr zugestanden habe. Sie habe statt dessen eine Altersrente nach dem Recht der früheren DDR erhalten, die ab Januar 1992 gemäß § 307a Abs 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) umgewertet worden sei. Diese Rente könne auch nicht nach § 307a Abs 10 SGB VI neu berechnet werden, weil die Versicherte ihren gewöhnlichen Aufenthalt am 18. Mai 1990 bereits im Beitrittsgebiet gehabt habe. Während des Widerspruchsverfahrens bewilligte die Beklagte der Versicherten durch Bescheid vom 29. November 1991 ein Recht auf Regelaltersrente nach dem SGB VI ab 1. Januar 1992 und stellte dessen monatlichen Wert auf 800,98 DM fest. Durch Bescheid vom 29. Oktober 1993 ersetzte sie den vorgenannten Bescheid hinsichtlich der Feststellung des monatlichen Wertes des Rechtes auf Regelaltersrente, den sie für Januar 1992 nunmehr auf 952,24 DM und für Bezugszeiten ab Dezember 1993 auf 1.299,69 DM festsetzte.

Das Sozialgericht (SG) Frankfurt/Oder hat die Beklagte unter Abänderung der vorgenannten Bescheide verurteilt, die Altersrente der Versicherten ab dem 1. Januar 1992 nach dem SGB VI neu zu berechnen (Urteil vom 6. Januar 1994). Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Brandenburg hat das Urteil des SG auf die Berufung der Beklagten und auf die Anschlußberufung der Versicherten geändert, die vorgenannten Bescheide der Beklagten geändert und diese verurteilt, „die der Versicherten mit Bescheid vom 26. Januar 1978 zuerkannte Rente für die Zeit ab 1. Januar 1992 unter Berücksichtigung zwischenzeitlicher Rentenanpassungen wieder zu leisten”. Im übrigen wurde die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Das LSG ist folgender Ansicht: Die Berufung der Beklagten sei nur insoweit begründet, als sie verurteilt worden sei, die nach § 307a SGB VI „umgewertete Beitrittsgebietsrente” der Klägerin neu zu berechnen. Die Voraussetzungen des § 307a Abs 10 SGB VI lägen nämlich – entgegen der Auffassung des SG – nicht vor, weil die Klägerin Anspruch auf Wiederaufnahme der Zahlung ihrer früher von der Beklagten gewährten Rente habe. Dies ergebe sich bereits aus dem Bewilligungsbescheid vom 26. Januar 1978, den die Beklagte – wie von ihr zugestanden – weder zurückgenommen noch widerrufen noch anderweitig aufgehoben habe, der also bindend geblieben sei. Eine Aufhebung habe gemäß § 204 AVG iVm §§ 1631, 1633 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nur durch schriftlichen Verwaltungsakt erfolgen können; das schlichte Nichtzahlen (sog Zahlungseinstellung) reiche nicht aus. Die Bewilligung des Altersruhegeldes vom 26. Januar 1978 sei auch nicht durch den Bescheid über die Gewährung einer Regelaltersrente nach dem SGB VI mit dem monatlichen Wert der „umgewerteten Beitrittsgebietsrente” beseitigt worden. Selbst wenn damit ein Eingriff in das zuerkannte Recht beabsichtigt gewesen sein sollte, gebe es dafür keine Ermächtigungsgrundlage. Der Bewilligungsbescheid sei ferner nicht befristet gewesen und habe sich auch nicht auf andere Weise erledigt. Die Änderung des AVG durch Art 9 des Rentenüberleitungsgesetzes (RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I 1605) enthalte gerade keinerlei Einschränkungen der Leistungsansprüche aus dem AVG. Gleiches gelte für das zum 1. Januar 1992 in Kraft getretene SGB VI, nach dessen § 302 Abs 1 aaO eine Regelaltersrente geleistet werde, wenn die Versicherte – wie hier – vor dem 2. Dezember 1926 geboren sei und am 31. Dezember 1991 Anspruch auf eine Rente aus eigener Versicherung gehabt habe. Dies sei bei der Versicherten der Fall, weil nur die Zahlungsansprüche aus dem ihr zuerkannten Recht auf Altersruhegeld gemäß § 96 AVG geruht hätten. Auch das Gesamtregelungswerk des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG) habe keine Erledigung des Bewilligungsbescheides aus dem Jahre 1978 bewirkt. § 307a SGB VI regele ausschließlich die Bestimmung der Höhe einer nach dem Rentenrecht der DDR bewilligten Rente; dies gelte auch für die Regelungen in § 307a Abs 9 bis 11 SGB VI. Soweit nach § 307a Abs 10 SGB VI dabei eine Neuberechnung der Rentenhöhe aus im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten vorgesehen sei, schließe dies das Fortbestehen eines früher nach bisherigem Bundesrecht festgestellten Leistungsanspruches nicht aus. § 307a Abs 12 SGB VI beziehe sich ausschließlich auf Bescheide nach den Vorschriften des Beitrittsgebiets.

Zur Begründung der – vom LSG zugelassenen – Revision trägt die Beklagte vor, das Berufungsgericht habe gegen den Gesetzesvorbehalt des § 31 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) verstoßen, weil es einen Anspruch ohne die dafür notwendige Anspruchsgrundlage bzw Rechtsposition zuerkannt habe. Ferner sei § 307a SGB VI verletzt, weil diese Norm die Ansprüche der Versicherten abschließend regele, und § 89 SGB VI, weil die Anwendungsvoraussetzungen dieser Norm nicht gegeben seien. Der Bescheid vom 26. Januar 1978 habe nicht aufgehoben werden müssen, da er sich gemäß § 39 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf andere Weise erledigt habe. Nach dem 1. Januar 1992 habe dieser Bescheid keine Wirkung mehr entfalten können. Der Umstand, daß er „verfahrensrechtlich” nicht aufgehoben worden sei, könne nicht dazu führen, daß er die durch das RÜG neugeschaffenen Rechtspositionen „überlebt” habe; das „ruhende Rentenstammrecht” sei vielmehr allein aufgrund der gesetzlichen Neuregelung erloschen, einer Vollziehung habe es nicht bedurft. Bei Auslandsverzug habe § 96 AVG eine Rentenzahlung in die DDR ausgeschlossen; die Nichtleistung sei kraft Gesetzes erfolgt. Diese Rechtslage sei den Rentenberechtigten bekannt gewesen. Sie hätten durch ihre Erklärung, in die DDR umgezogen zu sein, wissentlich und willentlich auf die Sozialleistungen verzichtet (§ 46 SGB I). Ein Verzicht stelle aber eine Erledigung auf andere Weise dar. Die Mitteilung der Renteneinstellung hätte also rein deklaratorischen Charakter gehabt, weil die monatlichen Rentenleistungen von Gesetzes wegen ausgeschlossen gewesen seien; sie sei deshalb auch nicht erforderlich gewesen. Die Nichtleistung aus einem „West-Stammrecht” in die DDR ohne ausdrückliche Aufhebung des zuvor ergangenen Bewilligungsbescheides sei über Jahrzehnte selbstverständlich und niemals Gegenstand eines Rechtsstreits gewesen, so daß die Rechtsprechung des LSG für die Beklagte überraschend komme und das Verhalten der Versicherten in die Nähe des Rechtsmißbrauchstatbestandes rücke. Während ein Rückzug vor dem 1. Januar 1992 in das Altbundesgebiet ohne weiteres zu einem Wiederaufleben des Rentenanspruchs nach AVG-Vorschriften geführt hätte, sei dies nach diesem Datum und erst recht bei Verbleiben des Berechtigten im Beitrittsgebiet ausgeschlossen. § 307a Abs 1 SGB VI regele für Bezieher einer „DDR-Rente” nach deren Rentenverordnung abschließend, wie mit den am 31. Dezember 1991 im Beitrittsgebiet gezahlten Bestandsrenten zu verfahren sei. Ein Wiedererstarken des AVG-Stammrechts lasse sich wegen des Außerkrafttretens des AVG zum 1. Januar 1992 nicht begründen (Hinweis auf BT-Drucks 12/405 S 118 zu Art 1 Nr 14 RÜG = § 110 SGB VI). Eine Regelung über eine Neuberechnung von Renten wegen Vorliegens von AVG-Anwartschaften sei vom RÜG nicht vorgesehen. Der 4. Senat habe im Urteil vom 30. September 1993 (4 RA 1/93, dort S 7) festgestellt, daß sich die Möglichkeiten des Berechtigten ausschließlich aus den §§ 254b Abs 2 und 307a Abs 10 SGB VI herleiteten. Es sei auch kein Grund ersichtlich, warum „Westanwartschaften”, aus denen bereits einmal eine Leistung erbracht worden sei, solchen Anwartschaften, bei denen das noch nicht der Fall gewesen sei, vorzuziehen seien. Die Versicherte habe durch ihr Verhalten das Leistungshindernis selbst errichtet. Im übrigen sei § 307a Abs 12 SGB VI hinsichtlich der Bestandskraft von Bescheiden analog anzuwenden. § 89 SGB VI, der mehrere Rentenansprüche voraussetze, sei hier nicht einschlägig.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg vom 5. April 1995 und das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Oder vom 6. Januar 1994 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Das Urteil des LSG sei zutreffend. Die Revisionsbegründung bestätige im Grunde genommen die Position des Berufungsgerichts. Der Bewilligungsbescheid vom 26. Januar 1978 sei uneingeschränkt bindend geblieben, ein Sozialleistungsverzicht nicht ausgesprochen worden, zum 1. Januar 1992 das Leistungshindernis des § 96 AVG ersatzlos entfallen und die Annahme eines Rechtsmißbrauchstatbestandes abwegig.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

1. Die zulässige Revision der Beklagten kann nur in dem Umfang Erfolg haben, daß die Kläger sich die seit Januar 1992 bis zum Tode der Versicherten gezahlten Beträge auf ihren „Nachzahlungsanspruch” gegen die Beklagte anrechnen lassen müssen; denn ihrer Mutter standen – wie das LSG richtig entschieden hat – nach Maßgabe des hier (direkt) anwendbaren § 89 Abs 1 Satz 1 SGB VI für Bezugszeiten seit dem 1. Januar 1992 monatliche Zahlungsansprüche aus ihrem eigenen Angestelltenversicherungsverhältnis mit der Beklagten (nur) aus dem höherwertigen Recht auf Regelaltersrente zu. Sie hatte aber Regelaltersrente in Höhe der „umgewerteten Beitrittsgebietsrente” bereits erhalten, so daß insoweit die monatlichen Zahlungsansprüche aus ihrem höherwertigen Recht aus eigener Versicherung, das ihr seit Mai 1976 zustand, teilweise erfüllt und damit erloschen sind (§ 362 Abs 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches).

2. Im übrigen ist die Revision der Beklagten unbegründet, weil die Versicherte seit Mai 1976 ein (dynamisierbares) subjektives Recht auf Altersruhegeld gegen die BfA hatte. Dies ergibt sich bereits aus dem bindend gebliebenen, dh für das Rechtsverhältnis zwischen der Versicherten und der BfA allein maßgeblichen Bewilligungsbescheid vom 26. Januar 1978, der eine eigenständige, vom Gesetz losgelöste Rechtsgrundlage für das Begehren der Versicherten ist. Schon deshalb ist hier nicht darzulegen, daß die Versicherte sich auch darauf berufen konnte, dieser Bescheid sei rechtmäßig; denn ihr stand nach dem Gesetz (§ 25 Abs 5 AVG) zum 1. Mai 1976 das seither niemals untergegangene subjektive Recht auf Altersruhegeld zu, das sie aus 426 Kalendermonaten an Bundesgebietsbeitragszeiten erworben hat; dessen monatlicher Wert hat an den Veränderungen des aktuellen Rentenwertes, also an den Rentenanpassungen, im Geltungsbereich des AVG teilgenommen; aus dem „Stammrecht” sind monatliche Zahlungsansprüche entstanden, deren Erfüllung die BfA – nur im Sinne einer dauerhaften Einrede gegen den jeweiligen Zahlungsanspruch – lediglich für die Zeit des gewöhnlichen Aufenthalts der Versicherten in der DDR bzw im Beitrittsgebiet und nur bis Ende 1991 hat verweigern dürfen. Diese individual-grundrechtlich als Eigentum geschützte Rechtsposition ist weder durch den Umzug in die DDR noch durch das SGB VI beseitigt oder eingeschränkt worden (dazu und auch zum folgenden näher Senatsurteil vom 29. Juli 1997, 4 RA 41/96, zur Veröffentlichung vorgesehen). Das LSG hat die Rechtslage im wesentlichen zutreffend dargestellt. Die Bedenken der Revision greifen nicht durch.

3. Der Bewilligungsbescheid vom 26. Januar 1978 enthält einen Verwaltungsakt, durch den das gesetzlich zum 1. Mai 1976 entstandene dynamisierbare subjektive Recht (sog Stammrecht) der Klägerin auf Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres aus ihrem eigenen Versicherungsverhältnis zur Beklagten anerkannt (so § 204 AVG iVm § 1631 RVO) worden ist. Dieser Verwaltungsakt ist bislang nicht aufgehoben worden. Insbesondere enthalten die Bescheide der Beklagten vom 29. November 1991 (sog Umwertungsbescheid) und vom 29. Oktober 1993 (Neufeststellung des monatlichen Wertes der „umgewerteten Beitrittsgebietsrente”) nicht einmal andeutungsweise eine Verfügung, der Bewilligungsbescheid vom 26. Januar 1978 solle aufgehoben werden. Schon deshalb ist nicht darauf einzugehen, daß das LSG richtig ausgeführt hat, daß es hierfür im geltenden Bundesrecht keine Ermächtigungsgrundlage gibt.

4. Der Verwaltungsakt vom 26. Januar 1978 ist auch nicht „anderweitig aufgehoben” worden iS von § 39 Abs 2 SGB X. Dies könnte in Fällen der vorliegenden Art allenfalls nur durch ein sog sich selbst vollziehendes Gesetz erfolgt sein, soweit dieses ausnahmsweise gültig wäre. Soweit die Beklagte hierauf abstellt, hat sie nicht einmal eine Vorschrift eines förmlichen Bundesgesetzes benannt, dessen Wortlaut darauf hinweisen könnte, der Deutsche Bundestag habe sämtliche durch eigene Beitragsleistung im Geltungsbereich des AVG erworbenen subjektiven Rechte auf Renten mit Ablauf des 31. Dezember 1991 aufgehoben und durch ähnliche Rechte nach Maßgabe des SGB VI ersetzt; dies wäre eine Totalnovation aller rentenversicherungsrechtlichen Rechte in ganz Deutschland ab 1. Januar 1992 gewesen. Das SGB VI geht jedoch – wie nicht näher aufzuzeigen ist – vom Fortbestand aller vor dem 1. Januar 1992 im Geltungsbereich des AVG (der RVO) entstandenen sog Stammrechte und Anwartschaftsrechte aus (stellvertretend: § 300 Abs 4 Satz 1 SGB VI); noviert wurden nur die zuvor im Beitrittsgebiet übergangsrechtlich auf sekundär bundesrechtlicher Grundlage „weiterbewilligten” Rechte aus dem Rentenversicherungsrecht des Beitrittsgebiets (ständige Rechtsprechung seit BSGE 72, 50). Es hätte einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung bedurft, wenn die im Geltungsbereich des AVG erworbenen Rechte und Anwartschaftsrechte beseitigt und darüber hinaus auch die hierzu ergangenen Verwaltungsakte, mit denen diese Rechtspositionen (bindend) anerkannt worden waren, hätten aufgehoben und durch andere ersetzt werden sollen.

Dies gilt – was auf der Hand liegt – auch dann, wenn der Berechtigte nach dem Erwerb des subjektiven Rechts im Geltungsbereich des AVG in die DDR/das Beitrittsgebiet umgezogen und bis zum 31. Dezember 1991 in das frühere Bundesgebiet nicht zurückgekehrt ist. Denn in dieser Zeit bestand – materiell-rechtlich – das subjektive Recht fort und blieb auch die Anerkennung wirksam und bindend. Der Hinweis der Beklagten auf die BT-Drucks 12/405 S 118 verdeutlicht gerade, daß eine Aufhebung von Rechten solcher Versicherter im Gesetzgebungsverfahren zum RÜG nicht einmal im Blickfeld war; dort heißt es:

„Nach der Vereinigung Deutschlands umfaßt die Bundesrepublik Deutschland das ganze Deutschland. Damit sind Regelungspassagen, die darauf abstellen, daß einerseits die deutsche Hoheitsgewalt nicht das Gebiet der DDR umfaßte, und andererseits die DDR im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland nicht als Ausland anzusehen war, überflüssig geworden. Die Änderung paßt den Gesetzestext an die durch den Beitritt der DDR geschaffene Rechtslage an. Im übrigen ist in der Neufassung die Regelung entfallen, nach der die Erbringung von Leistungen der Rentenversicherung in das Gebiet der ehemaligen DDR grundsätzlich ausgeschlossen war”.

Entstandene subjektive Rechte und daraus – als Rechtsfrüchte – sich ergebende monatliche Zahlungsansprüche dürfen nach dem verfassungsrechtlichen allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes und auch nach dem sog einfachgesetzlichen Gesetzesvorbehalt des § 31 SGB I nur eingeschränkt oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zuläßt. Daher hätte ein Rechtsentzug der ausdrücklichen, den intensiven verfassungsrechtlichen Vorgaben hierfür Rechnung tragenden spezialgesetzlichen Regelung bedurft, nicht aber ist – wie die Beklagte jedoch meint – für das Fortbestehen grundrechtlich geschützter subjektiver Rechte eine ausdrückliche gesetzliche Regelung erforderlich. Der Hinweis der Beklagten auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 30. September 1993 (4 RA 1/93 S 7) trifft inhaltlich nicht zu; der Senat hatte nur über Altersruhegeld für die Zeit vom 3. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember 1991 zu entscheiden und dabei gerade darauf hingewiesen, daß der Bundesgesetzgeber das Leistungshindernis des § 96 AVG zum 1. Januar 1992 beseitigt hat.

5. Der Anerkennungsbescheid vom 26. Januar 1978 hat sich auch nicht „durch Zeitablauf oder durch andere Weise erledigt” (§ 39 Abs 2 SGB X). Richtig führt das Berufungsgericht aus, daß er nicht mit einer zulässigen Nebenbestimmung, insbesondere nicht mit einer auflösenden Befristung oder auflösenden Bedingung verbunden war. Er ist auch nicht wegen des Umzugs der Versicherten nach Eisenhüttenstadt im Mai 1987 unwirksam geworden.

Die Beklagte durfte zwar seither für die Dauer des gewöhnlichen Aufenthalts der Versicherten in der DDR bzw im Beitrittsgebiet bis zum Außerkrafttreten des § 96 AVG mit Ablauf des 31. Dezember 1991 die Erfüllung der einzelnen monatlichen Zahlungsansprüche durch Erhebung der Einrede des Wohnsitzes/gewöhnlichen Aufenthalts in der DDR/im Beitrittsgebiet jeweils dauerhaft verweigern. § 96 AVG (in der mit Wirkung vom 1. Juli 1979 eingeführten Fassung durch Art 3 Nr 8 des Rentenanpassungsgesetzes 1982 vom 1. Dezember 1981 ≪BGBl I 1205≫) enthielt allerdings nicht mehr die Einwendung des gewöhnlichen Aufenthaltes/Wohnsitzes in der DDR (bzw bis 31. Dezember 1991: im Beitrittsgebiet), sah also nicht mehr die Rechtsfolge des sog Ruhens des Rechts auf die Leistung vor; das bedeutet, daß § 96 AVG nicht mehr vorschrieb, das subjektive Recht auf Rente bestehe weiterhin, jedoch könnten für die Dauer des gewöhnlichen Aufenthaltes in der DDR die monatlichen Zahlungsansprüche nicht entstehen. Vielmehr gab die Vorschrift nur noch eine – bezogen auf den einzelnen monatlichen Zahlungsanspruch – dauerhafte Einrede, also eine (für die BfA pflichtige) Befugnis zur Erfüllungsverweigerung; durch § 96 AVG wurden somit nur die Durchsetzbarkeit des einzelnen Zahlungsanspruchs und die Auszahlung (Leistungsbewirkung) eingeschränkt (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ≪BSG≫, zusammengefaßt in BSG SozR 3-2200 § 1291 Nr 1; näher zu § 96 AVG: Senatsurteil vom 29. Juli 1997 – 4 RA 41/96, zur Veröffentlichung vorgesehen). Wenn der Rentenversicherungsträger der Überzeugung war, die Voraussetzungen der Einrede seien erfüllt, mußte er (§ 48 Abs 1 Satz 1 SGB X) den das subjektive Recht auf Rente anerkennenden Bescheid durch einen die Erfüllungsverweigerung regelnden Verwaltungsakt abändern, soweit daraus für diese Zeit monatliche Zahlungsansprüche entstanden. Daß die Beklagte – wie sie vorträgt – derartige Verwaltungsakte in ständiger Verwaltungspraxis nicht erlassen hat, ist nicht geeignet, die zutreffende Rechtsansicht des LSG, die mit der ständigen Rechtsprechung des BSG übereinstimmt, als Überraschungsentscheidung zu qualifizieren.

6. Nicht nachvollziehbar ist der Vortrag der Beklagten, die Versicherte habe auf ihre (monatlichen) Sozialleistungsansprüche iS von § 46 Abs 1 SGB I verzichtet. Es liegt – erst recht – keine schriftliche Erklärung der Versicherten vor, die in dem Sinn verstanden werden könnte, sie wolle auf das ihr bindend zuerkannte subjektive Recht auf Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres verzichten.

§ 307a Abs 12 SGB VI ist weder direkt noch „analog” anzuwenden, weil er ausschließlich die Durchbrechung der Bestandskraft von „Bescheiden nach den Vorschriften des Beitrittsgebiets” aufgrund der Anwendung des Rechts des SGB VI ab dem 1. Januar 1992 betrifft; hinsichtlich der Aufhebung von Bescheiden, die nach dem AVG ergangen sind, das im Beitrittsgebiet nie gegolten hat, gibt es – angesichts der §§ 44 ff SGB X – keine planwidrige Regelungslücke.

Die Versicherte hatte somit für Bezugszeiten ab 1. Januar 1992 zwei subjektive Rechte auf (nach dem maßgeblichen Sprachgebrauch des SGB VI, siehe § 300 Abs 4 Satz 2 aaO) Regelaltersrente, nämlich zum einen das ihr kraft Anerkennungsbescheid ab Mai 1976 zustehende subjektive Recht und zum anderen das durch das Inkrafttreten des SGB VI zum 1. Januar 1992 begründete und in den Bescheiden vom 29. November 1991 in der Gestalt des Bescheides vom 29. Oktober 1993 anerkannte Recht, dessen monatlicher Wert durch „Umwertung” nach § 307a Abs 1 SGB VI ermittelt worden war. Da beide Rechte aus eigener Versicherung der Versicherten entstanden waren, stand ihr seit Januar 1992 nur die höhere Rente zu (§ 89 Abs 1 Satz 1 SGB VI).

Nach alledem mußte die Revision der Beklagten im wesentlichen ohne Erfolg bleiben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 und Abs 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173882

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