Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufskrankheit Nr 70. Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule. DDR. Aufgabe der schädigenden Tätigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Auch für die Berufskrankheit Nr 70 der Ersten Durchführungsbestimmung zur Liste der Berufskrankheiten der DDR BKVMBVDBest 1 Nr 70 ist erheblich, ob die Berufskrankheit objektiv zur Aufgabe der schädigenden Tätigkeit gezwungen hat; auf subjektive Vorstellungen des Versicherten oder seines Arbeitgebers kommt es insoweit nicht an (Fortführung von BSG vom 8.12.1983 – 2 RU 33/82 = BSGE 56, 94 = SozR 5677 Anl 1 Nr 46).

Stand: 24. Oktober 2002

 

Normenkette

BKVMBVDBest 1 Nr. 70; BKVMBV § 6 Abs. 3 S. 2; RVO § 1150 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

Thüringer LSG (Urteil vom 16.11.1995; Aktenzeichen L 2 Kn 294/94)

SG Altenburg (Entscheidung vom 18.10.1994; Aktenzeichen S 6 Kn 65/94)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 16. November 1995 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für das Revisionsverfahren zu tragen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt eine Unfallrente aufgrund der Berufskrankheit Nr 70 der Berufskrankheiten-Liste der ehemaligen DDR (Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule durch langjährige mechanische Überbelastungen – BK 70).

Der im Jahr 1958 geborene Kläger war bis zum 30. November 1991, fast 16 Jahre lang, als Hauer bei der SDAG W. … GmbH beschäftigt. Zum 1. Dezember 1991 wurde er – im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen – von der Gesellschaft für Arbeitsförderung W. … O. … mbH übernommen; ab März 1992 wurde er zum Klempner umgeschult. Bei dem Tätigkeitswechsel spielte ein Verdacht auf eine Berufskrankheit der Wirbelsäule keine Rolle. Ein Berufskrankheits-Verdachtsverfahren wurde erst im Juli 1992 durch Meldung der Hausärztin des Klägers eingeleitet. Mit Bescheid vom 6. Juli 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Januar 1994 lehnte die Beklagte einen Anspruch auf Entschädigung ab: Beim Kläger beständen zwar Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule; er habe jedoch – als weitere Anspruchsvoraussetzung – die schädigende Tätigkeit nicht aufgrund der Wirbelsäulenerkrankung aufgegeben, sondern allein aus Gründen der Rationalisierung.

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Altenburg abgewiesen (Urteil vom 18. Oktober 1994). Das Thüringer Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine Unfallrente wegen einer Berufskrankheit (BK) 70 nach einem Grad des Körperschadens von 20 % ab dem 1. Januar 1992 (Leistungsbeginn entsprechend dem Antrag des Klägers) zu gewähren (Urteil vom 16. November 1995). Zur Begründung hat es ausgeführt, zwischen den Beteiligten sei nicht streitig, daß die arbeitstechnischen Voraussetzungen einer BK 70 gegeben seien und daß der Kläger unter Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule leide, die durch langjährige mechanische Überbelastungen verursacht seien; dem schließe sich auch das LSG an. Auch sei die Voraussetzung erfüllt, daß ein Arbeitsplatzwechsel wegen dieser Berufskrankheit durchgeführt wurde. Hierfür reiche nach den von der Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland entwickelten Grundsätzen aus, daß ein objektiver Zwang zur Aufgabe der Tätigkeit bestanden habe; es sei nicht erforderlich, daß der Versicherte auch subjektiv wegen der Berufskrankheit das Arbeitsverhältnis beendet oder daß der Arbeitgeber aus seiner Sicht diesen Grund für maßgeblich gehalten habe. Ähnlich wie nach dem Recht der Bundesrepublik müsse Sinn und Zweck der entsprechenden Voraussetzungen der BK 70 darin gesehen werden, nur schwere Erkrankungen als Berufskrankheiten anzuerkennen sowie den Versicherten präventiv zur Aufgabe der schädigenden Tätigkeit zu zwingen und dadurch eine Verschlimmerung der Krankheit zu verhüten. Eine andere Auslegung würde auch zu Zufallsergebnissen führen.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der Voraussetzungen der BK 70 der Berufskrankheitenverordnung der ehemaligen DDR. Bereits die insoweit vorausgesetzten „erheblichen Funktionseinschränkungen des Bewegungsapparats” seien nicht festgestellt; maßgebend sei insoweit auch die Rechts- und Verwaltungspraxis der ehemaligen DDR.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 16. November 1995 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 18. Oktober 1994 zurückzuweisen,

hilfsweise, das angefochtene Urteil des Thüringer Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt – unter näherer Darlegung –,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Zu Recht hat das LSG im vorliegenden Fall – durch den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 (BGBl II 889, ber 1239) in Bundesrecht transformiertes – Recht der DDR angewandt (§ 1150 Abs 1, Abs 2 Satz 1 und Satz 2 Nr 1 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫; Anl II Kap VIII, Sachgeb F, Abschn III Nr 6 Einigungsvertrag iVm § 23 der Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialpflichtversicherung ≪Rentenverordnung≫ vom 23. November 1979 ≪GBl DDR I, 401≫, zuletzt geändert durch das Rentenüberleitungsgesetz vom 25. Juli 1991 ≪BGBl I 1606≫, sowie Anl II Kap VIII Sachgeb I, Abschn III Nrn 4 und 5 Einigungsvertrag iVm § 221 des Arbeitsgesetzbuchs der DDR vom 16. Juni 1977 ≪GBl DDR I 185≫, zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. Mai 1994 ≪BGBl I 1014≫, sowie der DDR-Verordnung über die Verhütung, Meldung, und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 26. Februar 1981 ≪GBl DDR I 137≫ mit der Ersten Durchführungsbestimmung zu dieser Verordnung – Liste der Berufskrankheiten – vom 21. April 1981 ≪GBl DDR I 139≫).

Der Kläger hat einen Anspruch auf eine Unfallrente aufgrund der Berufskrankheit Nr 70 der Anlage zur Ersten Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten – Liste der Berufskrankheiten – vom 21. April 1981. Hiernach setzt die Berufskrankheit „Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule (Bandscheiben, Wirbelkörperabschlußplatten, Wirbelfortsätze, Bänder, kleine Wirbelgelenke) durch langjährige mechanische Überbelastungen” voraus: „Erhebliche Funktionseinschränkungen des Bewegungsapparates mit Aufgabe der schädigenden Tätigkeit.”

Der Senat ist nicht gehindert, die Auslegung und Anwendung des im vorliegenden Fall kraft ausdrücklicher Anordnung des Einigungsvertrages anwendbare Recht der DDR nachzuprüfen. Es handelt sich insoweit um Recht, das sich über den Bezirk eines LSG hinaus erstreckt (§ 162 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

Entgegen der Ansicht der Revision ist das Kausalitätserfordernis der genannten Voraussetzung „mit”) auch dann erfüllt, wenn die erheblichen Funktionseinschränkungen des Bewegungsapparates infolge der berufsbedingten Verschleißkrankheit der Wirbelsäule objektiv schon im Zeitpunkt einer aus anderen Gründen erfolgten Berufsaufgabe zu einem entsprechenden Schritt zwangen.

Der Senat ist nicht gehindert, die einschlägigen Vorschriften nach den allgemeinen Auslegungsregeln eigenständig auszulegen. Er führt für den vorliegenden Fall – wie bereits das LSG – die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum tätigkeitsbezogenen Tatbestandsmerkmal „zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung oder jeder Erwerbstätigkeit gezwungen haben” der 7. Berufskrankheiten-Verordnung (s Urteil vom 8. Dezember 1983, BSGE 56, 94, 98 mwN = SozR 5677 Anl 1 Nr 46 Nr 12; vgl auch BSG vom 27. November 1985, SozR 5670 Anl 1 Nr 4302 Nr 2 S 6) fort. Hiernach muß der Zwang zum Berufswechsel bzw zur Aufgabe der Beschäftigung als Voraussetzung für die Anerkennung einer Berufskrankheit objektiv gegeben sein; er ist nicht von den subjektiven Vorstellungen des Versicherten abhängig. Dies bedeutet jedoch gleichermaßen, daß diese Voraussetzung auch dann vorliegt, wenn die Berufskrankheit für die Willensentschließung des Versicherten, die berufliche Beschäftigung aufzugeben, nicht maßgebend war, jedoch ein „objektiver Zwang” zur Berufsaufgabe vorlag. Dies aber hat das LSG in revisionsrechtlich nicht angreifbarer Weise aufgrund der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen, gegen die die Revision keine Verfahrensrügen erhebt (§ 163 SGG), angenommen.

Unerheblich ist, daß im DDR-Recht der Wortlaut des tätigkeitsbezogenen Tatbestandsmerkmals „mit Aufgabe der schädigenden Tätigkeit”) vom Wortlaut des Bundesrechts abwich, auf dem die oa Rechtsprechung beruhte. Denn jedenfalls liegt beiden Vorschriften der gleiche Sinn und Zweck zugrunde. Die Unterlassensregelungen der BK-Listen sowohl des Bundes- als auch des DDR-Rechts rechtfertigen sich aus zwei Gesichtspunkten: Zum einen sollen sie gewährleisten, daß als Berufskrankheit nur Gesundheitsstörungen von gewisser Schwere entschädigt werden; zum anderen sollen die Versicherten – als Ausdruck der Prävention – vor einer weiteren Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes bewahrt werden. Beiden Zwecken aber wird unter Berücksichtigung (auch/nur) des „objektiven Zwangs” für eine Tätigkeitsaufgabe angemessen Rechnung getragen. Diese Auslegung der Unterlassungsregelungen vermeidet zudem Zufallsergebnisse.

Der Senat kann offenlassen, wie zu entscheiden wäre, wenn festgestellt werden könnte, daß die Verwaltungspraxis der DDR einen solchen „objektiven Zwang” als Voraussetzung der Kausalität zwischen der berufsbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigung und der Aufgabe der schädigenden Tätigkeit nicht hätte ausreichen lassen. Damit kann auch unentschieden bleiben, welchem Gewicht einer Verwaltungspraxis der DDR für die Auslegung von in Bundesrecht transformierten DDR-Recht auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung zukommt. Diese Normen dienten insoweit der zeitlich befristeten Wahrung eines in der ehemaligen DDR etablierten rechtlichen Status quo bis zur endgültigen Überleitung des Unfallversicherungsrechts (für die Fortgeltung der Berufskrankheiten-Liste der DDR bis zum 31. Dezember 1991 s die Erläuterung zu Anl II zum Einigungsvertrag, Kap VIII, Sachgeb I, Abschn III, BT-Drucks 11/7817, S 158; ferner allgemein die Denkschrift zum Einigungsvertrag, Erläuterung zu Kap VII, 3. Abs, BT-Drucks 11/7760, S 369). In einem derartigen Regelungszusammenhang könnte der historischen Auslegung im Zusammenspiel der verschiedenen Auslegungskriterien ein besonderes Gewicht zukommen; Ausgangspunkt hierfür wäre die Konkretisierung der Norm durch die Rechts- und Verwaltungspraxis der DDR (hierzu Oetker, JZ 1992, 608, 611; vgl auch BGH vom 22. Juni 1993, BGHZ 123, 65, 68, 71 f).

Dem wiederum könnte jedoch entgegengehalten werden, daß, wenn der Einigungsvertrag die Fortgeltung bestimmter Normen des DDR-Rechts anordnet, er „- allenfalls – deren damals bekannten Text in sich aufgenommen und insoweit in den Rang einer Rechtsquelle erhoben” hat, nicht jedoch eine uU kaum rekonstruierbare Verwaltungspraxis der DDR (so BSG 4. Senat vom 24. August 1994, SozR 3-8570 § 17 Nr 1 S 12 für eine behauptete, dem Wortlaut widersprechende Verwaltungspraxis; vgl auch BSG 4. Senat vom 5. März 1996, SozR 3-8120 Kap VIII H III Nr 9 Nr 5 S 56). Gegen eine – wie immer geartete – Bindung an die Verwaltungspraxis der DDR zum Recht der Berufskrankheiten spricht darüber hinaus auch, daß noch nicht einmal auf eine DDR-Rechtsprechung zur Auslegung der Voraussetzungen der BK 70 zurückgegriffen werden kann. Denn in der DDR gab es bis zum Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990 (BGBl II 537) keine Gerichtszuständigkeit für sozialversicherungsrechtliche Streitigkeiten; nach Art 6 Abs 2 des genannten Vertrages sollte erst eine solche etabliert werden. Deswegen kann die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur übergangsrechtlichen Anwendung von Vorschriften des DDR-Zivilgesetzbuches unter Verwendung der Richtlinien und Hinweise des Obersten Gerichts der DDR und von DDR-Gerichtsurteilen (vgl BGH vom 22. Juni 1993, BGHZ 123, 65, 68, 71 f) nicht ohne weiteres auf Fälle wie den vorliegenden übertragen werden.

Dessen ungeachtet gelangt der Senat aber selbst unter Verwertung der Verwaltungspraxis der DDR zu keinem anderen Ergebnis. Denn es läßt sich nicht im erforderlichen Maße feststellen, daß in der DDR eine derartige die Entschädigungsvoraussetzungen zusätzlich verschärfende Rechtsanwendungspraxis bestand.

Bedeutsamstes Hilfsmittel für die Ermittlung der Verwaltungspraxis zur BK 70 sind – auch nach der DDR-Literatur zu dieser Berufskrankheit – die „Empfehlungen zur Einleitung und Durchführung der Begutachtung bei Verdacht auf berufsbedingte Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule (BK 70)” vom März 1985, verfaßt von der Obergutachtenskommission Berufskrankheiten beim Zentralinstitut für Arbeitsmedizin der DDR (abgedruckt zB in Bräunlich ua, Berufskrankheiten im Gebiet der neuen Bundesländer ≪1949 – 1990≫, 1994, S 284; s ferner HV-INFO 1992, 940 mit teilweise leicht abweichendem Wortlaut; zu Aufgaben und Arbeitsweise der Obergutachtenskommission s Bräunlich ua aaO S 242 f).

Hierin wird ua erläutert

(zu 1.2.): „Die Aufgabe der schädigenden Tätigkeit muß ausschließlich durch die berufsbedingte Wirbelsäulenerkrankung (BK-Verdacht) erzwungen sein. Bei Aufgabe der bisherigen Tätigkeit bzw Wechsel des Arbeitsplatzes durch anderweitige Erkrankungen ist die Voraussetzung für eine BK 70 (Nebenbefund, Nebenerkrankung) nicht gegeben.” sowie (zu 1.3.): „Krankheiten, die eine ‚erhebliche Funktionseinschränkung’ bedingen und die Aufgabe ‚der schädigenden Tätigkeit’ erzwingen, müssen auch zu Behandlungen bzw Arbeitsausfallzeiten geführt haben.”

Weiterhin ist ausgeführt

(unter 2.2.): „Aufgabe der Tätigkeit

Gutachterlich ist festzustellen, ob die erfolgte oder beabsichtigte Aufgabe der Tätigkeit tatsächlich durch die Funktionsstörung erzwungen wurde. Aufgabe der Tätigkeit und Arbeitsplatzwechsel aus anderen Gründen (Qualifikation, Betriebsverlagerung, Produktionsumstellung, persönliche Wünsche usw) stellen nicht den vom Gesetzgeber geforderten Zwang zur Aufgabe der Tätigkeit dar.”

Zu Recht hat bereits das LSG in diesen „Empfehlungen” nicht die Fälle geregelt gesehen, in denen aus berufskrankheitsbedingten Gründen zwar eine Aufgabe der Tätigkeit erforderlich ist, diese aber tatsächlich aus anderen Gründen erfolgt. Eine Aussage hierzu kann auch nicht den Ausführungen der „Empfehlungen” entnommen werden, das Bestehen einer berufsbedingten Verschleißkrankheit der Wirbelsäule als „Nebenbefund” oder „Nebenerkrankung” erfülle nicht die Voraussetzungen für eine BK 70. Denn eine Feststellung als „Nebenbefund” oder „-erkrankung” setzt eine medizinische Beurteilung unter Angabe eines „Hauptbefundes” voraus. Besteht jedoch eine gravierendere Erkrankung, die für den Arbeitsplatzwechsel den Wirbelsäulenbefund lediglich als „Nebenbefund” erscheinen läßt, erfolgt auch nach der hier fortgeführten Rechtsprechung des BSG kein durch die Berufskrankheit (wesentlich) bedingter Arbeitsplatzwechsel.

Ebenfalls nicht aussagekräftig ist, daß nach den „Empfehlungen” die Tätigkeitsaufgabe bzw der Arbeitsplatzwechsel aus anderen Gründen (ua Betriebsverlagerung, Produktionsumstellung) nicht als ausreichend angesehen wird. Die Fallgestaltung eines daneben bestehenden „objektiven Zwangs” für eine gesundheitsbedingte Aufgabe der Tätigkeit wird hiermit nicht eindeutig angesprochen.

Folgerungen für die hier vorliegende Fallkonstellation können ferner nicht daraus gezogen werden, daß das Berufskrankheitenrecht der DDR bereits im Jahre 1957 (Verordnung über Melde- und Entschädigungspflicht bei Berufskrankheiten vom 14. November 1957 ≪GBl DDR 1958 I 1≫) innerhalb der damaligen BK Nr 22 „Arbeitsbedingte Erkrankungen der Bandscheiben” als Berufskrankheiten nur dann angesehen hatte, wenn sie „zur Aufgabe der schädigenden Tätigkeit oder jeder Erwerbstätigkeit zwingen” (ähnlich die Unterlassungsklauseln der 3. bis zur 6. BKVO nach früherem Reichs- bzw Bundesrecht; vgl Keller, SozVers 1995, 264 f). Hiervon weicht die Neuformulierung der entsprechenden Berufskrankheit als BK 70 idF des Jahres 1981 nicht in einer Weise ab, die nunmehr einen „lediglich” objektiven Zwang als Anerkennungsvoraussetzung von vornherein ausgeschlossen hätte. Hieran ändert auch der Umstand nichts, daß die Neufassung 1981 als „erhebliche Verschärfung der Kriterien” (so Heuchert in: Gutachtenkolloquium 8 ≪1993≫, 3, 4) angesehen wurde.

Schließlich haben auch die vom Senat verwerteten weiteren Unterlagen keine Aufklärung zu der hier – möglicherweise – erheblichen Zweifelsfrage gebracht (im vorliegenden Zusammenhang unergiebig ist der „Authentische Kommentar der Obergutachtenskommission Berufskrankheiten zum Arbeitsplatzwechsel und der Aufgabe der schädigenden Tätigkeit bei Berufskrankheiten”, 1988, veröffentlicht in: Bräunlich ua, Berufskrankheiten im Gebiet der neuen Bundesländer ≪1949-1990≫, 1994, S 245; vgl auch Heuchert in: Konetzke/Rebohle/Heuchert ≪Hrsg≫, Berufskrankheiten, Gesetzliche Grundlagen zur Meldung, Begutachtung und Entschädigung, 3. Aufl, Berlin ≪Ost≫ 1988, S 104, insbesondere S 110 ff; ferner die nach der Wiedervereinigung erschienenen Aufsätze von Krüger, ASPMed 1991, 9; Zweiling, BG 1993, 246 und Müller ua, BG 1996, 760. Aus der letztgenannten Veröffentlichung ≪aa0 762≫ kann allenfalls geschlossen werden, daß – wie auch bereits nach den „Empfehlungen” des Jahres 1985 – „äußere Gründe” zur Aufgabe der angeschuldigten Tätigkeit nach Ansicht der Verfasser nicht für eine Anerkennung der BK 70 reichen, nicht jedoch, wie deren Tatbestand für den Fall des „objektiven Zwangs” zu verstehen war); diese enthalten auch keine Hinweise auf mögliche weitere, allgemein zugängliche Erkenntnisquellen.

Zu weitergehenden Ermittlungen der Verwaltungspraxis der DDR sieht sich der Senat von vornherein nicht veranlaßt. Denn auch wenn das übergangsrechtlich fortgeltende DDR-Recht nur unter Beachtung der früheren Rechts- und Verwaltungspraxis anzuwenden wäre, könnte dies jedenfalls nicht zur Verpflichtung führen, diese über das allgemein zugängliche Maß hinaus aufzuklären.

Die Revision führt auch insoweit nicht zum Erfolg, als sie bemängelt, das LSG habe keine Feststellungen zu der als Voraussetzung der BK 70 ebenfalls geforderten „erheblichen Funktionseinschränkungen des Bewegungsapparates” getroffen. Jedenfalls lassen sich die zur Erfüllung dieser Voraussetzung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen dem Berufungsurteil entnehmen. Für die Auslegung der genannten Voraussetzung schließt sich der Senat den – insoweit eindeutig vorliegenden – Vorgaben der „Empfehlungen” an. Hiernach (Zu 2.3 – Erheblichkeit der Funktionsstörung) muß eine „erhebliche” Funktionsminderung einen Körperschaden von mindestens 20 % bedingen sowie (Zu 1.3, Abs 1, Satz 4) zu Behandlungen oder Arbeitsausfall geführt haben. Ein entsprechendes Ausmaß des Körperschadens hat jedoch das LSG – von der Revision nicht angegriffen – festgestellt; ebenso ergibt sich aus den vom LSG in Bezug genommenen Verwaltungsakten der Beklagten, daß der Kläger sich im März 1990 einer „prophylaktischen”) Kur wegen Rückenbeschwerden unterzogen hat.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1174685

NJ 1997, 357

SozR 3-8440 § 70, Nr.1

SozSi 1997, 358

SozSi 1998, 278

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge