Leitsatz (amtlich)

Eine Rente auf Zeit - mit der Folge, daß der Rentenbeginn um 26 Wochen hinausgeschoben ist - kann auch in Betracht kommen, wenn die Rente für einen ausschließlich in der Vergangenheit liegenden Zeitraum zu bewilligen ist. Sie ist jedenfalls dann nur auf Zeit zu gewähren, wenn zu jeder Zeit der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit begründete Aussicht auf Behebung in absehbarer Zeit bestanden hat.

 

Normenkette

RVO § 1276 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Soweit der Rechtsstreit nicht durch das Teilanerkenntnis der Beklagten vom 24. Januar 1966 in der Hauptsache erledigt ist, wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Dezember 1965 in seinem die Beklagte verurteilenden Teil aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Für das Revisionsverfahren sind keine Kosten zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger, der des öfteren an Zwölffingerdarmgeschwüren gelitten hatte, beantragte im Dezember 1961 Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die beklagte Landesversicherungsanstalt lehnte den Antrag durch Bescheid vom 30. Mai 1962 ab. Die Klage blieb vor dem Sozialgericht Hildesheim ohne Erfolg. Im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen schloß sich die Beklagte der Auffassung des Sachverständigen Dr. S an, daß dem Kläger wegen seiner Gesundheitsstörungen vorübergehend, nämlich vom 1. Oktober 1963 bis Ende Februar 1965, keine Erwerbstätigkeit möglich gewesen sei, im übrigen aber bei ihm zu keiner Zeit die Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit oder gar der Erwerbsunfähigkeit vorgelegen hätten. Dementsprechend erklärte die Beklagte sich bereit, dem Kläger im Wege des Vergleichs eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren, jedoch nur als Zeitrente, d.h. unter Aufschub des Rentenbeginns um 26 Wochen (§ 1276 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Nachdem der Kläger diesen Vorschlag abgelehnt hatte, hat das LSG durch Urteil vom 22. Dezember 1965 - unter Zurückweisung der Berufung im übrigen - die Beklagte verpflichtet, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. Oktober 1963 bis 28. Februar 1965 zu gewähren. Es hat festgestellt: Im Vordergrund der Gesundheitsstörungen des Klägers stehe ein rezidivierendes Zwölffingerdarmgeschwürsleiden. Bei der Antragstellung im Dezember 1961 und in der Folgezeit habe zunächst kein florides Geschwür bestanden. Erst im Oktober 1963 sei erstmals wieder ein frisches Geschwür diagnostiziert worden. Nach Abheilung dieses Geschwürs im Februar 1964 sei im Mai 1964 ein neues Zwölffingerdarmgeschwür aufgetreten. Schließlich sei im September 1964 ein penetrierendes Geschwür im Magen festgestellt worden. Deshalb sei der Magen am 3. Oktober 1964 teilweise reseziert worden. Der Restmagen funktioniere gut. Es seien keine Anzeichen für eine neue Geschwürsbildung im Magen-Darmbereich vorhanden. Von Oktober 1963 bis Ende Februar 1965 - darin sei eine angemessene Rekonvaleszenz nach der Magenoperation einbegriffen - sei dem Kläger wegen des Geschwürsleidens keine Erwerbstätigkeit zumutbar gewesen. Vor und nach dieser Zeit sei sein Leistungsvermögen nicht nennenswert beeinträchtigt gewesen. - In rechtlicher Hinsicht ist das LSG der Auffassung der Beklagten, daß dem Kläger nur eine - vom Beginn der 27. Woche an zu gewährende - Zeitrente zustehe, nicht gefolgt. Es hat ausgeführt: Der Beginn einer Rente, die einem Versicherten für einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Zeitraum zugesprochen werde, richte sich nach § 1290 RVO. Die besonderen Voraussetzungen des § 1276 RVO seien nur dann gegeben, wenn das Ende der Rente zur Zeit ihrer Bewilligung noch in der Zukunft liege; es müsse zu dieser Zeit die "Aussicht" bestehen, daß die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit in absehbarer Zeit behoben "sein werde". Dieses Tatbestandsmerkmal fehle bei einem in der Vergangenheit liegenden Geschehen.

Das LSG hat die Revision zugelassen, die Beklagte das Rechtsmittel eingelegt. Sie begründet es mit folgenden Ausführungen: Das LSG habe den Wortlaut des § 1276 Abs. 1 RVO überbewertet; es habe Sinn und Bedeutung des Rechtsinstituts der Zeitrente verkannt. Die bei rückblickender Beurteilung getroffene Feststellung, Erwerbsunfähigkeit habe nur für einen Zeitraum von - wie hier - 17 Monaten bestanden, stelle gerade den typischen Fall einer nur auf begrenzte Zeit bestehenden Erwerbsunfähigkeit dar und müsse deshalb zu einer Zeitrente nach § 1276 RVO führen. Wenn die Feststellung, daß Erwerbsunfähigkeit bestehe, aber in absehbarer Zeit voraussichtlich wieder behoben sein werde, zu Anfang des fraglichen Zeitraums getroffen worden wäre, würde - auch nach der Auffassung des LSG - eine Zeitrente zu gewähren sein. Ein anderes Ergebnis könne aber nicht dadurch herbeigeführt werden, daß der Versicherte sich in einem Streitverfahren befunden habe und für einen bestimmten Zeitraum, währenddessen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bestanden habe, die entsprechenden Feststellungen erst später getroffen worden seien. In sehr vielen Fällen gebe überhaupt erst die rückblickende Betrachtung des Geschehens Aufschluß darüber, ob die unzweifelhaft vorhandene oder vorhanden gewesene Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit als dauernde oder als zeitige im Sinne des Gesetzes anzusehen sei.

Die Beklagte hat im Revisionsverfahren - am 24. Januar 1966 - den Rentenanspruch für die Zeit vom 2. April 1964 bis zum 28. Februar 1965 anerkannt. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen. Einen entsprechenden Bescheid hat die Beklagte am 9. Mai 1966 erlassen. Sie beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 2. Mai 1963 zurückzuweisen, soweit nicht der Rechtsstreit durch das Teilanerkenntnis vom 24. Januar 1966 in der Hauptsache erledigt ist.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er bezieht sich auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.

Die Revision ist zulässig und begründet.

Entgegen der Auffassung des LSG läßt es schon der Wortlaut des § 1276 Abs. 1 RVO zu, eine Rente auf Zeit - mit der Folge, daß der Rentenbeginn um 26 Wochen hinausgeschoben ist - auch für einen ausschließlich in der Vergangenheit liegenden Zeitraum in Betracht zu ziehen. Das Tatbestandsmerkmal der "begründeten Aussicht auf Behebung der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit in absehbarer Zeit" weist allerdings in die Zukunft, es genügt aber, daß die Aussicht auf Besserung der Leistungsfähigkeit von dem Zeitraum der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit her gesehen in der Zukunft liegt; im Zeitpunkt der Rentenbewilligung braucht sie nicht mehr eine künftige zu sein, vielmehr kann sich dann die "Aussicht" auf Besserung bereits zur "Gewißheit", nämlich zu einer feststehenden Tatsache verdichtet haben. Es ist hier eine ähnliche Betrachtungsweise am Platze wie bei der Prüfung der Voraussetzungen für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit überhaupt. Obwohl § 1246 RVO den Anspruch davon abhängig macht, daß der Versicherte berufsunfähig "ist", muß eine Rente auch dann - für die Vergangenheit - bewilligt werden, wenn der Versicherte zwar eine gewisse Zeit berufsunfähig war, es aber zur Zeit der Bewilligung nicht mehr ist. In gleicher Weise wird die Bewilligung einer Rente (nur) auf Zeit - an die Bezugsberechtigten nach § 1288 RVO - nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Versicherte, nachdem alle Anspruchsvoraussetzungen der §§ 1246, 1276 RVO festgestellt worden sind, unmittelbar vor dem Erlaß des Rentenbescheides tödlich verunglückt. Obwohl hier eine Behebung der Berufsunfähigkeit nicht mehr zu erwarten steht, können die Bezugsberechtigten für die ersten 26 Wochen keine Leistungen verlangen, weil zu Lebzeiten des Versicherten jederzeit mit der Wiederherstellung seiner Berufsfähigkeit in absehbarer Zeit zu rechnen war.

Diese Deutung des Gesetzeswortlauts wird durch den Zweck der Vorschrift über Zeitrenten, vor allem durch den Sinn des Rentenaufschubs um 26 Wochen, bestätigt. In allen Fällen, in denen die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit in der näher umschriebenen Weise als vorübergehend erscheint, soll der Versicherte für eine gewisse kurze Zeit - bis zu einem halben Jahr - von Leistungen aus der Rentenversicherung ausgeschlossen sein, weil angenommen werden kann, daß er diesen Ausfall an Erwerbseinkommen durch Leistungen aus der Krankenversicherung, eigene Ersparnisse oder Unterstützungen durch Angehörige oder Verwandte weitgehend auszugleichen in der Lage ist (vgl. BSG 22, 278, 283; Malkewitz, DRV 1966, 6, 9). Legt man diese Überlegungen des Gesetzgebers zugrunde, so ist im Falle des Klägers ein "Bedarfsfall" für die ersten 26 Wochen ebenso zu verneinen, wie wenn die Rente vor Ablauf des 28. Februar 1965 bewilligt worden wäre. Wäre dies geschehen, so wäre nur eine Rente auf Zeit in Betracht gekommen; denn die Krankheit des Klägers hat - dies läßt der vom LSG festgestellte Sachverhalt erkennen - zu jeder Zeit ihres Bestehens begründete Aussicht auf baldige Behebung der Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit geboten. In einem solchen Falle ist, ohne Rücksicht darauf, daß die Rente auf einen ausschließlich in der Vergangenheit liegenden Zeitraum entfällt, die Leistung nur auf Zeit zu gewähren. Wenn schon bei noch bestehender, aber voraussichtlich in absehbarer Zeit behebbarer Berufsunfähigkeit für die ersten 26 Wochen keine Rente gewährt wird, so muß dies erst recht gelten, wenn der Bewilligungsbescheid zu einer Zeit ergeht, in welcher der Versicherte schon wieder erwerbsfähig ist.

Im vorliegenden Falle ist allerdings die Rente nicht unmittelbar auf den Antrag des Klägers hin, sondern erst im Laufe des Streitverfahrens im Wege des Anerkenntnisses bewilligt worden. Für die rechtliche Beurteilung ist dies jedoch unerheblich.

Der Kläger hat somit keinen Anspruch auf Rente für die ersten 26 Wochen seiner Erwerbsunfähigkeit. Dieses Ergebnis kommt im Urteilsausspruch des Senats zum Ausdruck.

Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 52

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