Leitsatz (amtlich)

Zur Unterbrechung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Arbeitsunfall und Tod durch vernunftwidriges Verhalten des Verletzten (Ablehnung der Heilbehandlung gegen dringenden ärztlichen Rat).

 

Normenkette

RVO § 624 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. Oktober 1964 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der im November 1900 geborene Landwirt Georg S (S.), unehelicher Vater der 1954 und 1956 geborenen Kläger, wurde am 15. Mai 1961 gegen 10.00 Uhr beim Abschirren seines Fuhrwerks von einem Pferd in die Magengegend getreten. In der Unfallklinik Dr. W, A, wo S. bei seinem Eintreffen um 17.00 Uhr sofort untersucht wurde, ergab sich nach dem Durchgangsarztbericht als Befund ein stumpfes Bauchtrauma mit Verdacht auf intraabdominelle Blutung; bei der Durchleuchtung zeigte sich ein Hämatothorax rechts; berufsgenossenschaftliche stationäre Behandlung wurde eingeleitet. Am nächsten Tage jedoch lehnte S. - trotz wiederholter ärztlicher Zureden - eine weitere Krankenhausbehandlung ab; er unterzeichnete die Erklärung, er verlasse gegen dringenden fachärztlichen Rat und auf eigene Verantwortung die Klinik; dann wurde er mittags mit dem Krankenwagen nach Hause befördert, wo er wenige Stunden später starb. Dr. W berichtete der Beklagten, S. wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet und wiederhergestellt worden, falls er nicht auf eigene Verantwortung die Klinik verlassen und trotz wiederholter Aufklärung damit eine fachärztliche Beobachtung und Behandlung abgelehnt hätte. Durch den an den Kreisausschuß des Landkreises D als Vormund der Kläger gerichteten Bescheid vom 9. August 1961 lehnte die Beklagte die Entschädigungsansprüche der Kläger mit der Begründung ab, S. habe durch sein schuldhaftes Verhalten die haftungsausfüllende Kausalität unterbrochen.

Im Verfahren über die von den Klägern - gesetzlich vertreten durch das Jugendamt des Landkreises D - hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) schriftliche Auskünfte von dem Hausarzt des S. Dr. T sowie von den an der A Unfallklinik tätigen Chirurgen Dr. W und Dr. L eingeholt. Die Mutter der Kläger ist beigeladen worden. Das SG hat am 23. Oktober 1963 die Beklagte verurteilt, den Klägern die gesetzliche Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren: Es sei nicht erwiesen, daß S. beim Verbleiben im Krankenhaus unter Einhaltung der Bettruhe mit dem Leben davongekommen wäre und der von ihm zu verantwortende Nachhausetransport den Tod erst herbeigeführt habe. Fraglich sei ferner, ob dem S. bei seiner charakterbedingten Uneinsichtigkeit überhaupt erkennbar geworden sei, daß durch sein Verhalten eine erhebliche Gefahrenerhöhung eintreten mußte. Im übrigen könne eine vom Unfallverletzten fahrlässig verschuldete Gefahrenerhöhung nicht die Ablehnung der Entschädigungsansprüche der Hinterbliebenen rechtfertigen.

Im Verfahren über die von ihr eingelegte Berufung hat die Beklagte eine Stellungnahme ihres beratenden Chirurgen Dr. M vorgelegt. Dr. W und Dr. L haben in einer gemeinsamen Äußerung erklärt, S. sei dahin belehrt worden, daß bei Unterbrechung der Krankenhausbehandlung mit den schlimmsten Folgen zu rechnen sei; er sei bei Abgabe seiner Unterschrift am 16. Mai völlig ansprechbar und die Schockwirkung weitestgehend abgeklungen gewesen; S. wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gestorben, wenn er das Krankenhaus am 16. Mai 1961 nicht verlassen hätte. Schließlich ist Dr. L in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) als sachverständiger Zeuge gehört worden.

Durch Urteil vom 14. Oktober 1964 (veröffentlicht in Breithaupt 1965, 648) hat das Hessische LSG unter Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung die Klage abgewiesen: Zwar sei S. medizinisch gesehen unstreitig an den Folgen des Hufschlags vom 15. Mai 1961 verstorben. Die rechtlich wesentliche Bedingung für den Eintritt des Todes habe jedoch S. selbst durch sein eigenes Verhalten, für das er verantwortlich gewesen sei, gesetzt und dadurch einen Gefahrenbereich geschaffen, welcher der versicherten Tätigkeit nicht zuzurechnen sei. Die Äußerungen der Krankenhausärzte ließen nur den Schluß zu, daß S. unter Zugrundelegung der ärztlichen Voraussehbarkeit am Leben geblieben wäre, und zwar bei ordnungsmäßiger klinischer Behandlung, wozu evtl. auch die Vornahme einer Laparotomie gehört hätte. Der Tod des S. sei daher mit einer für die Urteilsbildung ausreichenden Sicherheit darauf zurückzuführen, daß er im Krankenhaus zum Schluß alle medizinischen Maßnahmen an sich verweigerte und auf seinen Wunsch entlassen werden mußte. Weiterhin sei erwiesen, daß S. von den Krankenhausärzten in einer ihm erkennbaren Weise auf den tödlichen Ausgang seiner Verletzung im Falle seiner Krankenhausentlassung hingewiesen wurde. Schließlich stehe auch fest, daß S. beim Verlassen des Krankenhauses voll zurechnungsfähig gewesen sei und die Lebensgefahr, in der er schwebte, erkannt habe. Die von Dr. L angeführte Möglichkeit, S. könne sich in einer nicht unfallbedingten, auf Hypertonie und Arteriosklerose zurückzuführenden Erregtheit befunden haben, sei zu entfernt, als daß ihr Bedeutung beizumessen wäre. Das Verhalten des S. sei in vollem Umfang aus seiner Veranlagung zu erklären, wie sie Dr. T geschildert habe. Zugunsten der Kläger könne auch nicht davon ausgegangen werden, S. habe das Krankenhaus in der Überzeugung verlassen, er müsse doch in jedem Falle sterben; Dr. L habe ihm nämlich eindeutig gesagt, bei Verbleiben im Krankenhaus sei mit seiner Heilung zu rechnen. Wenn ein zurechnungsfähiger Verletzter entgegen einer solchen ärztlichen Erklärung das Krankenhaus verlasse, weil er sich einbilde, man sage ihm nicht die Wahrheit oder er wisse es besser als die Ärzte, müsse er sich dieses objektiv im höchsten Maße vernunftswidrige Verhalten im Falle einer dadurch eintretenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes entgegenhalten lassen; seine subjektiven Vorstellungen seien nicht geeignet, die Unterbrechung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Unfall und dem Todeseintritt zu verhindern.

Gegen das am 24. November 1964 zugestellte Urteil haben die Kläger - gesetzlich vertreten durch das Jugendamt des Landkreises Dieburg, Prozeßbevollmächtigter Kreisrechtsrat Dr. F - am 17. Dezember 1964 Revision eingelegt mit dem Antrag, der Klage stattzugeben. Am 14. Januar 1965 hat der Prozeßbevollmächtigte die Revision folgendermaßen begründet: Das angefochtene Urteil beruhe auf einer rechtsfehlerhaften Auslegung des für die Unfallversicherung maßgebenden Kausalitätsbegriffs. Nach der praktischen Lebensauffassung sei neben dem unvernünftigen Verhalten des S. die Unfallverletzung als die zweite rechtlich wesentliche Ursache für den Eintritt des Todes anzusehen. Die haftungsausfüllende Kausalität sei also gegeben. Entgegen der Annahme des LSG sei S. keineswegs in der Lage gewesen, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und seinen Willen entsprechend zu betätigen, als er gegen alle Vernunft das Krankenhaus verließ; als sehr einfacher Mensch, der noch nie in Krankenhausbehandlung war, sei er von der Erwartung, dort bleiben zu müssen, völlig verwirrt und dazu getrieben worden, ohne Überlegung die ihm unbekannte und unangenehme Umgebung schleunigst zu verlassen.

Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die im Revisionsverfahren nicht vertretene Beigeladene hat keine Erklärung abgegeben.

II

Die form- und fristgerecht eingelegte, vom LSG nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassene Revision ist statthaft auf Grund des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG, weil die Kläger zutreffend eine Verletzung der für die Unfallversicherung maßgebenden Kausalitätsnorm gerügt haben.

Die Schlußfolgerung des LSG, das eigene Verhalten des S. habe den Tod wesentlich mitverursacht, beruht auf der Annahme, beim Verbleiben in der Klinik wäre mit hinreichender Wahrscheinlichkeit das Leben des Verletzten erhalten geblieben. Diese tatsächliche Feststellung ist von der Revision nicht wirksam angegriffen worden; sie beruht auch auf einer nicht zu beanstandenden Würdigung der Beweisergebnisse, insbesondere der Äußerungen der behandelnden Chirurgen; diese ergaben insoweit ein klares Bild, zumal nachdem Dr. W seine im Bericht vom 26. Juni 1963 noch gemachten Einschränkungen später (Bericht vom 23. Juni 1964) fallen gelassen hatte. Mit Recht ist bei der Frage nach der Wahrscheinlichkeit der Lebenserhaltung darauf abgestellt worden, daß nicht nur ein Krankenhausaufenthalt von angemessener Dauer für S. die Gewähr strenger Bettruhe bedeutet hätte, sondern vor allem die vielfachen dort gegebenen Möglichkeiten, auftretende Komplikationen sofort durch geeignete ärztliche Eingriffe zu beheben, die Überlebens- und Heilungsaussichten ganz erheblich verbessert haben würden. Verfahrensrechtlich ebenfalls bedenkenfrei hat das LSG festgestellt, daß S. am 16. Mai 1961 nicht mehr unter den Auswirkungen eines Unfallschocks stand und im Zeitpunkt des Verlassens der Klinik als zurechnungsfähig anzusehen war.

Soweit die Revision auf § 624 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes = § 606 RVO aF - Bezug nimmt, versteht der Senat ihr Vorbringen dahin, diese Vorschrift regele nach Ansicht der Kläger abschließend die Leistungsversagung in den Fällen, in denen sich Unfallverletzte angeordneten Heilbehandlungsmaßnahmen entziehen. Diese Ansicht hält der Senat für unzutreffend. Von § 624 RVO (§ 606 RVO aF) und der darin geregelten Prozedur der Leistungsversagung, wenn sich ein Verletzter grundlos einer zumutbaren Heilbehandlungsmaßnahme entzieht, ist die hier zu beurteilende Frage einer Unterbrechung der haftungsausfüllenden Kausalität durch schuldhaftes Verhalten des Verletzten unabhängig (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., Anm. 2 zu § 556 RVO aF). In der älteren Rechtsprechung und Literatur ist diese Frage seit jeher völlig losgelöst vom Anwendungsbereich des § 606 RVO aF behandelt worden (vgl. RVA, BG 1918, 48; EuM 13, 147; OVA Koblenz, Breithaupt 1950, 745; v. Schuch, ZfS 1955, 177 ff und BG 1956, 210 ff). Seit Inkrafttreten des § 624 RVO kann nichts anderes gelten (vgl. LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1968, 21). Die Fälle der hier gegebenen Art sind zeitlich und denkgesetzlich von den Anwendungsfällen des § 624 RVO abzugrenzen; diese gehören - vom Unfallzeitpunkt her betrachtet - in der Regel einem späteren Stadium an als jene.

Die hier zu prüfende Unterbrechung der haftungsausfüllenden Kausalität entspricht - wie das LSG mit Recht ausgeführt hat - der Unterbrechung der haftungsbegründenden Kausalität, wie sie von der Rechtsprechung (vgl. BSG 14, 64, 67; SozR Nr. 53 zu RVO aF § 542) angenommen wird, wenn der Eintritt des Unfalls auf eine besondere, vom Versicherten selbstgeschaffene betriebsfremde Gefahr zurückzuführen ist. Der Entschädigungsanspruch kann entfallen, wenn das vernunftwidrige Verhalten des Verletzten eine grobe Fahrlässigkeit darstellt (ebenso Lauterbach aaO; v. Schuch, ZfS 1955, 181 = BG 1956, 212; RVA, BG 1918, 48; dagegen setzt vorsätzliches Handeln des Verletzten voraus die Entscheidung des OVA Koblenz aaO).

Die Frage, ob S. für sein widersinniges Verhalten, in seinem bedrohlichen Zustand das Krankenhaus eigenmächtig und gegen eindringlichen ärztlichen Rat zu verlassen, verantwortlich gemacht werden kann, darf indessen nicht - wie das LSG meint - nach objektiven Maßstäben beurteilt werden, Mit seiner Auffassung, die subjektiven Vorstellungen des S. seien nicht geeignet, eine Unterbrechung des Kausalzusammenhangs zwischen Unfall und Tod zu hindern, hat das LSG sich über die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hinweggesetzt, nach der bei der Kausalitätsprüfung nicht ein menschliches "Normalverhalten" als Maßstab herangezogen werden darf, sondern abzuwägen ist, welche Auswirkungen das Unfallgeschehen und seine unmittelbaren Folgen gerade auf die in Betracht kommende Einzelpersönlichkeit mit ihrer jeweils gegebenen Struktureigenart im körperlich-seelischen Bereich gehabt haben; dieser für den Fall der vorsätzlichen Selbsttötung aufgestellte Grundsatz (vgl. BSG 11, 50; 18, 163) gilt selbstverständlich erst recht für den hier vorliegenden Fall einer möglichen Kausalitätsunterbrechung durch grobfahrlässige Herbeiführung eines erhöhten Gefahrbereichs, bei dem die Rechtsprechung im bürgerlichen Recht übrigens schon viel früher zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt war (vgl. RGZ 139, 131, 135).

Die Gründe, weshalb bei Anlegung des gebotenen subjektiven Maßstabs eine Unterbrechung der haftungsausfüllenden Kausalität zu verneinen ist, obgleich jedem "vernünftigen" Betrachter die Handlungsweise des Verletzten völlig widersinnig erscheinen muß, können entsprechend der Vielzahl persönlicher Struktureigenarten mannigfacher Art sein. Sie können von religiös-weltanschaulichen Bindungen (vgl. OLG Hamm, NJW 1968, 212 ff) hinunterreichen zu charakterlichen Defekten, welche die "Zurechnungsfähigkeit" zwar nicht ganz ausschließen, wohl aber - unter den nach dem Unfall bestehenden Verhältnissen - geeignet sind, die Fähigkeit zur Willensbildung zu beeinträchtigen. Bei seiner Annahme, S. habe sein ungewöhnliches Verhalten zu verantworten, hat das LSG, wie die Revision zutreffend rügt, die im hier zu entscheidenden Fall gegebenen Umstände noch nicht hinreichend erforscht. Es hätte genauerer Prüfung bedurft, wie die Persönlichkeitsstruktur des S. im einzelnen beschaffen war und ob evtl. Wesenseigentümlichkeiten vorlagen, welche den Verletzten in der am 15./16. Mai 1961 gegebenen Situation zu seiner widersinnigen "Flucht" aus der Unfallklinik veranlassen konnten. Insofern ergeben die bisherigen Ermittlungen noch keinen genügenden Aufschluß. Der Hausarzt Dr. T hat zwei Auskünfte erteilt, in denen das Charakterbild des S. nicht einheitlich beurteilt worden ist. Es wird darauf ankommen, Dr. T. als sachverständigen Zeugen ausführlich zu hören, um zu möglichst umfassenden, widerspruchsfreien Feststellungen zu gelangen. Je nachdem käme auch noch die Heranziehung weiterer Auskunftspersonen in Frage; schließlich könnte es auch angebracht sein, diese Ermittlungsergebnisse einem geeigneten Sachverständigen zur Beurteilung zu unterbreiten. Erst dann wird mit der erforderlichen Sicherheit zu entscheiden sein, ob S. zur Zeit des Verlassens der Unfallklinik sich in einem die freie Willensbildung beeinträchtigenden Zustand befunden hat oder nicht.

Auf die begründete Revision der Kläger ist hiernach das angefochtene Urteil aufzuheben. Da mangels ausreichender Feststellungen der Senat nicht in der Sache selbst entscheiden kann, muß der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG); diesem obliegt auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens.

 

Fundstellen

BSGE, 14

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