Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufung. Ausschluß. Zulässigkeit

 

Orientierungssatz

Nach § 145 Nr 4 SGG ist die Berufung zwar nicht zulässig, soweit sie den Grad der MdE betrifft, ohne daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Rente davon abhängt. Unzulässig ist auch eine Berufung, die Beginn oder Ende der Rente oder nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft (§ 145 Nr 2 SGG). Das bedeutet jedoch nicht, daß die Berufung stets ausgeschlossen ist, wenn einer oder mehrere dieser Streitpunkte Gegenstand des Berufungsverfahrens sind. Handelt es sich um einen einheitlichen prozessualen Anspruch, darf die Zulässigkeit der Berufung nicht danach aufgespalten werden, ob - bei Zulässigkeit der Berufung im übrigen - für einen oder mehrere Streitpunkte dieses Rechtsmittel ausgeschlossen ist, sofern die Klage einen einheitlichen prozessualen Anspruch betrifft (vgl BSG 1970-12-16 2 RU 66/69).

 

Normenkette

SGG § 145 Nrn. 4, 2

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 05.12.1969)

SG Schleswig (Entscheidung vom 29.08.1967)

 

Tenor

Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 5. Dezember 1969 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der in Jugoslawien geborene Kläger erlitt am 27.9.1945 bei einem Verkehrsunfall auf der Fahrt von Schleswig nach Flensburg erhebliche Verletzungen. Durch Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30.10.1964 - 2 RU 48/61 - (BSG 22, 49) wurde die jetzige Beklagte dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger wegen dieses Unfalls Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Nach Einholung fachärztlicher Gutachten stellte die Beklagte durch Bescheid vom 23.9.1966 die Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v.H. für die Zeit vom 30.3.1953 - dem Tag der Antragstellung - an fest. Der Rentenberechnung legte sie, da ein Arbeitsentgelt nicht habe ermittelt werden können und offensichtlich auch nicht gezahlt worden sei, als Jahresarbeitsverdienst (JAV) das Dreihundertfache des Ortslohns zugrunde (§ 563 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF.).

Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage hat der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung der Rente bereits von 1945 an, nach einer MdE um 70 v.H. und nach einem höheren JAV beantragt.

Das Sozialgericht (SG) Schleswig hat einen ärztlichen Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vernommen und sodann durch Urteil vom 29.8.1967 die Klage abgewiesen: Die unfallbedingte MdE betrage 60 v.H.. Mit der Gewährung der Rente vom Zeitpunkt der Antragstellung an habe die Beklagte dem in diesem Rechtsstreit ergangenen (ersten) Urteil des BSG vom 30.7.1958 - 2 RU 236/56 - Rechnung getragen, nach welchem der verspäteten Anspruchsanmeldung (§ 1546 RVO aF) Hinderungsgründe nach § 1547 RVO aF entgegengestanden hätten; ein Anspruch auf Vorverlegung des Rentenbeginns bestehe nicht; es bleibe dem Kläger überlassen, insoweit einen Antrag nach § 627 RVO zu stellen. Der JAV sei, da der Kläger während des letzten Jahres vor dem Unfall lediglich freie Verpflegung und Unterkunft, jedoch keine Barbezüge erhalten habe, zutreffend gemäß § 563 Abs. 3 RVO aF nach dem Ortslohn festgesetzt worden.

Mit der - vom SG nicht zugelassenen - Berufung hat der Kläger den Klaganspruch in vollem Umfang weiter verfolgt und u.a. bemängelt, daß das SG verfahrensfehlerhaft von der Einholung eines aufgrund nochmaliger Untersuchung erstatteten Obergutachtens abgesehen habe.

Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 5.12.1969 die Berufung des Klägers teils als unzulässig verworfen, teils zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Soweit der Kläger sich dagegen wende, daß ihm die Beklagte die Rente nicht schon von 1945 an, sondern erst von der Antragstellung - 30.3.1953 - an gewährt habe, sei die Berufung nach § 145 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - ausgeschlossen, da sie den Beginn der Rente betreffe. Soweit der Kläger eine unfallbedingte MdE von 70 v.H. statt 60 v.H. geltend mache, sei das Rechtsmittel nach § 145 Nr. 4 SGG unzulässig, da es den Grad der MdE betreffe, ohne daß davon die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Rente abhänge. Ein Anwendungsfall des § 150 Nr. 1 und 3 SGG scheide aus; der vom Kläger gerügte wesentliche Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens (§ 150 Nr. 2 SGG) liege nicht vor; das SG habe den Grad der unfallbedingten MdE vielmehr verfahrensfehlerfrei ermittelt. Soweit der Kläger sich schließlich gegen die der Rente zugrundeliegende Festsetzung des JAV wende, sei die Berufung zwar zulässig, aber nicht begründet. Da der Kläger während des Jahres vor dem Unfall nicht gegen Entgelt tätig gewesen sei und sich deshalb die Berechnung des JAV nach § 563 RVO aF nicht durchführen lasse, habe die Beklagte zutreffend gemäß § 566 RVO aF den JAV nach billigem Ermessen festgestellt; da sich eine eindeutige berufliche Qualifikation des Klägers nicht habe feststellen lassen, enthalte die Entscheidung der Beklagten, das Dreihundertfache des Ortslohns (§ 563 Abs. 3 RVO aF) als Mindestsatz des JAV bei der Rentenberechnung zugrundezulegen, keine rechtserheblichen Fehler.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Dieses Urteil ist dem Kläger am 20.1.1970 zugestellt worden. Am 20.2.1970 hat er um Bewilligung des Armenrechts nachgesucht. Diesem Gesuch hat das BSG durch den dem Kläger am 29.10.1970 zugestellten Beschluß vom 16.10.1970 entsprochen. Durch die als Prozeßbevollmächtigte beigeordnete Rechtsanwältin S hat der Kläger sodann am 20.11.1970 Revision eingelegt und diese zugleich begründet sowie mit dem Hinweis auf seine Armut, die ihn gehindert habe, rechtzeitig einen beim BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten zu beauftragen, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisions- und Revisionsbegründungsfrist beantragt.

Die Revision rügt als wesentlichen Verfahrensmangel, das LSG habe zu Unrecht die Berufung teilweise verworfen. Der vom Kläger erhobene einheitliche Rentenanspruch könne hinsichtlich der Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht aufgespalten werden. Da die Berufung, soweit sie den JAV betreffe, nicht ausgeschlossen sei, hätte das LSG infolgedessen auch über den Rentenanspruch für die Zeit von 1945 bis zum 29. März 1953 sowie über den Grad der MdE in der Sache entscheiden müssen. Darüber hinaus habe das LSG verkannt, daß die Berufung insgesamt jedenfalls nach § 150 Nr. 2 SGG zulässig sei, weil das SG Verfahrensvorschriften verletzt habe. Das SG hätte sich nicht über die bindende Entscheidung des BSG (Urteil vom 30.7.1958 - 2 RU 236/56 -) in dieser Sache hinwegsetzen dürfen (§ 170 SGG), nach welcher der verspäteten Anspruchsanmeldung Hinderungsgründe i.S. von § 1547 RVO aF entgegenstanden, so daß der Rentenanspruch auch für die Zeit vor der Anmeldung begründet sei. Diesen Verfahrensverstoß hätte das LSG von Amts wegen beachten müssen. Schließlich sei es, wie der Kläger bereits im Berufungsverfahren gerügt habe, verfahrensfehlerhaft, daß das SG seine Entscheidung auf die von der Beklagten eingeholten Gutachten gestützt und selbst lediglich einen Terminsachverständigen gehört habe, anstatt ein Obergutachten von einem ärztlichen Sachverständigen anzufordern. Soweit das LSG in der Sache entschieden habe, sei den Entscheidungsgründen nicht zu entnehmen, weshalb die Beweisangebote des Klägers, die der Vervollständigung des Sachverhalts hätten dienen sollen, übergangen worden seien; entgegen der Ansicht des LSG habe der Kläger Anhaltspunkte dafür vorgetragen, daß die von ihm bis zum Unfall geleisteten Kurierdienste ein besonderes Vertrauensverhältnis voraussetzten, so daß sie nicht einer einfachen Botentätigkeit vergleichbar gewesen seien; die Festsetzung des JAV beruhe danach auf einem unvollständig ermittelten Sachverhalt.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des ihm zugrunde liegenden Urteils des SG Schleswig vom 29. August 1967 und des diesem Urteil zugrunde liegenden Verwaltungsaktes nach dem Klageantrag zu erkennen,

hilfsweise,

die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und anderweitigen Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie ist der Auffassung, die von der Revision gerügten Verfahrensmängel seien, selbst wenn sie vorlägen, nicht so wesentlich, daß aus diesem Grunde das angefochtene Urteil aufgehoben werden müßte. In der Sache habe das LSG zutreffend entschieden.

II

Die Revision ist zwar nicht innerhalb der Monatsfrist des § 164 Abs. 1 SGG eingelegt und begründet worden. Der Kläger war jedoch infolge seiner - durch behördliches Zeugnis innerhalb der Revisionsfrist nachgewiesenen Armut ohne Verschulden gehindert, die Fristen einzuhalten. Binnen eines Monats nach Wegfall des Hinderungsgrundes, der bis zu dem Zeitpunkt bestand, in welchem Rechtsanwältin S im Armenrecht beigeordnet worden ist, hat er durch seine Prozeßbevollmächtigte Wiedereinsetzung beantragt und zugleich die versäumten Rechtshandlungen nachgeholt. Daher war die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 Abs. 1 und 2 SGG).

Die Revision ist, obwohl das LSG sie nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), auf Grund des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil der Kläger zutreffend als einen wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens rügt, daß das LSG über seinen Rentenanspruch für die Zeit von 1945 bis zum 29. März 1953 sowie über den Grad der MdE keine Sachentscheidung getroffen hat.

Das LSG hat mit Recht angenommen, daß der Berufung ein Ausschlußgrund nach §§ 144 ff SGG nicht entgegensteht, soweit der Kläger mit ihr die Berechnung der Verletztenrente nach einem höheren JAV begehrt. Es hat jedoch nicht berücksichtigt, daß die Zulässigkeit des Rechtsmittels bezüglich dieses Streitpunktes die Notwendigkeit einer Sachentscheidung auch über die anderen Streitpunkte des vom Kläger geltend gemachten einheitlichen Prozessualen Anspruchs auf Verurteilung der Beklagten zur Gewährung der Verletztenrente bewirkt.

Nach § 145 Nr. 4 SGG ist die Berufung zwar nicht zulässig, soweit sie den Grad der MdE betrifft, ohne daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Rente davon abhängt. Unzulässig ist auch eine Berufung, die Beginn oder Ende der Rente oder nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft (§ 145 Nr. 2 SGG). Das bedeutet jedoch nicht, daß die Berufung stets ausgeschlossen ist, wenn einer oder mehrere dieser Streitpunkte Gegenstand des Berufungsverfahrens sind. Handelt es sich - wie hier - um einen einheitlichen prozessualen Anspruch, darf die Zulässigkeit der Berufung nicht danach aufgespalten werden, ob - bei Zulässigkeit der Berufung im übrigen - für einen oder mehrere Streitpunkte dieses Rechtsmittel ausgeschlossen ist (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 16.12.1970 - 2 RU 66/69 - und Brackmann, Handbuch der SozV, 1. - 7. Aufl. S. 250 d I ff). Der erkennende Senat hat im Urteil vom 28. Juni 1957 (BSG 5, 222 ff) entschieden, daß die Berufung nicht nach § 145 Nr. 4 SGG unzulässig ist, wenn außer über den Grad der MdE auch über die Höhe des JAV Streit besteht. An dieser Rechtsprechung hat der Senat für die Zeit nach der Änderung des § 145 SGG durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 25. Juni 1958 (BGBl I 409) festgehalten (Urteile vom 27.8.1969 - 2 RU 195/66 - und vom 29.4.1970 - 2 RU 204/68 - in Breithaupt 1970, 893). Der vorliegende Fall bietet keinen Anlaß, hiervon abzuweichen. Es kann dahinstehen, ob die Berufung, wenn der Kläger mit ihr allein die Gewährung der Rente von 1945 bis zum 29. März 1953 begehrt hätte, nach § 145 Nr. 2 SGG ausgeschlossen wäre. Wegen der Einheitlichkeit des prozessualen Anspruchs hätte das LSG außer über den JAV sowohl über den Grad der MdE als auch darüber eine Sachentscheidung treffen müssen, ob die Beklagte zu Recht die Rente erst vom 30. März 1953 an festgestellt hat (vgl. Brackmann, aaO, S. 250 d II). Da dies nicht geschehen ist, leidet das Berufungsverfahren an einem - von der Revision gerügten - wesentlichen Mangel.

Die hiernach zulässige Revision des Klägers ist auch begründet, weil nicht auszuschließen ist, daß das LSG bei einer Entscheidung in der Sache zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gelangt wäre.

Über die Höhe der MdE hat das LSG keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, so daß der erkennende Senat insoweit in der Sache nicht entscheiden kann. Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Da der Senat wegen der Einheitlichkeit des prozessualen Anspruchs über einen einzelnen Streitpunkt keine bindende Sachentscheidung treffen kann, wird das Berufungsgericht bei seiner neuen Entscheidung auch erneut über die Frage, ob die Beklagte den JAV zutreffend festgesetzt hat, sowie darüber zu befinden haben, ob die Rente mit Recht erst vom 30. März 1953 an gewährt worden ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des Berufungsgerichts vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649702

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