Entscheidungsstichwort (Thema)

Mehrere prozessuale Ansprüche

 

Leitsatz (redaktionell)

Betrifft eine Berufung mehrere prozessuale Ansprüche, so ist die Zulässigkeit für jeden Anspruch gesondert zu prüfen. Das gilt auch dann, wenn diesen Ansprüchen der Anspruchsgrund (Streitstoff) gemeinsam ist.

 

Normenkette

SGG § 146 Fassung: 1958-06-25, § 143 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.07.1975; Aktenzeichen L 18 An 238/74)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 15.07.1974; Aktenzeichen S 3 (19) An 83/71)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. Juli 1975 geändert.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15. Juli 1974 wird als unzulässig verworfen, soweit sie die Rentenhöhe für die Zeit bis 31. Dezember 1973 betrifft. Soweit es sich um die Rentenhöhe für die Zeit vom 1. bis 31. Januar 1974 handelt, wird die Berufung als unbegründet zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten der beiden ersten Rechtszüge zu einem Drittel und die des Revisionsverfahrens voll zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beklagte bewilligte dem Kläger ab März 1968 eine - zuletzt durch Bescheid vom 25. Juli 1973 neu berechnete - Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU). Der Kläger erhob Klage wegen der Rentenhöhe. Während das Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) schwebte, wandelte die Beklagte durch Bescheid vom 11. Februar 1974 die Rente mit Wirkung vom 1. Januar 1974 in ein Altersruhegeld um.

Das SG hat durch Urteil vom 15. Juli 1974 die genannten Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, die Rente des Klägers neu zu berechnen; der Kläger sei dabei für die Zeit von August 1949 bis Juli 1961 in die Leistungsgruppe B 1 der Anlage 1 zu § 22 Fremdrentengesetz (FRG) einzustufen. Im übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers im ersten Rechtszug zur Hälfte der Beklagten auferlegt.

Die Beklagte legte wegen der Einstufung für die Zeit bis August 1956 Berufung ein; sie verlegte während des Berufungsverfahrens durch Bescheid vom 4. Februar 1975 den Zeitpunkt der Umwandlung der EU-Rente in das Altersruhegeld auf den 1. Februar 1974.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 15. Juli 1975 das Urteil des SG geändert und die Klage auch hinsichtlich der Einstufung für die Zeit von August 1949 bis August 1956 abgewiesen. Nach diesem Urteil sollte die Beklagte die außergerichtlichen Kosten des Klägers im ersten Rechtszug nur zu einem Drittel und im zweiten Rechtszug zu keinem Teil erstatten.

In der Begründung seiner Entscheidung hielt das LSG die Berufung für zulässig, auch soweit sie sich auf die Höhe der bis zum 31. Januar 1974 gewährten EU-Rente bezog. Obgleich die Berufung insoweit Rente für einen bei Verkündung des erstinstanzlichen Urteils bereits abgelaufenen Zeitraum betreffe, sei sie nicht nach § 146 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen. Der Grundsatz, daß bei Klagehäufung die Zulässigkeit der Berufung für jeden Anspruch gesondert zu prüfen sei, könne nicht gelten, wenn der Streitstoff wie hier für beide Leistungszeiträume identisch sei. Andernfalls bestünde die Gefahr divergierender Entscheidungen. Da das Berufungsgericht ohnehin sachlich entscheiden müsse, fordere auch der Zweck des § 146 SGG nicht dessen Anwendung. Die Berufung sei insgesamt begründet, weil das SG den Kläger für die Zeit vor Vollendung seines 45. Lebensjahres zu Unrecht der Leistungsgruppe B 1 zugeordnet habe.

Auf die Beschwerde des Klägers hat der Senat die Revision hinsichtlich der Rentenbezugszeit bis zum 31. Januar 1974 zugelassen. Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und beantragt,

unter teilweiser Aufhebung des Berufungsurteils die Berufung der Beklagten insoweit zurückzuweisen, als sie sich auf die Rentenhöhe für die Zeit bis zum 31. Januar 1974 bezieht.

Er rügt eine Verletzung von § 146 SGG.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet.

Entgegen der Auffassung des LSG war die Berufung der Beklagten insoweit unzulässig, als sie die Höhe der EU-Rente für die Zeit bis zum 31. Dezember 1973 betraf.

Wenn eine Berufung mehrere prozessuale Ansprüche betrifft, ist die Zulässigkeit der Berufung nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) für jeden Anspruch gesondert zu prüfen. Dieser Grundsatz erleidet, wie der 1. Senat des BSG in Urteilen vom 22.September 1976 - 1 RA 107/75 (SozR 1500 § 146 Nr. 2) und 1 RA 109/75 - klargestellt hat, auch dann keine Ausnahme, wenn der Anspruchsgrund und damit der Streitstoff identisch ist. Dem schließt sich der erkennende Senat an. Die gegenteilige Ansicht führt in die Prüfung der Zulässigkeit Kriterien ein, welche die Vorschriften über den Berufungsausschluß (§§ 144 ff, hier § 146 SGG) nicht enthalten. Sie verkennt die Zweifel, die über die Identität des Streitstoffes bestehen können, und läßt offen, was bei teilweiser Identität zu gelten hätte. Damit widerspricht sie zugleich der Rechtssicherheit (Rechtsklarheit), die für die Zulässigkeit von Rechtsmitteln besonders bedeutsam ist. Auf die Gefahr divergierender Entscheidungen läßt sich in diesem Zusammenhang nicht verweisen. Wenn bei getrennten Klagen mit gleichem Anspruchsgrund (Streitstoff) divergierende Entscheidungen nicht vermeidbar sind, kann diese Gefahr auch bei Klagehäufung nicht eine gleiche Rechtsmittelfähigkeit verschiedener Ansprüche begründen.

Die Berufung der Beklagten betraf für die Zeit vor und nach der Rentenumwandlung verschiedene prozessuale Ansprüche. Der Streitgegenstand der vom Kläger erhobenen Anfechtungs- und Leistungsklage war insoweit nicht identisch. Die Klage bezog sich vielmehr auf jeweils verschiedene Renten und Bescheide, zunächst auf die EU-Rente und dann auf das Altersruhegeld. Daß bei der Umwandlung der einen Rente in die andere Besitzstandsgarantien (§ 31 Abs. 2 Satz 2 iVm § 30 Abs. 2 Sätze 3 und 5 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -) zu beachten sind, ist dabei ohne Bedeutung.

Soweit die Berufung die Höhe der EU-Rente betraf, war sie nach § 146 SGG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift ist in Angelegenheiten der Rentenversicherung die Berufung ua nicht zulässig, wenn das Rechtsmittel Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft. Die Abgrenzung dieses Zeitraums richtet sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt, in dem die Berufung eingelegt worden ist. Als die Beklagte ihre Berufung einlegte, betraf der prozessuale Anspruch des Klägers auf höhere EU-Rente die Zeit bis zum 31. Dezember 1973.

Durch die Verlegung des Umwandlungszeitpunktes auf den 1. Februar 1974 im Bescheid vom 4. Februar 1975 hat sich der Berufungsausschluß nicht um einen Monat (Januar 1974) auf die Zeit bis zum 31. Januar 1974 erweitert. Für diesen Monat war die Berufung, als sie eingelegt wurde, nicht ausgeschlossen gewesen. Da die spätere Verlegung des Umwandlungszeitpunktes nicht willkürlich erfolgte, konnte sie nicht nachträglich die Berufung für den Monat Januar 1974 unzulässig machen (vgl. die in SozR Nrn. 6, 8 und 9 zu § 146 SGG entwickelten Grundsätze zur Beschränkung des Berufungszeitraumes nach Berufungseinlegung).

Somit war die Berufung der Beklagten nach § 146 SGG ausgeschlossen, soweit es sich um die Rentenhöhe für die Zeit bis zum 31. Dezember 1973 handelte. Insoweit war die Berufung auch nicht ausnahmsweise nach § 150 SGG zulässig. Das LSG hätte daher die Berufung in diesem Umfang verwerfen müssen.

Soweit es sich um die EU-Rente für den Monat Januar 1974 handelt, ist die Berufung unbegründet. Da das Urteil des SG für die vorhergehende Zeit als rechtskräftig zu behandeln war, war die Beklagte verpflichtet, bei der Neuberechnung der EU-Rente den Kläger für die Zeit von August 1949 bis August 1956 in die Leistungsgruppe B 1 einzustufen und ihm die sich daraus ergebende höhere Rente zu gewähren. Traf das aber zu, dann gab es keine gesetzliche Grundlage, die Rente für den Monat Januar 1974 auf einen geringeren Betrag zu mindern. Die Berufung der Beklagten mußte somit, soweit sie die Rentenhöhe für Januar 1974 betraf, als unbegründet zurückgewiesen werden.

Bei der Kostenentscheidung nach § 193 SGG hat der Senat berücksichtigt, daß der Kläger schon im ersten Rechtszug rechtskräftig mit einem Teil seines Klagebegehrens abgewiesen wurde und im Berufungsverfahren darüber hinaus mit einem weiteren Teil (höheres Altersruhegeld für die Zeit ab 1. Februar 1974 mittels Einstufung in B 1 für den Zeitraum von August 1949 bis August 1956), während er mit seiner Revision vollen Erfolg hatte.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660511

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