Orientierungssatz

1. Zum Problem der Prüfung der Prozeßvoraussetzungen und Prozeßfortsetzungsbedingungen in der Revisionsinstanz.

2. Zur Frage ob ein Verfahrensmangel vorliegt, wenn eine - erforderliche Zeugenvernehmung nur deshalb unterbleibt, weil die Zeugen voraussichtlich nichts aussagen können.

 

Normenkette

SGG § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 13.10.1975; Aktenzeichen L 2 J 198/74)

SG Speyer (Entscheidung vom 13.11.1974; Aktenzeichen S 9 J 371/73)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Oktober 1975 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der im Jahr 1913 geborene Kläger, der auf Grund eines am 5. September 1958 bei der C, P, gestellten Antrags eine französische Unfallrente bezieht, beantragte im Dezember 1970 bei der Beklagten Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 24. Januar 1972 bewilligte ihm die Beklagte für die Zeit vom 1. Dezember 1970 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Sie nahm an, daß der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit am 25. Juli 1958 eingetreten sei. Der Bescheid wurde bindend. Im Januar 1973 schrieb der Kläger an das Presse- und Informations-Amt der Bundesregierung, er sei 1961 beim deutschen Generalkonsul in N gewesen und habe seine Probleme vorgetragen, dort habe man ihm erklärt, er solle warten und bekomme zu gegebener Zeit Bescheid; er sehe nicht ein, warum er die Rente nicht schon von einem früheren Zeitpunkt an bekomme. Die Beklagte, an die das Schreiben des Klägers weitergeleitet wurde, faßte die Erklärung als Antrag nach § 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auf, holte eine Auskunft des deutschen Generalkonsulats in N ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 18. April 1973 ab, weil eine frühere Antragstellung nicht nachgewiesen sei. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos.

Mit der bei dem Sozialgericht (SG) in Speyer erhobenen Klage hat der Kläger beantragt, den Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Rente schon ab 1961 zu zahlen. Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt. Das SG hat mit Beschluß vom 17. Juli 1974 dem Kläger "zur Auflage gemacht, dem Gericht Beweise zu erbringen, daß er vor dem 9. Dezember 1970 bei einem französischen Versicherungsträger Antrag auf Rente gestellt bzw. wegen Antrag auf Rente vorgesprochen hat". Darauf hat der Kläger beantragt, als Zeugen über seine Vorsprache bei dem französischen Versicherungsträger Madeleine H geb. H in R und C K in S zu vernehmen. Mit Urteil vom 13. November 1974 hat das SG ohne Beweiserhebung die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist zu dem Antrag auf Vernehmung von Frau H nichts gesagt und im übrigen ausgeführt: Die Vorsprache im Generalkonsulat sei nicht erwiesen. Zu Recht habe die Beklagte auch darauf hingewiesen, daß der genannte Zeuge Charles Z (richtig: K) zugunsten des Klägers nicht vernommen werden könne, da dieser nur angeben könne, daß er den Kläger angeblich wegen einer Vorsprache beim deutschen Generalkonsulat in Nancy gefahren habe. Über eine Zulassung der Berufung enthält das Urteil nichts. In der Rechtsmittelbelehrung heißt es, die Berufung sei nur zulässig, wenn ein wesentlicher Verfahrensmangel gerügt werde.

Mit der Berufung hat der Kläger beantragt, das Urteil aufzuheben, den Bescheid zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, den Rentenanspruch dahin neu festzustellen, daß der Rentenbeginn auf September 1958, hilfsweise auf März 1961 festgesetzt werde, weiter hilfsweise, das Verfahren auszusetzen und den Europäischen Gerichtshof anzurufen. Er hat u. a. gerügt, daß das SG entgegen seinem Antrag die Zeugen nicht vernommen habe. Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung als unzulässig verworfen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist u. a. ausgeführt: Die Berufung sei nach § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) unzulässig. Sie werde auch nicht durch die vom Kläger behaupteten Verfahrensverstöße gerechtfertigt. Das SG habe die beiden Zeugen nicht vernehmen müssen, weil es an den Akteninhalt gebunden gewesen sei, der der Beklagten bei der Überprüfung vorgelegen habe. Die Revision werde zugelassen, weil die Frage, ob gegen die Unterlassung der Zulassung der Berufung ein Rechtsmittel gegeben sei, grundsätzliche Bedeutung habe.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 150 Nr. 1 SGG i. V. m. den Art. 19 Abs. 4 und Art. 28 des Grundgesetzes (GG). Seiner Ansicht nach hätte das LSG seine Berufung als zulässig ansehen oder aber in entsprechender Anwendung des § 160 a Abs. 4 SGG zulassen müssen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe; jedenfalls hätte es nicht durch Prozeßurteil, sondern in der Sache entscheiden müssen.

Er beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 18. April 1973 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, den Beginn der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf den 1. September 1958 festzusetzen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil, das die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen hat, kann keinen Bestand haben. Es war deshalb aufzuheben.

Die bei der zulässigen Revision von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Zulässigkeit der Berufung (BSG 1, 227, 230; 2, 225, 227; 2, 245, 246) ergibt, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Speyer zulässig ist. Zwar kann die Berufung nicht deshalb zulässig sein, weil das SG sie vielleicht entgegen § 150 Nr. 1 SGG in der zur Zeit des Erlasses seines Urteils noch geltenden Fassung vom 23. August 1958 nicht zugelassen hat (SozR Nrn. 8, 12, 17, 19, 29 zu § 150 SGG und zu dem ab 1. Januar 1975 geltenden Verfahrensrecht Urteil vom 20. Januar 1976 - 5 RJ 140/75 -). Die Zulässigkeit der Berufung ergibt sich jedoch aus § 150 Nr. 2 SGG.

Der Kläger hat mit der Berufung u. a. gerügt, daß das SG entgegen seinem Antrag die Zeugen Frau H und K nicht vernommen habe. Diese Rüge greift durch. Das Unterlassen der Vernehmung stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Das LSG hätte prüfen müssen, ob das SG aus seiner, des SG, materiell-rechtlichen Sicht sich hätte gedrängt fühlen müssen, die Zeugen zu vernehmen. Es hätte dies bejahen, einen wesentlichen Verfahrensmangel des SG annehmen müssen und deshalb die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen. Es konnte den für seine Prüfung maßgebenden sachlich-rechtlichen Standpunkt des SG aus dessen Urteil erkennen; denn das SG hat darin klar zum Ausdruck gebracht, daß es die Beweisfrage zutreffend für rechtserheblich gehalten hat. Nach § 103 Satz 1 SGG erforscht das SG den Sachverhalt von Amts wegen. Der vom Kläger geltend gemachte Umstand, er habe den Rentenantrag bereits im Jahr 1961 formlos beim deutschen Generalkonsulat in Nancy gestellt, ist erheblich. Denn einerseits kann der Antrag auf Leistungen der Arbeiterrentenversicherung bei jeder deutschen Behörde - auch mündlich - gestellt werden (§ 1613 Abs. 5 RVO; BSG 2, 273, 275 und SozR Nr. 1 zu § 1613 RVO), andererseits hängt der Beginn der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom Tag der Antragstellung ab (§ 1290 Abs. 2 RVO). Wenn auch das Generalkonsulat keine Unterlagen über eine solche Antragstellung besitzt, so könnte doch auch die Aussage eines glaubwürdigen Zeugen, der bei der Vorsprache und formlosen Antragstellung zugegen war, den erforderlichen Beweis erbringen. Das SG hätte sich deshalb gedrängt fühlen müssen, die beiden Zeugen zu vernehmen. Dabei kann dem Umstand, daß der Kläger zunächst eine Vorsprache bei dem Generalkonsulat und später eine solche bei einem französischen Versicherungsträger behauptet hatte, keine besondere Bedeutung beigemessen werden; denn bei der späteren Version handelt es sich wohl um ein - durch die Auflage des SG verursachtes - Mißverständnis. Was das SG in den Entscheidungsgründen seines Urteils ausführt, um das Unterlassen der Vernehmung zu rechtfertigen, genügt nicht. Der Hinweis auf das, was Z (K) voraussichtlich aussagen würde, ist eine vorweggenommene Beweiswürdigkeit und damit zur Begründung ungeeignet; warum Frau H nicht vernommen wurde, ist überhaupt nicht begründet. Hätte das Gericht die Zeugen vernommen, wäre sein Urteil möglicherweise anders ausgefallen.

Das Berufungsgericht billigt zu Unrecht die Unterlassung der Vernehmung. Seine Ansicht, das SG, das über einen Bescheid nach § 1300 RVO zu entscheiden gehabt habe, hätte überhaupt keine Ermittlungen anstellen dürfen, weil es an den Akteninhalt gebunden sei und nicht in die Beweiserhebung und Beweiswürdigung eintreten dürfe, ist nicht zutreffend. In der Kommentarstelle, auf die es sich bezieht (- Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 5. Aufl., Anm. 2 zu § 1300 RVO -), ist das Urteil des BSG in SozR Nr. 49 zu § 103 SGG (= BSG 28, 179) falsch verstanden. In dem Urteil hat der 11. Senat ausgeführt: Das Gericht dürfe die Sachaufklärung nach § 103 SGG nicht der Verwaltung übertragen. Versäumnisse der Verwaltung entbänden das Gericht nicht von der eigenen Sachaufklärung. Das gelte auch für Streitigkeiten um eine Neufeststellung nach § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - (§ 1300 RVO). Bei der Nachprüfung sei von dem Rechtsstandpunkt der Beklagten auszugehen, das gelte für Tat- und Rechtsfragen gleichermaßen. Auch die Notwendigkeit tatsächlicher Ermittlungen sei vom Rechtsstandpunkt der Verwaltung aus zu beurteilen. In einem späteren Urteil (SozR Nr. 39 zu § 109 SGG) hat das BSG für die dem § 1300 RVO entsprechende Vorschrift des § 627 RVO entschieden, daß bei der gerichtlichen Nachprüfung eines die Neufeststellung ablehnenden Bescheides das Recht, nach § 109 SGG die Anhörung eines bestimmten Arztes zu verlangen, nicht schlechthin ausgeschlossen sei. Hiernach hätte das SG die Zeugen vernehmen müssen. Denn nach dem Rechtsstandpunkt der Beklagten kam es auf die Feststellung einer etwaigen früheren Antragstellung an; das ergibt sich schon aus dem Umstand, daß die Beklagte im Verwaltungsverfahren mit einer Anfrage bei dem Generalkonsulat Ermittlungen in dieser Richtung angestellt hat.

Da sonach die Berufung zulässig war und vom Berufungsgericht zu Unrecht verworfen wurde, war sein Urteil aufzuheben. Der Senat konnte ohne weitere Ermittlungen nicht in der Sache entscheiden. Deshalb war der Rechtsstreit nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen.

Über die Kosten wird im Schlußurteil entschieden werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646784

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