Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Juni 1962 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der im Jahre 1940 geborene Kläger war am 1. April 1956 bei der Firma W. u. Co., Walsrode, als Schlosserlehrling eingetreten. Am 2. Juli 1956 stieß ihm während des Betriebssports beim Spielen mit einem Medizinball ein Unfall zu. Der Durchgangsarzt Dr. St. diagnostizierte am 3. Juli 1956 eine „leichte Zerrung des rechten Unterarmes”, in Wirklichkeit war aber, was zunächst übersehen worden war, die rechte Elle gebrochen. Weil eine fachgerechte Behandlung nicht rechtzeitig eingesetzt hatte, kam es zu einer Pseudarthrose (Falschgelenkbildung) im körpernahen Drittel der rechten Elle. Zur Unterbindung der hierdurch verursachten Wackelbewegungen im Unterarm wurde der Kläger mit einer ledernen Stützmanschette ausgestattet. Obwohl er sich nach Kräften bemühte, den an ihn gestellten Anforderungen bei der Arbeit gerecht zu werden, mußte er seine Absicht, Betriebsschlosser zu werden, aufgeben. Er wechselte unter Fortsetzung seiner Lehre bei der Firma W. in eine Ausbildung zum Beutelmaschinenführer über; diese Lehre hat er ordnungsgemäß beendet und ist seitdem als Beutelmaschinenführer beschäftigt.

Schon vor dem Unfall vom 2. Juli 1956 war die Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes des Klägers wesentlich eingeschränkt. Der Arm war infolge einer in der Kindheit durchgemachten Osteomyelitis und Wunddiphterie hochgradig verkümmert, nämlich um 11 cm verkürzt und durch Muskelschwund verschmächtigt. Das Ellenbogengelenk stand in starker X=Stellung, der Unterarm war in Mittelstellung versteift. Die rechte Hand war verkleinert und in erheblicher Überstreckstellung fixiert, das Handgelenk in seiner Bewegungsfähigkeit stark eingeschränkt. Schließlich waren die Langfinger in ihrer Streckfähigkeit gehemmt. Trotzdem hatte der Kläger vor dem Unfall alle ihm übertragenen Arbeiten meist rechtshändig und ohne wesentliche Einschränkungen ausgeführt. So hatte er – schon vor Beginn seiner Lehrzeit – vom 1. April 1955 bis 31. März 1956 an der Berufsschule des Kreises Fallingbostel in Walsrode an einem Grundausbildungslehrgang „Metall” mit Erfolg teilgenommen und dabei praktische Arbeiten am Schraubstock und an Werkzeugmaschinen genau so wie seine Mitschüler erledigt, ohne daß ihm Erleichterungen gewährt worden wären. Auch als Betriebsschlosserlehrling bewältigte er vor dem Unfall alle anfallenden Arbeiten.

Die beklagte Berufsgenossenschaft ließ im Verwaltungsverfahren ein Gutachten durch den Facharzt für Chirurgie Dr. M. erstatten. Darin ist zur unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Klägers ausgeführt: Durch die Vorschädigung des Klägers sei der rechte Arm in seinem Gebrauchswert erheblich herabgemindert gewesen. Die auf die Pseudarthrose zurückzuführende MdE könne deshalb nicht so hoch eingeschätzt werden wie bei einem voll gebrauchsfähigen Arm. Für die Zeit nach Lieferung der Stützbandage sei unter Berücksichtigung der Vorerkrankung eine MdE um 10 v.H. anzunehmen.

Gestützt auf dieses Gutachten gewährte die Beklagte dem Kläger durch Bescheid vom 20. Juni 1958 für die Zeit vom 12. September 1957 bis 27. Oktober 1957 die Vollrente, für die Zeit vom 28. Oktober 1957 bis 31. März 1958 eine Teilrente von 20 v.H. Die Gewährung einer Rente über den 31. März 1958 hinaus lehnte die Beklagte ab, weil der Unfall unter Berücksichtigung des durch die Vorerkrankung schon erheblich geminderten Gebrauchswertes des rechten Armes eine MdE um nur 10 v.H. zur Folge habe.

Als Unfallfolgen sind in dem Bescheid festgestellt: „Pseudarthrose der rechten Elle sowie Verringerung der Festigkeit im Bereich des an sich schon deformierten rechten Unterarmes und der rechten Hand.”

Mit der Klage hat der Kläger beantragt, die Beklagte unter Änderung ihres Bescheides vom 20. Juni 1958 zu verurteilen, über den 31. März 1958 hinaus Unfallrente von 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.

Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat Dr. Rössing als Sachverständigen gehört. Es hat durch Urteil vom 4. Februar 1960 die Klage abgewiesen, wobei es in der Bewerbung der MdE mit 10 v.H. dem Gutachten des Dr. M. und einem Bericht des Dr. St. gefolgt ist.

Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) einen Bericht des Dr. L. vom 17. August 1961 eingeholt und den Facharzt für Chirurgie Dr. D. als Sachverständigen gehört. Außerdem hat die Beklagte ein Gutachten des Dr. C. vom 3. März 1961 vorgelegt; darin ist u.a. ausgeführt: Vor dem Unfall sei der rechte Arm des Klägers in seiner Gebrauchsfähigkeit um wenigstens 50 v.H. eingeschränkt gewesen. Dem stehe nicht entgegen, daß der Kläger im Rahmen des Möglichen optimale Leistungen mit dem Arm vollbracht habe. Da die Drehbeweglichkeit des Unterarmes ohnehin aufgehoben gewesen sei, wirke sich die Pseudarthrose der Elle weniger nachteilig aus als bei erhaltenen Umwendbewegungen eines gesunden Armes. Bei dem Kläger sei lediglich die Stützfunktion der Elle beeinträchtigt. Eine höhere MdE als 10 v.H. sei nicht vertretbar, zumal da die Nachgiebigkeit des Falschgelenks durch Ledermanschettenbenutzung weitgehend ausgeglichen werde. Bei sonst normalen Verhältnissen wäre wegen der Ellenpseudarthrose eine MdE um 20 v.H. anzunehmen.

Dr. D. hat sich in seinem schriftlichen Gutachten vom 18. Dezember 1961 weitgehend den Ausführungen des Sachverständigen Dr. M. und des Dr. C. angeschlossen und in Übereinstimmung mit ihnen die unfallbedingte MdE des Klägers mit 10 v.H. bewertet. Nachdem der Sachverständige Dr. Dralle in der mündlichen Verhandlung vom 19. Juni 1962 die Darstellung des Klägers von den ihm verbliebenen Arbeitsfähigkeiten mitangehört hatte, ergänzte bezw. änderte er sein schriftliches Gutachten wie folgt: Die Ausführungen des Klägers, der bei der Untersuchung keine Aggravationstendenz habe erkennen lassen, seien glaubhaft. Die von ihm vorgetragene Beeinträchtigung seines früheren Leistungsvermögens durch die Falschgelenkbildung betreffe im wesentlichen alle Tätigkeiten, die beim Bedienen der Werkzeuge mit Erschütterungen verbunden seien, z.B. das Hämmern und das Feilen auf groben Metallunebenheiten. Deshalb sei es glaubhaft, daß hierbei Schmerzen aufträten. – Gehe man davon aus, daß der Kläger durch die Mißbildung seines rechten Armes in erheblichem Umfang in seiner Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beeinträchtigt werde, so sei der vorgeschädigte Kläger durch die Folgen des Unfalls in größerem Maße getroffen als ein Gesunder. Die MdE bei einem Gesunden sei bei diesem Schaden mit etwa 10 v.H. zu bewerten. Sie liege bei dem Kläger selbstverständlich höher.

Das LSG hat durch Urteil vom 19. Juni 1962 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Beklagte unter Änderung ihres Bescheides vom 20. Juni 1958 verurteilt, dem Kläger über den 31. März 1958 hinaus eine Unfallrente von 20 v.H. zu gewähren. Soweit der Kläger im zweiten Rechtszuge sein Klagebegehren auf Zahlung einer Rente von 30 v.H. der Vollrente erweitert hatte, hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die Auswirkung einer Vorschädigung auf die MdE durch Folgen eines Arbeitsunfalls könne nicht rein rechnerisch festgestellt werden (BSG 9, 110). Ein Vorschaden könne auch nicht dazu führen, daß ein Arbeitsunfallschaden grundsätzlich höher oder geringer bewertet werde, als dies bei einem Versicherten ohne Vorschaden der Fall wäre. Zu einer höheren Einbuße der Erwerbsfähigkeit führe ein Unfallschaden im allgemeinen, wenn das korrespondierende Organ vorgeschädigt sei. Dagegen sei die MdE geringer als sonst zu bewerten, wenn der Unfallschaden z.B. in der Teilamputation des durch Verlust des Fußes vorgeschädigten Unterschenkels bestehe. Die Schätzung der durch einen Unfall verursachten MdE müsse in allen Fällen – so auch beim Bestehen eines Vorschadens – individuell erfolgen. Wenn ein Vorschaden bestehe, so sei neben der Feststellung, ob er die Erwerbsmöglichkeiten des Verletzten bereits eingeschränkt habe, zu prüfen, ob die Folgen des Arbeitsunfalls sich wegen der Vorschädigung schwerer auswirkten als bei einem Gesunden. Dies sei bei dem Kläger der Fall. – Nach den übereinstimmenden und überzeugenden Feststellungen aller Sachverständigen seien die Erwerbsmöglichkeiten des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durch die Verkümmerung seines rechten Armes erheblich beeinträchtigt gewesen. Dem stehe nicht entgegen, daß der Kläger seine körperlichen Mängel mit großer Energie zu überwinden getrachtet habe. Der Unfall vom 2. Juli 1956 habe das vorgeschädigte Glied getroffen und zu einer Falschgelenkbildung mit Wackelbewegungen geführt, die auch durch die Stützmanschette nicht völlig unterbunden würden. Da aber die Wackelbewegungen nur geringfügig seien, werde die Stützfunktion der Elle hierdurch nur wenig beeinträchtigt. Dieser Schaden könne bei einem nicht vorgeschädigten Versicherten mit normal entwickelten Armknochen, voller Muskulatur, ausreichender Weichteilpolsterung und guten Durchblutungsverhältnissen weitgehend wieder ausgeglichen werden, so daß er bei ihm, wie Dr. D. festgestellt habe, eine MdE um nur 10 v.H. ausmachen würde. Die abweichende Meinung von Dr. M., Dr. C. und Dr. R., daß eine Pseudarthrose, wie sie der Kläger habe, bei einem sonst gesunden Menschen bereits mit einer MdE um 20 v.H. zu bewerten sei, überzeuge nicht, weil die Falschgelenkbildung der Elle bei der Demonstration durch Dr. D., abgesehen von geringen Wackelbewegungen, weitgehend fest gewesen sei und keine erhebliche Bandschwäche des rechten Ellenbogengelenks vorliege. Bei der an sich geringfügigen zusätzlichen Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes durch Unfallfolgen wäre ein gesunder Mensch auch ohne besondere Anstrengung in der Lage gewesen, einen einmal gewählten Beruf als Maschinen- oder Betriebsschlosser weiter auszuüben. – Der Kläger dagegen werde durch diesen Schaden in höherem Maße getroffen. Das Unfallereignis habe zu einer weiteren Schwächung und X=Stellung des ganzen Armes sowie zu einer weiteren Einschränkung der Streckfähigkeit der Langfinger und des Faustschlusses geführt. Der Kläger könne heute seine Hand, die er früher durch Auflegen auf eine flache Unterlage passiv noch habe strecken können, nicht mehr in die gleiche Stellung bringen. Obwohl der Faustschluß noch möglich sei, könne er nur noch leichtere Gegenstände fassen, aufheben und gebrauchen. Seine berufliche Tätigkeit belaste ausschließlich den verkümmerten, aber noch erhaltenen Radius. Es sei zu befürchten, daß hier bei weiterer körperlicher Beanspruchung ebenfalls ein Bruch eintrete und damit auch noch der Rest an Festigkeit des rechten Armes verlorengehe. Wegen dieser zusätzlichen Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit des Armes sei auch glaubhaft, daß dem Kläger die Ausführung von Tätigkeiten, die beim Bedienen der Werkzeuge mit Erschütterungen einhergingen, im wesentlichen nicht mehr möglich sei. Aus diesem Grunde habe der Kläger auch beim Stärkerwerden seiner Beschwerden seine Absicht, Betriebsschlosser zu werden, endgültig aufgegeben und den Beruf eines Beutelmaschinenführers ergriffen; in diesem Beruf seien Arbeiten, die ihm besondere Schmerzen bereiteten, nicht in größerem Umfang zu leisten. Auch dies beweise, daß die Erwerbsmöglichkeiten des vorgeschädigten Klägers durch die Unfallfolgen nicht unwesentlich eingeschränkt würden. Die von Dr. M. und Dr. C. vertretene Ansicht, daß die Falschgelenkbildung an einem verkümmerten Arm sich weniger auswirke als bei einem gesunden Menschen, möge dort zutreffen, wo ein Versicherter mit einem solchen Vorschaden die Tätigkeit ausübe, die im allgemeinen von einem so schwer Vorgeschädigten nur noch ausgeübt werden könne. Diese Feststellung gelte aber nicht für den Kläger, da er durch Willensanspannung und Zähigkeit die Folgen des schweren Vorschadens zum Teil ausgeglichen und seine individuelle Leistungsfähigkeit dadurch über alle Erwartungen hinaus gesteigert habe. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei daher durch Unfallfolgen in wesentlich höherem Maße eingeschränkt. Unter Würdigung aller Umstände erscheine es gerechtfertigt, die unfallbringende MdE mit 20 v.H. zu bewerten. Diese Bewertung decke sich auch – allerdings mit anderer Begründung – mit dem Ergebnis, zu dem Dr. R. gekommen sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist der Beklagten am 13. Juli 1962 zugestellt worden. Sie hat am 28. Juli 1962 Revision eingelegt und diese am 31. August 1962 im wesentlichen mit folgenden Ausführungen begründet:

Das LSG hätte sich nicht auf das Gutachten des Dr. Rössing stützen dürfen, weil es widerspruchsvoll, ja unverständlich sei; es führe aus, die auf der Falschgelenkbildung beruhende Biegungsmöglichkeit des Unterarmschaftes „behindere die Beschwerden” des Klägers. – In der Beurteilung der MdE des Klägers mit 20 v.H. hätte das LSG auch deshalb nicht das Gutachten des Dr. R. zur Grundlage seiner Entscheidung machen dürfen, vielmehr ein weiteres ärztliches Gutachten einholen müssen, weil keiner der anderen Sachverständigen die MdE des Klägers mit 20 v.H. bewerte. – Keinesfalls hätte das LSG bloße eigene medizinische Erwägungen zur Begründung seiner letztlich doch laienhaften Annahme einer MdE in rentenberechtigendem Grade anstellen dürfen. Hinzu komme, daß diese eigenen Ausführungen des LSG widerspruchsvoll, jedenfalls aber unverständlich seien. Dies gelte vor allem für die Ausführungen, die Stützfunktion der Elle – dem – Zusammenhang nach offensichtlich eine für einen günstigen Gesundheitszustand sprechende körperliche Disposition des Klägers – werde durch die Falschgelenkbildung nur wenig beeinträchtigt. Eine derartige geringfügige Beeinträchtigung der normalen körperlichen Disposition müßte den Grad der Unfallfolgen herabmindern. – Unverständlich sei, daß das LSG die „weigehende feste Falschgelenkbildung”, wenn der Kläger nicht vorgeschädigt wäre, mit weniger als 20 v.H. erwerbsfähigkeitsmindernd bewerte, den Kläger aber von seinen diesbezüglichen, doch gerade mit Bezug auf ihn speziell getroffenen Feststellungen ausschließe. Diese Unklarheit lasse es als unzulässig erscheinen, daß das LSG seine eigenen Ausführungen im wesentlichen als einzige Grundlage für seine Entscheidung nehme und sich auf das bloße Zitat eines angeblich gleichen Ergebnisses, wenn auch mit anderer Begründung (Dr. R.) beschränke. Das LSG habe zwar ausgeführt, daß der Kläger beim Stärkerwerden seiner Beschwerden seine Absicht, Betriebsschlosser zu werden, endgültig aufgegeben und den Beruf eines Beutelmaschinenführers ergriffen habe, weil bei diesem Beruf besondere Schmerzen verursachende Arbeiten nicht in größerer Zahl aufträten. Diese bloße Tatsache beweise aber nicht, daß „die Unfallfolgen die Erwerbsmöglichkeiten des vorgeschädigten Klägers nicht unwesentlich einschränken”. Das LSG hätte zum mindesten die Erwerbsmöglichkeiten zwischen einem Betriebsschlosser und einem Beutelmaschinenführer einander gegenüberstellen und die finanziellen Aussichten gegeneinander abwägen müssen. Ja, es hätte zuerst einmal die rein tatsächlichen Arbeiten einerseits eines Betriebsschlossers, andererseits eines Beutelmaschinenführers einander gegenüberstellen müssen. Daß ein Beutelmaschinenführer keine den Kläger besonders schmerzende Arbeiten zu verrichten habe, besage für sich allein noch nicht, daß die gesamte Tätigkeit eines Beutelmaschinenführers leichter sei und deshalb den Schluß erlaube, daß jemand, der nur als Beutelmaschinenführer, dagegen nicht mehr als Betriebsschlosser tätig werden könne, erheblich in seiner Erwerbsfähigkeit herabgemindert sei. Das LSG sei zwar von der theoretischen Möglichkeit ausgegangen, daß sich bei einem Vorgeschädigten Unfallfolgen geringer auswirken könnten als bei einem Gesunden, es sei aber einer solchen Möglichkeit nicht nachgegangen, habe vielmehr lediglich geprüft, ob sich die festgestellten Unfallfolgen bei dem Kläger schwerer auswirkten als bei einem Gesunden. Diese Frage habe das LSG alsdann zu Unrecht bejaht. Es habe seine Entscheidung mit der rein subjektiven Erwägung be

[XXXXX]

an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er führt aus: Es bestehe ein Erfahrungssatz, daß bei einem Vorbeschädigten regelmäßig eine höhere MdE anzusetzen sei als bei einem Gesunden (EuM 36, 444). Dies sei auch bei ihm der Fall. Das LSG habe überzeugend begründet, daß die Gebrauchsfähigkeit des von der Pseudarthrose betroffenen Armes bei einem Gesunden kompensiert worden wäre, daß ihn – den Kläger – dagegen der Schaden in höherem Maße betroffen habe.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Senat hat von der Befugnis, in dieser Weise zu verfahren (§ 124 Abs. 2 des SozialgerichtsgesetzesSGG –), Gebrauch gemacht.

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Folgen seines Arbeitsunfalls vom 2. Juli 1956 in einem Grade beeinträchtigt ist, der zum Bezug einer Rente berechtigt; dabei kommt nur die dem Kläger vom LSG zugesprochene Teilrente von 20 v.H. in Betracht, denn mit seinem weitergehenden Anspruch ist er vom LSG abgewiesen worden, ohne daß er hiergegen ein Rechtsmittel eingelegt hat. Die Frage nach dem Grad der MdE ist, nachdem das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) vom 30. April 1963 in Kraft getreten ist, nicht mehr nach § 559 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF, sondern nach dem mit rückwirkender Kraft ausgestatteten § 581 RVO nF zu beurteilen (Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG). Daraus ergeben sich jedoch im vorliegenden Streitfalle keine Unterschiede; denn das UVNG hat insoweit die für die Bewertung der MdE in Praxis und Rechtsprechung geltenden Grundsätze nicht geändert (vgl. Arbeitsgrundlage zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung – Bundestags-Drucksache IV/120 – S. 90).

Ist ein Unfallverletzter – wie im vorliegenden Falle – vorbeschädigt, so ist bei der Feststellung der auf dem Unfall beruhenden MdE von der Erwerbsfähigkeit des Verletzten im Zeitpunkt des Unfalls auszugehen, also von seiner unter Berücksichtigung der Vorbeschädigung verbliebenen individuellen Erwerbsfähigkeit. Alsdann ist festzustellen, welcher Teil der vor dem Unfall vorhandenen Erwerbsfähigkeit durch den zu beurteilenden Unfall verloren gegangen ist (RVA, EuM Bd. 36, 444; BSG 5, 232, 234). Diese Grundsätze hat das LSG nicht verkannt; auch die Revision zieht ihre Richtigkeit nicht in Zweifel.

Das LSG hat es allerdings unterlassen, die Erwerbsfähigkeit des Klägers vor dem Unfall gradmäßig zu beziffern; es hat lediglich festgestellt, die Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes des Klägers sei durch den Vorschaden bereits wesentlich eingeschränkt gewesen. Gradmäßig bewertet hat das LSG nur die durch die Pseudarthrose verursachte allgemeine MdE, nämlich mit 10 v.H. Weil indessen die erste Größe – MdE vor dem Unfall – fehlt, läßt sich aus den Feststellungen des LSG die unfallbedingte individuelle MdE nicht rein rechnerisch ermitteln, wenn auch feststeht, daß dieser Wert hier jedenfalls über 10 v.H. liegt. Das Unterlassen einer solchen rein rechnerischen Ermittlung entzieht aber der Entscheidung des LSG nicht ohne weiteres die Grundlage. Die rein rechnerische Ermittlung der MdE ist zwar, wie der erkennende Senat in BSG 9, 110 unter Hinweis insbesondere auf Ausführungen von Schulte-Holthausen (Monatsschrift für Arbeiter- und Angestellten-Versicherung 1936, Sp. 193, 202) zum Ausdruck gebracht hat, für das Verständnis nützlich, aber für die praktische Anwendung nur bedingt brauchbar. Einerseits rechtfertigt eine Vorbeschädigung es nicht unter allen Umständen, die Minderung der unfallbedingten individuellen Erwerbsfähigkeit mit einem höheren Vomhundertsatz zu bewerten als die Minderung der „normalen” Erwerbsfähigkeit; andererseits kann der Grad der individuellen Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit aber auch wesentlich höher sein, als er sich rein rechnerisch darstellt. Die Bedeutung einer Schädigung für die Erwerbsfähigkeit ist vielmehr stets nach den persönlichen Verhältnissen des Verletzten zu bewerten. Diese Grundsätze hat das LSG nicht verkannt; sie liegen, auch den Ausführungen der Revision zugrunde.

Aus der Tatsache, daß der rechte Arm des Klägers von Kindheit an in der angeführten Weise verkümmert war, hat das LSG den Schluß gezogen, der Kläger sei schon vor dem Unfall vom 2. Juli 1956 in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt gewesen. Zu diesem Ergebnis ist es trotz der Feststellung gelangt, daß der Kläger mit seinem verkümmerten Arm die gleichen Arbeitsleistungen erbracht habe wie seine Mitlehrlinge. Es hat ausgeführt, der Kläger habe zwar dank seiner Zähigkeit, seines Eifers und seines Fleißes als Schlosserlehrling uneingeschränkt den an ihn gestellten Anforderungen entsprochen, auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens seien seine Erwerbsmöglichkeiten aber dennoch durch die Verkümmerung des Armes erheblich beeinträchtigt gewesen. Diese Ausführungen lassen einen Rechtsirrtum nicht erkennen; sie entsprechen den in der Rechtsprechung zur Bemessung der MdE entwickelten Grundsätzen und sind von keinem der Beteiligten beanstandet worden. In Zweifel gezogen hat die Revision jedoch die Feststellung des LSG, die zu beurteilende Unfallfolge – Pseudarthrose – sei bei einem nicht durch Verkümmerung des Armes vorgeschädigten Menschen mit 10 v.H. zu bewerten; sie meint, das LSG hätte insoweit der auf 20 v.H. lautenden Schätzung von Dr. M. Dr. C. und Dr. R. folgen müssen. Dabei verkennt die Revision, daß es im freien richterlichen Ermessen des LSG stand, bei seiner Überzeugungsbildung nicht die Schätzung der angeführten drei Ärzte, sondern – wie es dies getan hat – diejenige des Sachverständigen Dr. D. für zutreffend zu halten, der die Wirkung einer Pseudarthrose in der mündlichen Verhandlung vom 19. Juni 1962 am Beispiel des Klägers anschaulich vorgeführt hatte. Es ist kein Anhalt dafür gegeben – jedenfalls hat die Revision dies nicht dargetan –, daß das LSG bei seiner Überzeugungsbildung die ihn durch das Gesetz gezogenen Grenzen überschritten hätte. Die getroffene Feststellung ist daher für den Senat bindend (§ 163 SGG).

Nicht zu beanstanden ist auch die Annahme des LSG, die Pseudarthrose habe den durch Verkümmerung seines rechten Armes vorgeschädigten Kläger stärker betroffen als einen Gesunden. Sie beruht zunächst auf der auf medizinischem Gebiet liegenden Feststellung, das Unfallereignis habe zu einer weiteren Schwächung und zur X=Stellung des ganzen Armes sowie zu einer weiteren Einschränkung der Streckfähigkeit der Langfinger und des Faustschlusses geführt. Damit ist festgestellt, daß der Unfall sich auf den schon vorgeschwächten Arm weiter schwächend ausgewirkt hat und daß die bereits beeinträchtigte Streckfähigkeit der Langfinger und der beeinträchtigte Faustschluß eine weitere ungünstige Beeinflussung erfahren haben. Diese durch den Unfall verursachten zusätzlichen Schädigungen haben sich nach den Feststellungen des LSG in der Weise ausgewirkt, daß dem Kläger die Ausführung von Fähigkeiten, die beim Bedienen der Werkzeuge mit Erschütterungen einhergehen – z.B. das Hämmern und auch das Feilen und Sägen auf groben Metallunebenheiten – im wesentlichen nicht sehr möglich ist. Aus diesem Grunde hat der Kläger, wie das LSG weiter festgestellt hat, seine Absicht, Betriebsschlosser zu werden, aufgegeben und den Beruf eines Beutelmaschinenführers ergriffen. Die getroffenen Feststellungen rechtfertigen die in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Sachverständigen Dr. D. stehende Schlußfolgerung des LSG, daß die Unfallfolgen die Erwerbsmöglichkeiten des vorgeschädigten Klägers wesentlich eingeschränkt hätten und daß er, weil die Unfallfolgen an dem bereits vorgeschädigten Arm aufgetreten seien, trotz der „weitgehend festen Falschgelenkbildung” stärker betroffen sei als ein Gesunder.

Die hiergegen gerichteten Rügen der Revision, die teils die getroffenen Feststellungen erschüttern sollen, teils die materielle Rechtsanwendung des LSG betreffen, sind unbegründet. Soweit die Revision dem Gutachten des Dr. R. jeden Beweiswert abspricht, weil es unverständlich sei, vermag sie eine fehlerhafte Überzeugungsbildung des LSG schon deshalb nicht darzutun, weil das LSG sich auf jenes Gutachten gar nicht gestützt hat. Weiter steht der Annahme eines schwereren Betroffenseins des Klägers nicht entgegen, daß das LSG ausgeführt hat, die Stützfunktion der Elle werde durch die Falschgelenkbildung nur wenig beeinträchtigt; denn das LSG hat als unfallbedingte Schädigung des Klägers weniger die Falschgelenkbildung als solche als vielmehr die weitere Schwächung des ganzen Armes und die weitere Einschränkung der Streckfähigkeit der Langfinger und des Faustschlusses gewertet. Es ist daher entgegen der Meinung der Revision keineswegs unverständlich, daß der Kläger trotz der weitgehend festen Falschgelenkbildung stärker durch den Unfall betroffen sein soll, als wenn er nicht vorbeschädigt gewesen wäre. Unzutreffend ist auch die Auffassung der Revision das LSG hätte die von einem Betriebsschlosser und einem Beutelmaschinenführer auszuführenden Arbeiten im einzelnen anführen, einander gegenüberstellen und in ihrer Schwere abwägen sowie die Verdienstmöglichkeiten in beiden Berufen vergleichen müssen. Für die Annahme, daß der Kläger durch den Unfall in seiner Erwerbsfähigkeit weiter beschränkt worden ist, genügte die Feststellung, daß die Schädigung des Armes intensiviert worden ist und dem Kläger aus diesem Grunde gewisse Fähigkeiten und damit Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens verloren gegangen sind. Auf etwaige bessere oder wenigstens gleichgute Verdienstmöglichkeiten in dem jetzigen Beruf des Klägers kommt es nicht an, weil in der gesetzlichen Unfallversicherung der Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung gilt. Ungerechtfertigt ist schließlich auch die Rüge, das LSG habe nicht geprüft, ob sich die Unfallfolgen bei dem Kläger geringer auswirken als bei einem Gesunden. Indem das LSG die Frage des stärkeren Betroffenseins bejaht hat, hat es die umgekehrte Frage verneint.

Entgegen der Meinung der Revision hat das LSG den Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung nicht dadurch verletzt, daß es bei der Erörterung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des Klägers vor dem Unfall nicht von den Leistungen eines „normalen”, sondern eines besonders zähen und willensstarken Menschen ausgegangen ist. Der Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung besagt, daß die in Form einer Rente zu gewährende Entschädigung nicht – wie nach zivilrechtlichen Schadensersatzgrundsätzen – den tatsächlichen Minderverdienst ausgleichen soll, sondern nach dem Unterschied der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bestehenden Erwerbsmöglichkeiten des Verletzten vor und nach dem Unfall zu bemessen ist. Dabei bleiben zwar außerhalb der Person des Verletzten liegende Umstände unberücksichtigt, wie z.B. zeitweilige schlechte Arbeitsmarktlage, besonders günstiger Arbeitsvertrag vor dem Unfall usw. Dagegen sind besondere Kenntnisse und Fähigkeiten des Verletzten bei der Ermittlung der MdE zu berücksichtigen (vgl. BSG 4, 147, 149). Darunter fallen auch Charaktereigenschaften wie Arbeitswille, Fleiß, Zuverlässigkeit usw. (so auch Wander, SozVers. 1963, 340, 342 re. Sp.). Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger dank seiner Willensstärke vor dem Unfall eine Reihe schwerer Arbeiten, die der Schlosserberuf mit sich brachte, noch verrichten können, wogegen er diese Arbeiten jetzt trotz seiner Willensstärke nicht mehr ausführen kann. Das LSG hat daher bei der Ermittlung der MdE diese Entwicklung mit Recht zu Gunsten des Klägers gewertet.

Ist hiernach, die durch den Unfall verursachte MdE des Klägers höher zu veranschlagen als der rein rechnerische Wert von jedenfalls mehr als 10 v.H., so ist die Schätzung des LSG von 20 v.H. nicht zu beanstanden. Daß der Sachverständige Dr. D. auf dessen medizinische Feststellungen sich das LSG gestützt hat, den Grad der MdE nicht beziffert, sondern lediglich dargetan hat, die MdE liege bei dem Kläger als einem in der angeführten Weise Vorgeschädigten „selbstverständlich höher” als 10 v.H., steht dem nicht entgegen. Die Schätzung des Grades der MdE hatte das LSG in Ausübung seines Rechts der freien richterlichen Überzeugungsbildung selbst vorzunehmen (vgl. BSG 4, 147, 149). Daß es die diesem Recht innewohnenden Grenzen überschritten hätte, hat die Revision nicht dargetan. Jedenfalls liegt eine Fehlerhaftigkeit seiner Bewertung nicht darin, daß es einerseits ausgeführt hat, die Bewertung von 20 v.H. decke sich im Ergebnis mit dem Gutachten des Dr. R., andererseits aber dieses Gutachten nicht als eine geeignete Grundlage für die medizinische Beurteilung der Unfallfolgen angesehen hat. In der Schätzung der MdE hat sich das LSG erkennbar nicht auf Dr. R. gestützt, vielmehr nur beiläufig auf die Übereinstimmung der gerichtlichen Bewertung und derjenigen des Dr. R. hingewiesen.

Nach alledem ist die Revision der Beklagten unbegründet; sie war daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 SGG.

 

Unterschriften

Brackmann, Dr. Baresel, Dr. Kaiser

 

Fundstellen

BSGE, 63

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