Leitsatz (amtlich)

1. Der Zulassungsausschuß für Sozialversicherungsärzte in Berlin ist eine Behörde im Sinne des SGG § 193 Abs 4.

2. Die Aufwendungen der Behörden, der Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts sind auch dann nicht erstattungsfähig, wenn sie durch Beauftragung eines Rechtsanwalts mit der Prozeßvertretung vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit entstanden sind. SGG § 193 Abs 3 steht dieser Auslegung des SGG § 193 Abs 4 nicht entgegen.

 

Normenkette

SGG § 193 Abs. 4 Fassung: 1953-09-03, Abs. 3 Fassung: 1953-09-03, § 166 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Sprungrevision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. April 1954 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander die Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Kläger ist Inhaber zweier medizinisch-diagnostischer Institute in B, von denen sich das eine in O (U), das andere in W (P Str. ...) befindet. Der beklagte Zulassungsausschuß für Sozialversicherungsärzte Berlin entzog dem Kläger durch Beschluß vom 26. September 1952 die Zulassung zur Ausübung sozialversicherungsärztlicher Tätigkeit durch Betreiben seines medizinisch-diagnostischen Instituts in Westberlin. Die Entziehung wurde mit § 25 Abs. 1 e der Zulassungsordnung für Sozialversicherungsärzte in B vom 28. August 1951 (GVBl. S. 632) in Verbindung mit §§ 12 und 13 der Zulassungsordnung für medizinisch-diagnostische Institute in B vom 28. August 1951 (GVBl. S. 637) begründet, wonach ein mit einem medizinisch-diagnostischen Institut in W zugelassener Arzt kein anderes medizinisch-diagnostisches Institut in B oder außerhalb B betreiben oder leiten dürfe.

Diesen Beschluß hat der Kläger am 8. November 1952 mit der Klage beim Verwaltungsgericht Berlin angefochten. Nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist die Sache auf das Sozialgericht (SG.) Berlin übergegangen, das die Klage durch Urteil vom 10. April 1954 abgewiesen hat.

Gegen dieses dem Kläger am 18. Mai 1954 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16. Juni 1954 mit Einwilligung des Beklagten beim Bundessozialgericht (BSG.) Sprungrevision eingelegt mit dem Antrag,

das Urteil des SG. Berlin vom 10. April 1954 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG. Berlin zurückzuverweisen,

hilfsweise,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils des SG. Berlin den Beschluß des Beklagten vom 26. September 1952 aufzuheben.

Er hat in der Revisionsbegründung geltend gemacht, daß das SG. Berlin nicht ordnungsmäßig besetzt gewesen sei und ihm die richterliche Unabhängigkeit gefehlt habe; ferner seien die dem angefochtenen Beschluß zugrunde liegenden Zulassungsordnungen nicht ordnungsgemäß verkündet worden; sie verstießen gegen die in Art. 3 und 14 Grundgesetz (GG) verbürgten Grundrechte der Gleichheit und des Eigentums; das SG. habe den Kläger zu Unrecht als Eigentümer, wirtschaftlichen Leiter und unmittelbaren Nutznießer des medizinisch-diagnostischen Instituts "U" im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses angesehen.

Der Beklagte hat darum gebeten, die Revision als unbegründet zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Revision als unzulässig zu verwerfen und die Kosten des Verfahrens der Klägerin aufzuerlegen.

II.

Die gegen das Urteil des SG. Berlin eingelegte Sprungrevision des Klägers ist nicht statthaft. Die Sprungrevision kann nach § 161 SGG nur dann eingelegt werden, wenn Urteile der Sozialgerichte in Fällen der §§ 144 bis 149 SGG ausnahmsweise gemäß § 150 SGG mit der Berufung anfechtbar sind (vgl. BSG. Bd. 1 S. 69). Berufungsausschließungsgründe im Sinne der §§ 144 bis 149 SGG liegen im vorliegenden Rechtsstreit aber nicht vor. Die Berufung war vielmehr, wie das SG. zutreffend in der Rechtsmittelbelehrung zum Ausdruck gebracht hat, nach § 143 SGG uneingeschränkt zulässig. Die Voraussetzungen des § 161 Abs. 1 Satz 1 SGG für die Statthaftigkeit der Sprungrevision sind demnach nicht erfüllt.

Die Sprungrevision wird entgegen der Meinung des Klägers auch nicht dadurch statthaft, daß mit der Revision besonders schwerwiegende Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens gerügt sind, die dem Urteil des SG. Berlin nach Ansicht des Klägers die Wirkung eines Urteils nehmen würden. Selbst wern man davon ausgeht, daß ein Scheinurteil zur Ausräumung des dadurch begründeten Rechtscheins überhaupt rechtsmittelfähig ist, müssen die für das Rechtsmittelverfahren vorgeschriebenen Zulässigkeitsvoraussetzungen gewahrt sein. Die Sprungrevision muß demnach gemäß § 169 SGG als unzulässig verworfen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Im Hinblick auf § 193 Abs. 4 SGG konnte dem Antrag des Beklagten, die durch Beauftragung eines Rechtsanwalts mit seiner Prozeßvertretung entstandenen Kosten dem Kläger aufzuerlegen, nicht entsprochen werden. Der beklagte Zulassungsausschuß ist Behörde im Sinne dieser Vorschrift. Wie der erkennende Senat bereits in seiner Entscheidung vom 17. Februar 1956 - 6 RKa 14/55 - zum Ausdruck gebracht hat, kann der an vielen Stellen des SGG anzutreffende Begriff der "Behörde" nur aus dem Sinnzusammenhang und dem Zweck der jeweiligen gesetzlichen Vorschrift gedeutet werden. Im Falle des § 193 Abs. 4 SGG hat der Gesetzgeber die Aufwendungen der Behörden, der Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts für nicht erstattungsfähig erklärt, und zwar "durch soziale Gründe bedingt" (vgl. die Amtl. Begründung zu § 140 des Entwurfs einer Sozialgerichtsordnung - entspricht dem jetzigen § 193 SGG - Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode, Drucks. Nr. 4357 S. 33). Diese Auffassung knüpft an die - durch § 224 Abs. 3 Nr. 1 SGG aufgehobene - Vorschrift des § 1670 Reichsversicherungsordnung (RVO) an, der den Versicherungsbehörden ein freies, durch Billigkeitsgründe geleitetes Ermessen darüber einräumte, ob und in welcher Höhe die unterlegene Partei dem Gegner im Einzelfall außergerichtliche Kosten zu erstatten hatte. In Anwendung dieses Grundsatzes ist in der Rechtsübung der Versicherungsbehörden den obsiegenden Versicherungsträgern nur in seltenen Ausnahmefällen Kostenersatz zugesprochen worden (RVA. in der Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 2478 - An. 1918 S. 445 -). Die Versicherten konnten demnach schon unter der Herrschaft des § 1670 RVO grundsätzlich ohne Sorge vor den Kostenfolgen ihr Recht suchen. Diese auf den Regelfall abgestellte Rechtsübung hat das SGG in § 193 Abs. 4 zu einem strikten Verbot der Kostenerstattung an alle Behörden, Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts erweitert. Dieser geschichtliche Zusammenhang und der Zweck der Vorschrift berechtigen zu dem Schluß, daß der in § 193 Abs. 4 zum Ausdruck gebrachte gesetzgeberische Gedanke des Schutzes des sozial Schwächeren eine möglichst weite Auslegung dieser Vorschrift verlangt. Daher ist auch der beklagte Zulassungsausschuß, der als Organ der mittelbaren Staatsverwaltung selbständig hoheitliche Befugnisse ausübt, als Behörde im Sinne des § 193 Abs. 4 SGG anzusehen.

Das Verbot der Kostenerstattung in § 193 Abs. 4 SGG erfährt keine Einschränkung durch Abs. 3 dieser Bestimmung. Zwar erklärt § 193 Abs. 3 SGG die Gebühren und die notwendigen Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines Rechtsbeistandes für "stets" erstattungsfähig. Wie jedoch der Zusammenhang dieser Vorschrift mit dem vorhergehenden Absatz erweist, soll § 193 Abs. 3 SGG - wie der in dieser Hinsicht ähnliche § 103 Abs. 2 Militärregierungsverordnung (MRVO) 165 - nur die Prüfung überflüssig machen, ob die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung durch einen Rechtsanwalt oder Rechtsbeistand im Einzelfall zweckentsprechend war. Diese Auffassung deckt sich auch mit der amtlichen Begründung zu der dem jetzigen § 193 SGG entsprechenden Vorschrift des Entwurfs, in der es heißt: "Die Rechtsverteidigung durch einen Rechtsanwalt ist stets zweckentsprechend, weil eine andere Auffassung mit der Stellung des Anwalts nicht vereinbar wäre." (vgl. Amtl. Begründung a. a. O.). § 193 Abs. 3 SGG stellt somit eine Ergänzung des § 193 Abs. 2 SGG dar und schränkt nicht etwa § 193 Abs. 4 SGG in seiner Tragweite ein. Gestützt wird diese Erwägung noch durch den Umstand, daß die in § 193 Abs. 4 SGG genannten öffentlich-rechtlichen Institutionen nach § 166 Abs. 1 SGG von der Verpflichtung befreit sind, sich vor dem BSG. durch die nach § 166 Abs. 2 SGG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten lassen zu müssen. Offenbar ist der Gesetzgeber bei dieser Regelung von der Erwägung ausgegangen, daß die Behörden, Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts in ausreichendem Maße über geschulte Kräfte verfügen, die sie sachgemäß vor dem BSG. vertreten können, und deshalb eine Vertretung durch die zugelassenen Prozeßbevollmächtigten des § 166 Abs. 2 SGG einschließlich der Rechtsanwälte entbehrlich ist (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 25. Januar 1956 - 3 RK 49/55, SozR. § 166 SGG, Da 2 Nr. 6). Deshalb entfällt auch unter diesem Blickwinkel ein innerer Grund, die durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts mit der Prozeßvertretung einer Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts entstandenen. Aufwendungen von den ohne Einschränkung in § 193 Abs. 4 SGG als nicht erstattungsfähig bezeichneten Aufwendungen auszunehmen. Die Erstattung der dem beklagten Zulassungsausschuß durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts entstandenen Aufwendungen konnten daher dem im Prozeß unterlegenen Kläger nicht auferlegt werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325847

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