Leitsatz (amtlich)

Die erst nach dem Tode des versicherten Vaters allein von der Mutter des Kindes abgegebene Erklärung, der Vater habe das Kind überwiegend erzogen, kann nach der gesetzlichen Regelung in § 1251a Abs 2 S 1 und 2 RVO die Anrechnung der Kindererziehungszeit beim Vater nicht bewirken. § 1251a Abs 2 S 1 und 2 RVO ist mit dem Gleichberechtigungsgebot des Art 3 Abs 2 GG vereinbar.

 

Normenkette

RVO § 1251a Abs 2 S 1; RVO § 1251a Abs 2 S 2; GG Art 3 Abs 2

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.02.1988; Aktenzeichen L 14 J 176/87)

SG Detmold (Entscheidung vom 24.04.1987; Aktenzeichen S 9 J 292/86)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anrechnung einer Kindererziehungszeit iS des § 1251a Abs 2 Satz 1 und 2 Reichsversicherungsordnung (RVO).

Aus der Ehe der Klägerin mit dem am 5. März 1986 verstorbenen Versicherten M.      K.         ging die Tochter B.     hervor, die am 30. Oktober 1956 geboren wurde. Die Klägerin stellte am 12. März 1986 einen Antrag auf Hinterbliebenenrente. Sie fügte eine Erklärung bei, daß der Verstorbene die Tochter B.     überwiegend erzogen habe. Die Beklagte gewährte der Klägerin Hinterbliebenenrente, lehnte jedoch die Anrechnung der Kindererziehungszeit für das Kind B.     ab (Bescheid vom 20. Mai 1986, Widerspruchsbescheid vom 7. November 1986).

Die Klägerin hatte mit ihrer dagegen erhobenen Klage vor dem Sozialgericht -SG- (Urteil vom 24. April 1987) und vor dem Landessozialgericht -LSG- (Urteil vom 5. Februar 1988) Erfolg. Das LSG führte in den Urteilsgründen aus, das Fehlen einer Regelung in § 1251a Abs 2 RVO für den Fall des Todes des Vaters stelle eine vom Gesetzgeber unbeabsichtigte Lücke des Gesetzes dar. Diese Lücke sei durch eine Analogie zu § 1251a Abs 2 Satz 2 RVO zu schließen. Deshalb könne die Mutter beim Tod des Vaters nach dem 31. Dezember 1985 allein erklären, daß der Vater das Kind überwiegend erzogen habe.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1251a Abs 2 RVO durch das Berufungsgericht.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. Februar 1988 und das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 24. April 1987 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist begründet. Bei der Hinterbliebenenrente der Klägerin aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes ist eine Kindererziehungszeit nicht zu berücksichtigen.

Nach § 1251a Abs 1 RVO werden Müttern oder Vätern, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren sind, Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 in den ersten zwölf Kalendermonaten nach Ablauf des Monats der Geburt angerechnet, wenn sie ihr Kind im Geltungsbereich der RVO erzogen und sich gewöhnlich mit ihm dort aufgehalten haben. Haben Mutter und Vater das Kind gemeinsam erzogen, wird gemäß § 1251a Abs 2 Satz 1 RVO die Zeit der Kindererziehung der Mutter angerechnet, sofern Mutter und Vater nicht gegenüber dem zuständigen Rentenversicherungsträger übereinstimmend erklären, daß der Vater das Kind überwiegend erzogen hat. An einer derartigen übereinstimmenden Erklärung der Eltern des Kindes fehlt es im vorliegenden Fall. Nur unter dieser Voraussetzung wird aber die Kindererziehungszeit "dem Vater angerechnet" (§ 1251a Abs 2 Satz 1, letzter Halbsatz RVO).

Die hier erst nach dem Tode des Versicherten allein von der Klägerin abgegebene Erklärung, der Vater habe das Kind überwiegend erzogen, kann nach dieser gesetzlichen Regelung die Anrechnung der Kindererziehungszeit beim Vater nicht bewirken. Der Gesetzgeber hat nur für den Fall des Todes der Mutter nach dem 31. Dezember 1985 eine von dem Grundsatz des § 1251a Abs 2 Satz 1 RVO abweichende Regelung getroffen, nicht aber für den Fall, daß der Vater vor Abgabe einer übereinstimmenden Erklärung der Eltern stirbt. Lediglich für den genannten Ausnahmefall kann gemäß § 1251a Abs 2 Satz 2 RVO die Erklärung vom Vater allein abgegeben werden. Gleichwohl hält das LSG eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift auf den vorliegenden Fall für geboten, weil eine ausfüllungsbedürftige und im Wege des Analogieschlusses auch ausfüllungsfähige Rechtslücke vorliege. Dem vermag der erkennende Senat nicht zu folgen.

Eine derartige erweiternde Auslegung des § 1251a Abs 2 Satz 2 RVO gegen dessen eindeutigen Wortlaut würde eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes bei der Beschränkung des alleinigen Erklärungsrechts auf den Vater voraussetzen. In solchen Fällen hat die Rechtsprechung den Wortlaut des Gesetzes zu beachten und davon auszugehen, daß dieser den Willen des Gesetzgebers zutreffend zum Ausdruck bringt, sofern sich nicht aus der Entstehungsgeschichte sowie dem Zweck und Inhalt der Vorschrift konkrete Anhaltspunkte ergeben, die mit hinreichender Sicherheit den Schluß auf ein planwidriges Unterlassen des Gesetzgebers zulassen (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 17. November 1987 in BSGE 62, 246 = SozR 7130 § 99 Nr 4 mwN). Eine derartige Schlußfolgerung läßt sich weder aus der Entstehungsgeschichte des § 1251a Abs 2 RVO noch aus dem systematischen Gesamtzusammenhang des Gesetzes ziehen.

Eine Lücke liegt schon aufgrund der Formulierung des Gesetzes nicht nahe. Es erscheint unwahrscheinlich, daß der Gesetzgeber die Möglichkeit des Todes des Vaters vor dem Tode der Mutter nicht gesehen haben sollte, als er den - vorzeitigen - Tod der Mutter in § 1251a Abs 2 Satz 2 RVO besonders regelte. Die Richter der Vorinstanzen haben einen Wertungswiderspruch darin gesehen, daß die Mutter zu Lebzeiten des Vaters eine entscheidende Stellung hat (gegen ihren Willen ist eine Anrechnung der Kindererziehungszeit beim Vater nicht möglich), nach dem Tode des Vaters aber die Anrechnung der Kindererziehungszeit beim Vater nicht erreichen kann. Ein derartiger Wertungswiderspruch ergibt sich aber bei näherer Betrachtung nicht.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der Grundlage der geltenden Gesetzesfassung war, sah für Kindererziehungszeiten vor dem 1. Januar 1986 eine Anrechnung nur bei der Mutter vor (BT-Drucks 10/2677, S 3). Hiergegen wurden sowohl vom Bundesrat in seiner Stellungnahme (BR-Drucks 500/84 - Beschluß, S 4 -) als auch bei der ersten Anhörung von Sachverständigen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Bedenken geäußert. Im Ausschuß wurde insbesondere auch angesprochen, daß danach selbst beim Tod der Mutter im Kindbett keine Leistungen für die Kindererziehung anrechenbar seien (Stenografisches Protokoll der 49. Sitzung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 28. Februar 1985, S 184 und 202). Diese Bedenken erklären auch die Sonderregelung für den Fall des Todes der Mutter nach Ablauf der Kindererziehungszeit. Stirbt die Mutter, ohne daß die Eltern gemeinsam eine Erklärung nach § 1251a Abs 2 Satz 1 RVO abgegeben haben, setzt die Gewährung von Leistungen aus der Kindererziehungszeit an den Vater zunächst voraus, daß der Vater hinterbliebenenrentenberechtigt ist. Selbst wenn er der Witwer ist oder seine Ehe mit der Mutter vor dem 1. Juli 1977 getrennt wurde, wird er häufig keine Leistungen erhalten. Bei dem Tod der Mutter vor dem 1. Januar 1986 wäre der der Witwerrente zugrundeliegende Versicherungsfall vor dem in Art 2 § 5c Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) bestimmten Stichtag eingetreten. Deshalb nimmt der Gesetzgeber für diese Fälle, sogar ohne Erklärung des Vaters, eine Anrechenbarkeit in seiner Versicherung an (§ 1251a Abs 2 Satz 4 RVO). Beim Tod der Mutter nach dem 31. Dezember 1985 wird es aufgrund der Anrechnungsvorschrift des § 1281 RVO und der im Durchschnitt wesentlich höheren Einkommen von Männern ebenfalls häufig nicht zu Leistungen aus der Kindererziehungszeit kommen. Renten an frühere Ehegatten werden ebenfalls nur unter engen Voraussetzungen gewährt (§ 1265 RVO). Auch diese Leistung wird Männern selten erbracht. Die Kindererziehungszeit würde deshalb beim Tod der Mutter ohne das nachträgliche alleinige Erklärungsrecht des Vaters iS des § 1251a Abs 2 Satz 2 RVO zumeist verfallen.

Bei dieser Sach- und Rechtslage bestand ein - einseitiges - Regelungsbedürfnis, dem die Mutter des Kindes überlebenden Vater die Erziehungszeiten im Rahmen seiner eigenen Versicherung zu erhalten. § 1251a Abs 2 Satz 2 RVO stellt sich demnach als Härtefallregelung dar. Zu einem solchen Härtefall kann es aber beim Tod des Vaters vor dem Tode der Mutter nicht kommen, denn hier erhält regelmäßig ein erziehender Elternteil - nämlich die Mutter - eine Leistung aus der Kindererziehungszeit, wobei die Mutter gemäß Art 2 § 51b ArVNG sogar noch die zur Erfüllung der Mindestwartezeit erforderlichen Beiträge gegebenenfalls nachentrichten kann.

Eine vom Wortlaut der Vorschrift abweichende Auslegung des § 1251a Abs 2 Satz 1 und 2 RVO ist entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht aufgrund der allgemein gehaltenen öffentlichen Aufrufe der Versicherungsträger zur Meldung von Kindererziehungszeiten an die gesetzliche Rentenversicherung (vgl zB Nachrichten der Landesversicherungsanstalt -LVA- Hessen 1-1988 und 1-1989) geboten. Deren Inhalt kann hier schließlich auch keinen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch (vgl die Urteile des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1290 Nr 11 und § 1241d Nr 9 jeweils mwN) iS des Klagebegehrens begründen. Denn die Eheleute hatten - wie das diesbezügliche Vorbringen der Klägerin bereits im Widerspruchsverfahren zeigt - von Anfang an die konkrete Absicht, die Kindererziehungszeiten für ihre Tochter "auf das Versichertenkonto des Vaters eintragen zu lassen", was sodann allein durch den frühzeitigen Tod des Versicherten, also nicht etwa durch den Inhalt der genannten öffentlichen Aufrufe der Versicherungsträger vereitelt worden ist.

§ 1251a Abs 2 Satz 2 RVO verstößt auch nicht gegen das Gleichberechtigungsgebot des Art 3 Abs 2 Grundgesetz (GG). Danach darf niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden. Eine Differenzierung nach dem Geschlecht ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn im Hinblick auf die objektiven biologischen oder funktionalen Unterschiede nach der Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses eine besondere Regelung erlaubt oder sogar geboten ist (so die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts -BVerfG-, vgl Beschluß vom 28. Januar 1987 in BVerfGE 74, 163, 179 mwN). Bei der diesbezüglichen Prüfung kann § 1251a Abs 2 Satz 2 RVO nicht isoliert betrachtet werden. Nur die Gesamtbetrachtung der Regelung, in die diese Vorschrift hineingestellt ist, kann ergeben, ob eine unzulässige Benachteiligung der Mutter vorliegt. § 1251a Abs 2 Satz 2 RVO ist Teil der Regelung der Anrechenbarkeit von Kindererziehungszeiten bei gemeinsamer Erziehung des Kindes durch die Eltern. Dabei ist der Mutter insofern eine stärkere Stellung eingeräumt worden, als die Kindererziehungszeiten immer ihr angerechnet werden, wenn sich Mutter und Vater über die Anrechnung nicht einig sind (§ 1251a Abs 2 Satz 1 RVO). Derartige Ungleichbehandlungen sind jedoch zulässig, wenn der Gesetzgeber einen sozialstaatlich motivierten typisierenden Ausgleich von Nachteilen vornimmt, die ihrerseits auch auf biologische Unterschiede zurückgehen (BVerfG - Beschluß vom 28. Januar 1987 aaO, S 180). Dieser Nachteil liegt darin, daß bei einem Zusammenleben von Mutter, Vater und Kind, wie es § 1251a Abs 2 RVO voraussetzt, typischerweise die Erwerbstätigkeit der Mutter unterbrochen worden ist. Das alleinige Erklärungsrecht des Vaters nach dem Tod der Mutter iS des § 1251a Abs 2 Satz 2 RVO kompensiert lediglich eine Auswirkung dieser (zulässigen) Ungleichbehandlung. Er kann die Kindererziehungszeit dann beanspruchen, wenn ein Verlust dieser Versicherungszeit bei der Mutter nicht mehr zu besorgen ist. Eine vergleichbare Situation tritt beim Tode des Vaters zu Lebzeiten der Mutter nicht ein.

Da sich die Revision der Beklagten nach alledem als begründet erweist, hatte der Senat in der Sache selbst zu entscheiden (§ 170 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 181

NJW 1990, 1811

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