Beteiligte

… Kläger und Revisionskläger

Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz, Speyer, Eichendorffstraße 4 - 6, Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I.

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zusteht.

Der im Jahre 1938 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Ab 1955 war er im Baugewerbe tätig. Er verrichtete Tätigkeiten eines Zimmerers oder Einschalers und erhielt den Lohn eines Spezialbaufacharbeiters nach der Gruppe III/2 der Lohntabelle für das Baugewerbe im Lande Nordrhein-Westfalen. Diese Tätigkeit mußte er 1983 aufgeben, als er an einer Tuberkulose erkrankte. Von Jugend an ist die Sehfähigkeit des Klägers auf dem rechten Auge um etwa die Hälfte gemindert, auf dem linken Auge ist er wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles aus dem Jahre 1978 nahezu erblindet.

Den im Jahre 1984 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 5. Oktober 1984 ab. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. Juli 1985).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteile vom 20. Januar 1987 und 24. Juni 1988). Das LSG ist davon ausgegangen, die berufliche Qualifikation des Klägers als Zimmerer und Einschaler entspreche der eines angelernten Arbeiters. Es hat ihn verwiesen auf die Tätigkeit eines Verpackers leichtgewichtiger Gegenstände.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung des § 1247 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO).

Der Kläger beantragt,

1.

die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid der Beklagten vom 5. Oktober 1984 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 1985 aufzuheben und

2.

die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. September 1984 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen.

Sie trägt vor, der Kläger habe zwar die verletzte Rechtsnorm bezeichnet, er habe aber seine Rüge nicht ausreichend begründet.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des Klägers ist zulässig. Sie ist - im Gegensatz zur Ansicht der Beklagten - noch ausreichend begründet worden.

§ 164 Abs. 2 Satz 3 SGG schreibt vor, die Begründung der Revision müsse einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben. Als verletzte Rechtsnorm ist § 1247 Abs. 2 Satz 1 RVO in der Revisionsbegründung genannt und Verfahrensmängel sind nicht gerügt worden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) muß die Revisionsbegründung erkennen lassen, daß der sie einreichende Prozeßbevollmächtigte das angefochtene Urteil im Hinblick auf das Rechtsmittel überprüft hat. Es müssen die Gründe aufgezeigt werden, die nach Auffassung des Bevollmächtigten das Urteil in den noch streitigen Punkten als unrichtig erscheinen lassen. Dazu bedarf es einer zumindest kurzen Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung (so BSG in SozR 1500 § 164 Nr. 28 m.w.N.). Der Beklagten ist darin zuzustimmen, daß die Ausführungen zu Tätigkeiten, auf die das LSG den Kläger nicht verwiesen hat, neben der Sache liegen. Auch ist die Revisionsbegründung nicht frei von tatsächlichem Vorbringen, was grundsätzlich bei materiell-rechtlichen Rügen zu fordern ist (vgl. BSG a.a.O. Nr. 12). Zu erkennen ist aber, warum der Kläger meint, § 1247 RVO sei vom LSG nicht richtig angewendet worden. Ob dem Vorbringen in der Revisionsbegründung zu folgen ist, kommt es bei der Zulässigkeitsprüfung nicht an. Deshalb hat der Senat die Revisionsbegründung noch als ausreichend angesehen.

In der Sache ist die Revision insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits nicht zu.

Ausgangspunkt für die Prüfung des Anspruchs auf Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit i.S. des § 1246 Abs. 2 RVO ist der qualitative Wert des "bisherigen Berufs", den der Versicherte ausgeübt hat. Nach den nicht zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffenen und daher für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts ist der Kläger nicht in einem Bauberuf zum Facharbeiter ausgebildet worden und hat daher auch nicht durch eine bestandene Prüfung eine entsprechende Qualifikation nachgewiesen. Jedoch ist er von 1976 bis 1983 als Spezialbaufacharbeiter nach der Berufsgruppe III/2 der Lohntabelle für das Baugewerbe in Nordrhein-Westfalen entlohnt worden.

In ständiger Rechtsprechung hat das BSG die tarifliche Einstufung der "bisherigen Berufstätigkeit" eines Versicherten als zuverlässiges Indiz für die Qualität der ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung angesehen (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 11. Juli 1985 - damals noch als 5b Senat - in BSGE 58, 239, 240 f m.w.N.) . Aus der Entlohnung allein lassen sich allerdings Qualität und betriebliche Bedeutung der Tätigkeit nicht einfach ablesen. Maßgebend ist vielmehr der aus den tariflichen Tätigkeitsmerkmalen und dem Gesamtzusammenhang des Tarifvertrags zu entnehmende qualitative Wert. Jedoch kann die zu vermutende Richtigkeit der Einstufung durchaus widerlegt werden (so BSG a.a.O.

241 m.w.N.), was im Falle des Klägers schon deshalb zu prüfen ist, weil er nicht über die für einen Facharbeiter vorgesehene Ausbildung und Prüfung verfügt. Entscheidend ist hier also, ob er den noch - was die Qualität der verrichteten Tätigkeit und ihre Bedeutung für den ihn beschäftigenden Betrieb angeht - als Facharbeiter anzusehen ist, ob er also die an einen tariflich erfaßten Facharbeiter zu stellenden Anforderungen auch ohne die dafür vorgesehenen Ausbildungsvoraussetzungen erfüllt hat (so der Senat im Urteil vom 11. Juli 1985 a.a.O. 242).

In der bereits mehrfach zitierten Entscheidung vom 11. Juli 1985 hat der Senat in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des BSG (a.a.O. 242 m.w.N.) verlangt, daß ein solcher Versicherter nicht nur über seinem individuellen Arbeitsplatz entsprechende praktische Fertigkeiten verfügt, die in seiner Berufsgruppe im allgemeinen erwartet werden. Vielmehr müsse eine "Wettbewerbsfähigkeit" im Vergleich zu anderen Versicherten derselben Berufsgruppe bestehen. Diese Wettbewerbsfähigkeit ist dahin definiert worden, daß der Versicherte, der abweichend vom "normalen" Weg zur beruflichen Position gelangt ist, "auch über die theoretischen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten verfügt hat, die von einem Facharbeiter gemeinhin erwartet werden" (so BSG in SozR 2200 § 1246 N 150 m.w.N.).

Diese Rechtsprechung ist teilweise mißverstanden worden, wie Ermittlungen der Tatsachengerichte erkennen lassen. Wenn beispielsweise ein LSG einen Kläger im vorgerückten Lebensalter, der als Facharbeiter entlohnt worden ist und behauptet, auch ohne die vorgesehene Ausbildung vollwertig als solcher gearbeitet zu haben, zum Nachweise der theoretischen Kenntnisse an einer schriftlichen Gesellenprüfung teilnehmen lassen will, dann wird dadurch die Rechtsprechung des BSG verkannt und von ihrem Bezug zur Realität getrennt (vgl. hierzu das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom 28. Juni 1989 in der Sache 5 RJ 5/88). Nahezu jedes theoretische Wissen eines Prüflings auf einem persönlichen Höhepunkt zur Prüfungszeit "veraltet" und wird durch die beruflichen Erfahrungen der Praxis kompensiert. Das widerfährt in aller Regel auch dem Ausgebildeten und Geprüften. Hinzu kommt ferner eine gewisse Einengung auf ein Spezialgebiet innerhalb des Spektrums seines Berufs. Dessen "Bandbreite" wird nur dadurch längere Zeit nach der Ausbildung noch "abgedeckt", daß inzwischen Routine und Erfahrung nach kurzer oder angemessener Zeit eine Umstellung auf neue oder ungewohnte Anforderungen innerhalb des Berufs ermöglichen und zulassen. Nur so kann die genannte "Wettbewerbsfähigkeit" im Sinne einer Vergleichbarkeit mit Ausgebildeten in der alltäglichen Praxis des Berufs verstanden werden. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen also - wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 20. September 1988 (5/5b RJ 32/87) betont hat - nicht überspannt werden. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, daß auch gelernte, ausgebildete Facharbeiter nach langjähriger Berufstätigkeit einen Teil insbesondere ihres theoretischen Fachwissens verloren haben. Bei der Prüfung der "Wettbewerbsfähigkeit" kann deshalb von einem Facharbeiten ausführenden Versicherten ohne oder mit nur teilweiser Ausbildung nicht mehr verlangt werden, als von einem langjährig tätigen gelernten Versicherten in seiner Berufsgruppe im allgemeinen erwartet wird.

Das LSG hat ausgeführt, der Kläger sei zwar jahrelang wie ein Zimmermann oder Betonbauer mit Einschalungsarbeiten beschäftigt und auch als Spezialfacharbeiter entlohnt worden, eine vollwertige Wettbewerbsfähigkeit habe er dadurch jedoch nicht erreicht. Er habe ohne die für den anerkannten Ausbildungsberuf vorgesehene Ausbildung und Prüfung nur in Teilbereichen dieses Berufs gearbeitet.

Im Anhang zum Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe (BRTV) - Berufsgruppen für die Berufe des Baugewerbes - (vgl. Karthaus, BRTV vom 3. Februar 1981, Darmstadt 1982, S. 124) ist die Berufsgruppe III/2 der Spezialbaufacharbeiter, nach der der Kläger entlohnt worden ist, wie folgt definiert worden:

"Dies sind ferner Arbeitnehmer gemäß IV 2 nach einjähriger Tätigkeit in dieser Gruppe."

Die Beschreibung der Gruppe IV/2 lautet:

"Dies sind ferner Arbeitnehmer, die in einem anerkannten Ausbildungsberuf außerhalb der baugewerblichen Stufenausbildung eine bestandene Abschlußprüfung nachweisen können oder gemäß den Tarifverträgen über die Feststellung als Facharbeiter gemäß Berufsgruppe IIIb des Anhangs 3 zum Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe vom 15. April 1971 und vom 10. September 1972 dem Facharbeiter gleichgestellt sind. Sie müssen folgenden arbeitstechnischen Bedürfnissen dieser Berufsgruppe entsprechen: Sie müssen für ihren Arbeitsbereich Leistungsbeschreibungen und Baupläne lesen und danach arbeiten, ihre Bauleistungen aufmessen, Tagesberichte und Rapportzettel anfertigen können".

Das LSG hat nicht festgestellt, ob der Kläger diese Anforderungen der Berufsgruppen IV/2 und III/2 erfüllt hat. Zwar hat der Senat entschieden, die Gruppen IV/3 und IV/4 der Berufe des Baugewerbes seien nicht vom Leitbild des Facharbeiters und dessen fachlicher Qualifikation geprägt (vgl. SozR a.a.O. Nr. 140). Das gilt aber nicht für den Aufstieg über die Berufsgruppe IV/2 in die Gruppe III/2.

Soweit das LSG meint, sich mit dem Hinweis begnügen zu können, der Kläger habe nur in einem Teilbereich eines anerkannten Ausbildungsberufes gearbeitet, so daß er allein deshalb nicht als Facharbeiter anzusehen oder einem solchen gleichzustellen sei, kann dem nicht ohne weiteres zugestimmt werden. Allgemeine Erfahrungen zeigen, daß Prozesse zunehmender Konzentration und Spezialisierung - vorwiegend aus Rationalisierungsgründen - möglicherweise den Ausbildungsordnungen und Berufsgruppeneinteilungen in den Tarifverträgen vorauseilen und eine neue Entwicklung in Gang setzen. Sollte es im Baubereich inzwischen weit verbreitet sein, spezielle Kolonnen von Einschalern einzusetzen, die ständig einen aus einem Facharbeiterberuf losgelösten Teilbereich selbständig verrichten und dabei vorwiegend Facharbeiter beschäftigt werden, so kann es sich bei diesen Tätigkeiten um Facharbeiten handeln. Was bisher nur Teilbereich eines Facharbeiterberufes gewesen ist, kann sich verselbständigt und denselben Wert wie eine schon anerkannte Facharbeitertätigkeit erlangt haben.

Das LSG hat letztlich offen gelassen, ob dem Bevollmächtigten des Klägers darin zu folgen ist, daß der Kläger Analphabet sei. Ein Versicherter, der des Lesens und Schreibens unkundig und somit nicht befähigt ist, über die vorgeschriebene Ausbildung einen Beruf zu erlernen, kann grundsätzlich nicht wegen längerer Erfahrung im praktischen Berufsleben einem gelernten Facharbeiter gleichgestellt werden (so der erkennende Senat im Urteil vom 29. Oktober 1985 in SozR a.a.O. Nr. 131). Ob das auf den Kläger zutrifft, läßt sich den Feststellungen des LSG nicht entnehmen. Es hat darauf hingewiesen, der Kläger könne Zeitungsüberschriften lesen, er sei daher wohl nur des Schreibens unkundig. Abschließend ist das Berufungsgericht jedoch davon ausgegangen, die Schreib- und Lesefähigkeit des Klägers sei so beträchtlich eingeschränkt, daß er grundsätzlich nicht als Facharbeiter eingestuft werden könne. Für einen nur Schreibunkundigen, der lesen kann, ist das in dem erwähnten Urteil des Senats vom 29. Oktober 1985 (a.a.O.) nicht entschieden worden. Ob eine Einschränkung der Lesefähigkeit beim Kläger auf mangelnden Kenntnissen beruht oder Folge der inzwischen erheblich eingeschränkten Sehfähigkeit ist, hat das LSG nicht geprüft.

Das LSG wird zu diesen Fragen die noch erforderlichen Feststellungen nachzuholen haben. Sollte es danach wiederum zu dem Ergebnis gelangen, daß die Tätigkeit des Klägers als Einschaler ihrem qualitativen Wert nach der Gruppe mit dem Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufs bzw. des Angelernten zuzuordnen ist, so darf es nicht unentschieden lassen, ob der Kläger in den oberen Bereich dieser Gruppe einzustufen ist. Ist letzteres der Fall, dann muß ihm eine konkrete Verweisungstätigkeit benannt werden (vgl. BSG a.a.O. Nr. 132). Diese hat das LSG in der Arbeit als "Verpacker leichtgewichtiger Gegenstände im industriellen Fertigungsbereich" gesehen. Das LSG hat nicht angegeben, ob die genannte Tätigkeit tarifvertraglich erfaßt und wie sie eingestuft ist. Die angefochtene Entscheidung läßt weiterhin nicht erkennen, ob die Beschränkung auf "leichtgewichtige Gegenstände" bei Verpackern üblich und ohne weiteres im Betriebsablauf durchzuführen ist, ob das ggf. der Tätigkeitsbeschreibung und der dafür vorgesehenen Entlohnung entspricht. Derartige Angaben sind für eine revisionsgerichtliche Überprüfung der Verweisung erforderlich. Auch sollte das LSG - um nicht das rechtliche Gehör zu verletzen - ggf. angeben, worauf die Kenntnis beruht, daß Verpacker im Stehen und Sitzen arbeiten und welche Anforderungen die Tätigkeit an die Sehfähigkeit stellt, die ja beim Kläger stark eingeschränkt ist.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI517972

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