Leitsatz (amtlich)

Stellt ein Tatsachengericht abweichend von vorliegenden Gutachten fest, daß ein erwerbsbeschränkter Versicherter mit den ihm verbliebenen Kräften bestimmte Tätigkeiten nicht mehr verrichten kann, so leidet sein Verfahren jedenfalls dann an einem wesentlichen Mangel, wenn es in den Urteilsgründen insoweit lediglich ausführt, daß es sich bei seiner Entscheidung auf die Sachkenntnis eines ehrenamtlichen Beisitzers stütze, ohne diese Ansicht zu begründen.

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Kreis der Tätigkeiten, auf welche ein Versicherter nach RVO § 1246 Abs 2 verwiesen werden kann, beschränkt sich nicht auf solche Tätigkeiten, die dem Berufszweig des Versicherten verwandt sind. Eine Beschränkung der Verweisungsmöglichkeiten nur auf die Berufsgruppe ist dem RVO § 1246 Abs 2 fremd. Die Berufsgruppe hat nur die Bedeutung, daß der Durchschnittsverdienst gesunder Personen mit der gleichen oder einer ähnlichen Ausbildung und denselben oder gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten die Richtschnur bildet, an welcher zu messen ist, ob der Versicherte nach den ihm verbliebenen Kräften und nach seinen Fähigkeiten noch in der Lage ist, mindestens die Hälfte hiervon zu erwerben.

 

Normenkette

SGG § 128 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 18. März 1960 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der im Jahre 1907 geborene Kläger ist von Beruf gelernter Former. Von 1921 bis 1925 war er Formerlehrling und von 1925 bis 1927 Former. Von 1927 bis 1933 war er bei der Schutzpolizei tätig. Von 1934 bis 1942 arbeitete er wieder als Former und leistete anschließend Kriegsdienst. Nach dem Zusammenbruch war er zunächst mit Transportarbeiten und dann mit Notstandsarbeiten beschäftigt und arbeitete schließlich von 1951 bis 1953 wieder als Former. Seit dieser Zeit war er zunächst arbeitslos. Seit 1958 ist er als Bote beim Finanzamt R... beschäftigt. Während seines Arbeitslebens als Former wurden für ihn 90 Monatsbeiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet.

Den Rentenantrag des Klägers vom 27. Juni 1957 hat die Beklagte mit Bescheid vom 23. Januar 1958 mit der Begründung abgelehnt, daß er noch die gesetzliche Lohnhälfte verdienen könne.

Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat ihn durch den Chefarzt der II. M... K... der F... U...; B... Dr. B..., und den Direktor der N...-N... K...der F... U... B..., Prof. Dr. A. S... untersuchen lassen. Prof. Dr. B... kommt in seinem Gutachten vom 6. November 1958 zu dem Ergebnis, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers von internistischer Seite durch eine geringgradige Krampfaderbildung beider Unterschenkel und durch eine narbige Deformierung des Bulbus duodeni mit begleitender Gastroduodenitis gemindert sei. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) werde sowohl für eine Tätigkeit als Former als auch für eine solche auf dem allgemeinen Arbeitsfeld auf 20 v.H. geschätzt. Auf Grund des internistischen Befundes könne er noch mittelschwere Arbeiten im Stehen und Sitzen fortgesetzt verrichten. Prof. Dr. S... hält die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch eine Spondylosis deformans und eine Osteochondrose der Halswirbelsäule mit partiellem Kompressionssyndrom der 7. und 8. Cervicalwurzel rechts für eingeschränkt. Er schätzt den Grad der MdE neurologischerseits auf 30 v.H. und insgesamt auf 40 v.H. auf dem allgemeinen Arbeitsfeld. In dem erlernten Beruf als Former sei der gleiche Prozentsatz anzunehmen, soweit mittelschwere Arbeit ausgeführt werden müsse. Wenn der Kläger aber Zwei- bis Dreizentnerlasten tragen müsse, könne er diese Arbeit nicht mehr verrichten, insbesondere könne er keine Arbeit mit dem Preßlufthammer verrichten.

Das SG hat die Klage abgewiesen und ausgeführt, der Kläger könne sowohl noch eine Tätigkeit als Former wie eine solche auf dem allgemeinen Arbeitsfeld verrichten.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt.

Das Berufungsgericht hat bei dem Präsidenten des Landesarbeitsamts angefragt, auf welche Tätigkeiten innerhalb seiner Berufsgruppe ein Former vermittelt werden könne und ob ein Kernmacher zu der Gruppe der einem Former verwandten Berufe gehöre. Weiter wurde um Äußerung darüber gebeten, ob die Tätigkeit eines Kernmachers und die eines Formers in einer Stahlguß- oder Metallgießerei körperlich leichter sei als die eines Graugießers und ob die genannten Tätigkeiten als mittelschwere Arbeit oder als schwere Arbeit zu bezeichnen seien. Der Präsident des Landesarbeitsamts Berlin hat am 13. Januar 1960 mitgeteilt, daß es innerhalb des Formerberufs verschiedene Arten von speziellen Tätigkeiten gebe. Ihre Ausübung setze jedoch stets körperliche Leistungsfähigkeit sowie die Kenntnisse für den Formerberuf schlechthin voraus. Der Kernmacher sei ein dem Formerberuf verwandter Beruf in dem Sinn, daß jeder Former auch Kernmachertätigkeiten ausüben könne, während ein Kernmacher nicht ohne weiteres als Former einzusetzen sei. Die Tätigkeit eines Kernmachers sowie die eines Formers in einer Stahl- oder Metallgießerei sei dem Grunde nach nicht leichter als die in einer Graugießerei. Der Schweregrad bestimme sich nicht aus dem zu vergießenden Material, sondern aus der Größe der herzustellenden Formen und der Arbeitsmethoden und vor allem aus den in dem jeweiligen Betrieb vorhandenen persönlichen und technischen Arbeitshilfen. Die Formertätigkeit sei ganz überwiegend Schwerarbeit. Für Kernmacher gebe es neben Arbeitsplätzen mit Schwerarbeit auch in gewissem Umfange Arbeitsplätze mit mittelschwerer Arbeit, die teilweise sogar im Sitzen ausgeführt werden könne.

Das Berufungsgericht hat durch Urteil vom 18. März 1960 das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Januar 1957 an zu gewähren. Es hat die Revision zugelassen.

Es sei davon auszugehen, daß der Kläger eine abgeschlossene Lehre als Former aufzuweisen habe. Er habe seine Gesellenprüfung in diesem Beruf gemacht und auch während seines Arbeitslebens als Former gearbeitet. Die Unterbrechungen in dieser Tätigkeit durch Aufnahme einer Stellung bei der Polizei und Verrichtung von Transportarbeitertätigkeiten wären, wie der Kläger glaubhaft vorgetragen habe, auf die für seinen gelernten Beruf ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse in den Jahren 1927 bis 1933 und nach dem zweiten Weltkrieg zurückzuführen. Wenn für den Kläger bisher nur 90 Beitragsmonate zur gesetzlichen Rentenversicherung nachgewiesen seien, so sei dies darauf zurückzuführen, daß er noch nicht sämtliche in Frage kommenden Tätigkeiten nachgewiesen oder glaubhaft gemacht habe. Nach alledem wäre davon auszugehen, daß der Kläger von Beruf Former sei und nur auf Tätigkeiten verwiesen werden könne, die im Bereich einer solchen Arbeit lägen und deren Ausübung für ihn keinen sozialen Abstieg bedeute. Nach den Auskünften durch den Präsidenten des Landesarbeitsamts und der besonderen Fachkenntnis eines an der mündlichen Verhandlung beteiligt gewesenen Landessozialrichters sei davon auszugehen, daß als Verweisungsmöglichkeit für einen gelernten Former nur noch Tätigkeiten als Kernmacher und als Formenputzer in Frage kämen. Alle sonstigen Tätigkeiten, die in der entsprechenden Berufssparte in Betracht gezogen werden könnten, seien ausgesprochene Zulanger- oder Hilfsarbeitertätigkeiten. Eine Verweisung hierauf würde für einen Former einen sozialen Abstieg bedeuten. Abgesehen davon handele es sich auch bei diesen Hilfsarbeitertätigkeiten ganz überwiegend um körperlich schwere Arbeiten. Der Kläger könne mithin nur auf Tätigkeiten als Kernmacher oder Formenputzer verwiesen werden.

Entgegen der Auffassung des SG handele es sich bei der Tätigkeit sowohl eines Formers wie auch eines Kernmachers oder Formenputzers - wie die Mitteilung des Präsidenten des Landesarbeitsamts ergeben habe - ausnahmslos um Schwerarbeitertätigkeiten. Für derartige Arbeiten müsse ohnehin ein anderer Maßstab gelten als für Tätigkeiten, bei denen es nicht unbedingt auf eine völlige körperliche Unversehrtheit ankomme. Die Ausübung von Schwerarbeitertätigkeiten setze jedoch stets neben den erlernten Kenntnissen die volle körperliche Leistungsfähigkeit voraus, worauf auch der Präsident des Landesarbeitsamts besonders hingewiesen habe. Wenn bei anderen körperlichen Tätigkeiten gewisse gesundheitliche Beeinträchtigungen noch durchaus die Verwendung in einem solchen Beruf zuließen und damit auch die Möglichkeit gegeben sei, in einem solchen Beruf die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen, so lägen die Verhältnisse bei Schwerarbeitertätigkeiten anders. Um in einem derartigen Beruf arbeiten zu können, möchten zwar gewisse geringe körperliche Mängel unberücksichtigt bleiben. Eine körperliche Beeinträchtigung verhältnismäßig hohen Grades, wie sie hier vorliege, schlösse die Konkurrenzfähigkeit eines gesundheitlich derart Benachteiligten für Schwerarbeiterberufe jedoch aus. Es komme dabei auch nicht so sehr darauf an, ob, worauf es der Sachverständige, Prof. Dr. S..., abgestellt habe, jemand Lasten von zwei bis drei Ztr. oder, wie das SG angenommen habe, von ein bis zwei Ztr. zu bewältigen habe; denn jedenfalls handele es sich hier um eine Schwerarbeitertätigkeit, die den vollen Einsatz der Körperkräfte verlange. Hinzukomme, daß bei dem Kläger neben den festgestellten Veränderungen an der Wirbelsäule mit wechselnd ausgeprägten radiculären Schmerzen im Nacken-, Kopf- und rechten. Arm-Schulter-Bereich, eine leichte Schwäche des rechten Armes, besonders der rechten Hand, bestehe, die selbst bei Ausübung der jetzigen wesentlich leichteren Tätigkeit als Bürobote zu immer wiederholten behandlungsbedürftigen Schmerzzuständen im rechten Arm führe.

Wie der Präsident des Landesarbeitsamts festgestellt habe, sei die Tätigkeit eines Kernmachers dem Grunde nach nicht leichter als die eines Formers in einer Graugießerei. Abgesehen davon, daß es zweifelhaft erscheine, ob die nach der Auskunft des Präsidenten des Landesarbeitsamts Berlin in gewissem Umfang vorhandenen Arbeitsplätze mit mittelschwerer Arbeit für Kernmacher eine Verweisung zuließen, da nach der auch vom Bundessozialgericht (BSG) vertretenen Auffassung nur auf Tätigkeiten verwiesen werden könne, die in ausreichendem Umfang vorhanden seien, sei nach der Kenntnis des fachkundigen Landessozialrichters auch die Tätigkeit eines solchen Kernmachers noch körperlich so anstrengend, daß sie der Kläger mit den ihm verbliebenen Körperkräften nicht mehr auszuüben in der Lage sei. Der Kläger sei daher berufsunfähig und habe mithin Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Gegen das ihr am 2. Mai 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 27. Mai 1960, beim BSG eingegangen am 28. Mai 1960, Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet.

Sie rügt, daß das Berufungsgericht auf Grund der Kenntnis eines fachkundigen Landessozialrichters angenommen habe, der Kläger sei mit den ihm verbliebenen Körperkräften nicht mehr in der Lage, die Tätigkeit eines Kernmachers, auch soweit sie nur eine mittelschwere Tätigkeit darstelle, zu verrichten, ohne daß die Sachkunde dieses Beisitzers in der mündlichen Verhandlung erörtert und der Partei Gelegenheit gegeben worden sei, hierzu Stellung zu nehmen. Auch sei in den Urteilsgründen nichts darüber gesagt, worauf sich diese Sachkunde eines Gerichtsmitgliedes stütze. Sie sieht darin eine Verletzung des ihr zustehenden rechtlichen Gehörs.

Außerdem rügt sie die Verletzung des § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Das Berufungsgericht habe zu Unrecht angenommen, daß der Kläger nur auf die mit der Formertätigkeit zusammenhängenden Tätigkeiten eines Kernmachers und Formenputzers verwiesen werden könne. Es sei aber auch eine Verweisung auf einen anderen Beruf oder eine andere Berufsgruppe als die, welcher der Rentenbewerber zuzurechnen ist, nicht untersagt. Es sei nicht einzusehen, warum einem Versicherten, der fähig sei, eine ihm bisher berufsfremde Tätigkeit voll und gut zu verrichten, grundsätzlich ein solcher Übergang in einen anderen Beruf nicht zugemutet werden könne, wenn nur gewährleistet sei, daß diese Tätigkeit in den Augen der Umwelt kein wesentlich geringeres Ansehen genieße als die bisherige.

Nach den ärztlichen Sachverständigengutachten von Prof. Dr. B... vom 6. November 1958 und Prof. Dr. S... vom 16. Dezember 1958 können zwar als feststehend angesehen werden, daß der Kläger die körperlich schwere Arbeit eines Formers nicht mehr verrichten könne. Bei der Prüfung der Zumutbarkeit anderer Tätigkeiten und der Verweisbarkeit auf solche lege das Landessozialgericht (LSG) jedoch zu enge Maßstäbe an. Der Kläger gehöre als Former einem metallverarbeitenden Beruf an. Er könne nicht nur innerhalb des Berufszweiges der Former, u.a. als Kernmacher, verwiesen werden, sondern er müsse sich eine Verweisung auf ähnliche und gleichwertige Tätigkeiten in der gesamten Metallbranche gefallen lassen. Nach den oben angeführten Gutachten könne es aber keinem Zweifel unterliegen, daß der Kläger mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen durchaus noch in der Lage sei, eine Tätigkeit als Kernmacher oder z.B. auch als Bohrer, Hobler, Entgrater usw. in der sonstigen Industrie zu verrichten.

Der Kläger sei aber auch schon deshalb nicht berufsunfähig nach § 1246 Abs. 2 RVO, weil er seit dem 23. Juni 1958 als Bote beim Finanzamt R... - unterbrochen nur durch Arbeitsunfähigkeit vom 5. Oktober bis zum 1. November 1959 - beschäftigt sei. Es sei nicht einzusehen, daß eine Verweisung auf diese Tätigkeit nicht zumutbar sein solle. Der Kläger erleide durch den Übergang auf diese Botentätigkeit bei einer Behörde keinen sozialen Abstieg. Insbesondere könne keine Rede davon sein, daß diese Tätigkeit in den Augen der Umwelt ein wesentlich geringeres Ansehen genieße als die frühere Tätigkeit eines Formers. Weder in sozialer noch in finanzieller Hinsicht erleide der Kläger eine wesentliche Einbuße. Zwar habe der Kläger seit dem 23. Juni 1958 als Bote zunächst nur einen Stundenlohn von 1,73 DM erhalten, dieser sei aber vom 1. November 1959 an auf 1,86 DM und vom 1. Januar 1960 an auf 2,10 DM erhöht worden. Als besonders qualifizierter Former wäre bei Schwerstarbeit in der Gießerei ein Stundenlohn von 3,11 DM nach Lohngruppe 8 möglich. Hierbei handele es sich aber um einen ausgesprochenen Spitzenlohn. Die durchschnittliche Entlohnung der Former erfolge nach der Lohngruppe 5 oder 6 des Manteltarifs mit einem Stundenlohn von 2,45 DM und 2,56 DM. Eine wesentliche finanzielle Verschlechterung sei also nicht eingetreten.

Sie beantragt,

1) das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

2) das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.

Es lägen nach seiner Auffassung keine wesentlichen Verfahrensmängel vor, zumal sich die Ansicht des LSG mit der des Landesarbeitsamts decke. Im übrigen habe sich der sachverständige Landessozialrichter in der mündlichen Verhandlung auch "offiziell geäußert". Dem Richter müsse gestattet sein, sich gegenüber Sachverständigengutachten kritisch zu verhalten, er dürfe gegebenenfalls auch von ihnen abweichen. Das Gutachten des Prof. Dr. S... aber sei bedenklich, zumal er als Nervenfacharzt im vorliegenden Fall für die Begutachtung ungeeignet sei.

Es ist bei dem Vorsitzenden des erkennenden Senats des Berufungsgerichts angefragt worden, ob sich einer der Landessozialrichter in der mündlichen Verhandlung zu der Frage der Schwere der Arbeit eines Kernmachers geäußert hat. Dies ist von dem Vorsitzenden des Senats verneint worden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist nach § 160 i.V.m. § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auch statthaft, da eine der von der Beklagten erhobenen Verfahrensrügen durchgreift.

Es steht zwar grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Tatsachengerichts, ob es sich bei der Anwendung von Erfahrungssätzen auf seine eigene Sachkunde verlassen oder ob es ein Sachverständigengutachten einholen will. Entscheidet es aber ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen, obwohl es die Sachkunde auf diesem Gebiet nicht in ausreichendem Maße besitzt, so liegt eine Überschreitung der Grenzen des ihm bei der Beweiswürdigung zustehenden freien Ermessens und damit ein Verstoß gegen § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG vor (vgl. Stein/Jonas/Schönke, Zivilprozeßordnung - ZPO -, 18. Aufl., Anm. IV vor § 402; RG in JW 38, 391 Nr. 17; BGH, NJW 51, 481).

Es kann hier dahingestellt bleiben, ob, wie die Beklagte in erster Linie rügt, das Tatsachengericht bei der Anwendung von Erfahrungssätzen auf Grund eigener Sachkenntnis nur dann entscheiden darf, wenn es die Beteiligten von dieser Absicht vorher in Kenntnis gesetzt und ihnen Gelegenheit gegeben hat, zu der Frage, ob das Gericht die eigene Sachkunde in ausreichendem Maße besitzt, Stellung zu nehmen, jedenfalls muß das Urteil des Berufungsgerichts in ausreichendem Maße erkennen lassen, daß das Gericht über die notwendige eigene Sachkunde verfügt. In § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG ist demgemäß ausdrücklich vorgeschrieben, daß in dem Urteil die Gründe angegeben werden, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Andernfalls ist die höhere Instanz nicht in der Lage, nachzuprüfen, ob das Gericht bei der Beweiswürdigung die Grenzen des ihm zustehenden Ermessens überschritten hat. Im vorliegenden Fall fehlt es aber hieran.

Zwar hat das Berufungsgericht ausdrücklich erklärt, daß der betreffende Landessozialrichter, auf dessen Ansicht es sich stützt, die erforderliche Sachkunde besitze. Diese Bemerkung ist aber weder erforderlich noch genügt sie, um die Sachkunde des betreffenden Landessozialrichters als gegeben ansehen zu können, zumal sich aus der Verhandlungsniederschrift ergibt, daß der eine Landessozialrichter Kaufmann und der andere kaufmännischer Angestellter ist, so daß zumindest eine nähere Darlegung nötig gewesen wäre, worauf sich die Sachkunde des betreffenden Landessozialrichters auf dem Gebiet der Former- und Kernmachertätigkeiten gründet. Hinzukommt, daß die Ansicht des betreffenden Landessozialrichters und die ihm folgende des Berufungsgerichts, daß der Kläger keine mittelschweren Formertätigkeiten mehr verrichten könne, zu der Ansicht der medizinischen Gutachter, der Professoren Dr. B... und Dr. S..., die den Kläger noch für fähig halten, mittelschwere Arbeiten zu verrichten, in Verbindung mit der des Präsidenten des Landesarbeitsamts Berlin, nach welcher es in Berlin Kernmachertätigkeiten mittelschwerer Art gibt, in Widerspruch steht. Das Berufungsgericht hätte zumindest näher ausführen müssen, warum es die Ansicht der Gutachter in Verbindung mit der Auskunft des Präsidenten des Landesarbeitsamts nicht als maßgebend ansieht. Das angefochtene Urteil verstößt daher gegen § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG (vgl. dazu Stein/Jonas/Schönke, aaO Anm. II 2 zu § 286).

Das Verfahren des Berufungsgerichts leidet somit an einem wesentlichen Mangel, so daß die Revision statthaft ist.

Darüber hinaus greift auch die materielle Rüge der Beklagten durch. Wenn der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts auch gelernter Facharbeiter ist und somit, wie das Berufungsgericht zu Recht entschieden hat, eine Verweisung auf Hilfsarbeitertätigkeiten, also auch auf die von dem Kläger zur Zeit ausgeübte Tätigkeit eines Boten, unzumutbar ist, da die Verrichtung einer solchen Tätigkeit für ihn einen wesentlichen sozialen Abstieg bedeuten würde, so verkennt das Berufungsgericht doch, daß sich der Kreis der Tätigkeiten, auf welche ein Versicherter nach § 1246 Abs. 2 RVO verwiesen werden kann, nicht auf solche Tätigkeiten beschränkt, welche dem Berufszweig des Formers verwandt sind. Ein Versicherter muß sich nach dieser Vorschrift vielmehr, wie das BSG bereits entschieden hat (BSG 9, 254), auch auf andersartige Tätigkeiten, die er nach seinen Kräften und Fähigkeiten zu verrichten in der Lage ist und durch deren Verrichtung er mindestens die Hälfte des Durchschnittseinkommens seiner bisherigen Berufsgruppe verdient, verweisen lassen wenn ihm nur die Verrichtung einer solchen Tätigkeit zumutbar ist, d.h. wenn damit kein wesentlicher sozialer Abstieg für ihn verbunden ist. Eine Beschränkung der Verweisungsmöglichkeiten auf die Berufsgruppe des Versicherten ist § 1246 RVO dagegen fremd. Die Berufsgruppe des Versicherten hat in § 1246 Abs. 2 RVO vielmehr nur die Bedeutung, daß der Durchschnittsverdienst gesunder Personen mit der gleichen oder einer ähnlichen Ausbildung und denselben oder gleichartigen Kenntnissen und Fähigkeiten die Richtschnur bildet, an welcher zu messen ist, ob der Versicherte nach den ihm verbliebenen Kräften und nach seinen Fähigkeiten noch in der Lage ist, mindestens die Hälfte hiervon zu erwerben. Dies hat das Berufungsgericht verkannt. Die Revision ist hiernach auch begründet.

Da es insoweit an den erforderlichen Feststellungen mangelt, konnte der erkennende Senat nicht selbst über den geltend gemachten Anspruch entscheiden, sondern mußte die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweisen.

Das Berufungsgericht wird nunmehr erneut zu prüfen haben, ob der Kläger nach den ihm verbliebenen Kräften noch in der Lage ist, mittelschwere Kernmachertätigkeiten zu verrichten. Es wird hierbei, wenn es wiederum von der Ansicht der Gutachter und des Präsidenten des Landesarbeitsamts abweichen will, zu bedenken haben, daß es schlüssig begründen muß, Warum es deren Ansicht nicht als zutreffend ansieht. Wenn auch ein Gericht nicht unbedingt an vorliegende Sachverständigengutachten und Auskünfte von Fachbehörden gebunden ist, so wird es ihnen doch in aller Regel folgen. Wenn es aber, wozu es in geeigneten Fällen allerdings befugt ist, hiervon abweichen will, so geht es - jedenfalls nicht an, daß es sich über diese Gutachten und Auskünfte mit der Bemerkung hinwegsetzt, einer der beteiligten Richter sei sachverständig, ohne sich eingehend mit den vorliegenden Sachverständigengutachten und Auskünften von Fachbehörden auseinanderzusetzen.

Verneint das Berufungsgericht erneut, daß der Kläger noch mittelschwere Kernmachertätigkeiten verrichten kann, so muß es prüfen, ob der Kläger nach den ihm verbliebenen Kräften und nach seinen Fähigkeiten noch imstande ist, andersartige Tätigkeiten zu verrichten, mit denen er den Durchschnittslohn seiner bisherigen Berufsgruppe verdienen kann, und ob ihm die Verrichtung solcher Tätigkeiten zumutbar ist. Nach den Kenntnissen und Fähigkeiten des Klägers werden vor allem mittelschwere Tätigkeiten in metallverarbeitenden Betrieben in Betracht kommen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

NJW 1962, 224

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