Leitsatz (amtlich)

1. Die Ersatzzeitenregelung in AVG § 28 Fassung 1957-02-23 gilt nur für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen, die seit dem Inkrafttreten des AnVNG (1957-01-01) eingetreten sind.

2. AVG § 26, der nach AnVNG Art 2 § 8 S 1 auch für Versicherungsfälle gilt, die in der Zeit vom 1945-04-01 bis 1956-12-31 eingetreten sind, führt für diese Versicherungsfälle nicht - über AVG § 27 - die Ersatzzeiten des AVG § 28 ein.

 

Normenkette

AVG § 26 Fassung: 1957-02-23, § 27 Fassung: 1957-02-23, § 28 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 8 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1249 Fassung: 1957-02-23, § 1250 Fassung: 1957-02-23, § 1251 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 8 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Juni 1958 wird aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 17. Januar 1956 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger beansprucht eine Rente (Ruhegeld) aus der Rentenversicherung der Angestellten wegen Berufsunfähigkeit. Er war als selbständiger Gewerbetreibender in der Zeit vom 1. Januar 1946 bis 29. August 1950 (= 56 Monate) in der Rentenversicherung der sowjetischen Besatzungszone pflichtversichert. Im Jahre 1952 wurde er berufsunfähig.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab, weil der Kläger mit den nachgewiesenen 56 Beitragsmonaten die Wartezeit nicht erfüllt habe (Bescheid vom 4.3.1955). Mit der gleichen Begründung wies das Sozialgericht Nürnberg die Klage ab (Urteil vom 17.1.1956). Auf die Berufung des Klägers verurteilte das Bayerische Landessozialgericht die Beklagte, dem Kläger vom 1. Januar 1957 an Rente wegen Berufsunfähigkeit im Sinne von § 27 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) a.F. zu gewähren: Dem Kläger stehe diese Rente vom Inkrafttreten des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) an zu. Er habe von Juni 1944 bis Mai 1945 (= 12 Monate) Kriegsdienste geleistet. Diese Zeiten seien als Ersatzzeiten auf die Wartezeit anzurechnen. Dies folge aus § 28 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AVG n.F., welche Vorschrift auf den Kläger über Art. 2 §§ 43 und 8 AnVNG, §§ 26 und 27 AVG n.F. anzuwenden sei. Bei Hinzurechnung der Ersatzzeiten sei die Wartezeit für den Kläger erfüllt (Urteil vom 20.6.1958).

Das Landessozialgericht ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 13. August 1958 zugestellte Urteil am 30. August 1958 Revision ein mit dem Antrag, dieses Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen. Sie begründete die Revision gleichzeitig: § 28 AVG n.F. finde auf Versicherungsfälle aus der Zeit vor dem 1. Januar 1957 keine Anwendung; dies ergebe sich zwingend aus dem Wortlaut, der Systematik und dem Sinnzusammenhang der Gesetzesvorschriften sowie aus den Gesetzesmaterialien.

Der Kläger beantragte die Zurückweisung der Revision.

Die Revision der Beklagten ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt; sie ist statthaft, weil das Landessozialgericht sie im angefochtenen Urteil nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen hat. Sie ist auch begründet.

Wie das Landessozialgericht zutreffend entschieden hat, kann der Kläger bis zum 31. Dezember 1956 die Rente nicht beanspruchen, weil die Voraussetzungen des bis dahin geltenden Rechts bei ihm nicht erfüllt sind. Das Landessozialgericht hat auch richtig erkannt, daß der Anspruch des Klägers auf die Rente für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 - da die sonstigen Voraussetzungen vorliegen - nur davon abhängt, ob für die Erfüllung der Wartezeit § 28 AVG n.F. anzuwenden ist. Es hat ferner mit Recht festgestellt, daß Art. 2 § 8 AnVNG in schwebenden Fällen - selbst im Revisionsverfahren - anzuwenden ist (Art. 2 § 43 AnVNG) und daß im vorliegenden Fall die Voraussetzungen dieser Vorschrift insofern gegeben sind, als der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des AnVNG, aber nach dem 31. März 1945 eingetreten ist. Das Landessozialgericht irrt aber, wenn es annimmt, wegen der in § 8 angeordneten Geltung des § 26 AVG müsse auch § 28 AVG angewandt werden.

Auf den ersten Blick scheint zwar der Wortlaut des § 26 AVG für die Auffassung des Landessozialgerichts zu sprechen, weil in dieser Vorschrift zur Erörterung des Begriffs "Versicherungszeiten" durch einen Klammerzusatz auf § 27 AVG und hier wiederum für die Zeiten ohne Beitragsleistung (Ersatzzeiten) auf § 28 AVG verwiesen ist. Zweifel an der Richtigkeit dieser Auffassung ergeben sich aber schon daraus, daß in den Übergangsvorschriften des Art. 2 AnVNG, in deren Rahmen § 8 eine Ausnahme zum Grundsatz des § 6 (altes Recht für alte Versicherungsfälle) ist, eine so indirekte Verweisung auf die §§ 27, 28 AVG gewählt worden sein sollte, während im AVG selbst in § 35 bei vergleichbarem Anlaß nicht nur der § 26, sondern auch die §§ 27, 28 ausdrücklich genannt worden sind.

Für die Anwendung des § 26 AVG im Rahmen des Art. 2 § 8 AnVNG ist die Erläuterung des Begriffs "Versicherungszeiten" durch den Hinweis auf § 27 auch gar nicht notwendig, weil auch im bisherigen Recht der Ausdruck "Versicherungszeiten" als Oberbegriff für Beitragszeiten und Ersatzzeiten gebraucht worden ist (vgl. z.B. § 4 Abs. 1 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes - FremdRG - vom 7.8.1953, BGBl. I S. 848).

Eine genauere Prüfung, welche Bedeutung § 26 AVG für neue Versicherungsfälle, und welche Bedeutung Art. 2 § 8 AnVNG für die von ihm erfaßten alten Versicherungsfälle hat, zeigt aber, daß die Anwendung des § 28 AVG bei diesen alten Versicherungsfällen dem Sinnzusammenhang und dem Zweck der Vorschriften widerspräche. § 26 AVG bestimmt für neue Versicherungsfälle, aus welchen Zeiträumen Versicherungszeiten unbedingt oder nur bedingt anzurechnen sind; er erfüllt damit für das neue Recht die Aufgabe der früheren Anwartschaftsvorschriften. In dieser Aufgabe erschöpft sich seine unmittelbare Bedeutung. Deswegen konnte sich der Senat der Auffassung des Landessozialgerichts nicht anschließen, daß die Anwendbarkeit des § 26 AVG das Ersatzzeitenrecht des § 28 AVG ebenso einschließe wie § 4 Abs. 1 des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes (SVAG) die Anwendung aller Wartezeitvorschriften der Ersten Vereinfachungs-Verordnung vom 17. März 1945 einschließlich der Vorschriften über die Ersatzzeiten (Art. 17) vorgeschrieben habe. § 26 AVG entspricht nämlich nicht dem § 4 Abs. 1 SVAG und Art. 17 der Ersten Vereinfachungs-Verordnung, sondern der Anwartschaftsregelung des § 4 Abs. 2 SVAG und Art. 19 der Ersten Vereinfachungs-Verordnung.

§ 26 AVG bringt gegenüber dem bisherigen Recht insofern eine Verbesserung, als Versicherungszeiten seit dem 1. Januar 1924 nicht mehr verfallen können, und insofern eine Verschlechterung, als Versicherungszeiten vor dem 1. Januar 1924 nicht mehr durch Halbdeckung, sondern nur noch bei Entrichtung mindestens eines Versicherungsbeitrags in der Zeit zwischen dem 1. Januar 1924 und dem 30. November 1948 anrechenbar bleiben. Art. 2 § 8 AnVNG übernimmt in seinem Satz 1 diese Anwartschaftsregelung für Versicherungsfälle zwischen dem 1. April 1945 und dem 31. Dezember 1956. In seinem Satz 3 gleicht er aber die Verschlechterung gegenüber dem bisherigen Recht insofern wieder aus, als er Beitragszeiten vor dem 1. Januar 1924 auch durch Halbdeckung anrechenbar bleiben läßt Spricht die unmittelbare Funktion des § 26 AVG für neue Versicherungsfälle schon gegen die Annahme, daß Art. 2 § 8 Satz 1 AnVNG trotz des in Art. 2 § 6 AnVNG aufgestellten Grundsatzes auch die Vorschriften des § 28 AVG für alte Fälle anwendbar machen wolle, so zeigen die Folgen einer solchen Annahme, daß sie den inneren Zusammenhang der gesetzlichen Vorschriften sprengt und ihren Zweck vereitelt.

Art. 2 § 8 Satz 3 AnVNG kann nämlich durchaus neben dem ersten Satz dieses Paragraphen anzuwenden sein, und zwar dann, wenn die Voraussetzungen des § 26 Satz 2 AVG nicht vorliegen, d.h. wenn Versicherungsbeiträge nur nach dem 30. November 1948 und vor dem 1. Januar 1924 entrichtet worden sind. Wollte man nun mit dem Landessozialgericht annehmen, daß mit Satz 1 des Art. 2 § 8 AnVNG über § 26 auch § 28 AVG anzuwenden sei, so ergäben sich seltsame Folgen:

Für die Zeiten vor dem 1. Januar 1924 wäre das alte Ersatzzeitenrecht anzuwenden, weil Art. 2 § 8 Satz 3 AnVNG vom Ausschluß des § 26 AVG ausgeht; für die vom 1. Januar 1924 an zurückgelegten Versicherungszeiten würde nach § 8 Satz 1 und § 26 Satz 1 AVG das neue Ersatzzeitenrecht gelten. In der Mehrzahl der Fälle werden die vom 1. Januar 1924 an zurückgelegten Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 2 AVG angerechnet werden können. Wenn aber die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 AVG nicht durch Versicherungszeiten oder rentenversicherungspflichtige Beschäftigungen nach dem 1. Januar 1924 erfüllt sind, bliebe zu fragen, ob nicht die nach Art. 2 § 8 Satz 3 AnVNG anrechenbaren Beitragszeiten vor dem 1. Januar 1924 auch für die Erfüllung der Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 AVG anzurechnen sind.

Darin läge aber eine Bevorzugung der alten Fälle gegenüber den neuen Versicherungsfällen, für die ja dann die Zeiten vor 1924 nicht anrechenbar sind. Wollte man aber diese Folgen vermeiden und doch der Absicht des Art. 2 § 8 Satz 3, den Besitzstand zu wahren, entsprechen, so müßte man auf die Anwendung des § 28 AVG in solchen Fällen auch für Zeiten ab 1. Januar 1924 verzichten und statt dessen altes Ersatzzeitenrecht gelten lassen.

Diese verwickelten und widerspruchsvollen Folgen treten aber nicht ein, wenn der Hinweis auf § 26 AVG in Art. 2 § 8 Satz 1 AnVNG nur als Hinweis auf seine Bedeutung als Anwartschaftsregelung verstanden wird, wie es ja schon Satz 3 dieser Vorschrift nahelegt. Für solche Auslegung spricht auch der schriftliche Bericht des Sozialpolitischen Ausschusses des Deutschen Bundestags - Bundestagsdrucksache 3080 S. 22 -. Auch darin ist nur von dem Anwartschaftsrecht und der Unverfallbarkeit der Beiträge die Rede, nicht aber von dem Ersatzzeitenrecht. Auch der Umstand, daß der Unverfallbarkeit der Beiträge eine auf den 1. April 1945 begrenzte Rückwirkung verliehen worden ist, spricht dafür, daß nur Anwartschaftsrecht, nicht aber Ersatzzeitenrecht geregelt werden soll. Für Versicherungsfälle nach dem 31. März 1945 hatte nämlich in den einzelnen Teilen des Bundesgebietes verschiedenes Anwartschaftsrecht gegolten, weil die Art. 19 und 25 Abs. 3 Nr. 1 der Ersten Vereinfachungs-Verordnung vom 17. März 1945 (BGBl. I S. 41) nicht überall angewendet worden sind und § 4 Abs. 2 SVAG erst für Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1948 wieder einheitliches Anwartschaftsrecht schuf. Das Ersatzzeitenrecht des Art. 17 der Ersten Vereinfachungs-Verordnung ist dagegen schon zum 1. Juni 1945 rückwirkend einheitlich eingeführt worden (§ 4 Abs. 1 SVAG, § 6 Abs. 2 der Durchführungs-Verordnung zum SVAG, Art. 25, 17 der Ersten Vereinfachungs-Verordnung).

Dafür, daß in Art. 2 AnVNG das Anwartschaftsrecht und das Ersatzzeitenrecht unabhängig voneinander geregelt werden sollten wie schon in der Ersten Vereinfachungs-Verordnung und dem SVAG, spricht auch § 9 dieses Artikels. Danach werden Ersatzzeiten für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 auch bei neuen Versicherungsfällen auf die Wartezeit angerechnet, wenn sie nach dem bisherigen Recht über die Vorschrift des § 28 AVG hinaus anrechenbar sind. Auch hier würde der innere Zusammenhang der Vorschriften gesprengt, wenn man zu dem alten Ersatzzeitenrecht auch das alte Anwartschaftsrecht hinzunähme, weil bisher Ersatzzeiten nur angerechnet werden konnten, wenn die Anwartschaft aus davorliegenden Beitragszeiten erhalten war. Stellt man nämlich die unter Art. 2 § 9 AnVNG fallenden alten Ersatzzeiten nicht nur den Ersatzzeiten des § 28 Abs. 1 AVG gleich, sondern übernimmt für sie auch das alte Anwartschaftsrecht, dann führten die durch Halbdeckung anrechenbaren Beitragszeiten vor 1924 zur Anrechnung von Ersatzzeiten auch dann, wenn die Beitragszeiten selbst nach § 26 Satz 2 AVG von der Anrechnung ausgeschlossen sind. Art. 2 § 9 AnVNG fügt sich nur dann dem Sinnzusammenhang der Überleitungsvorschriften und der Vorschriften des neuen Rechts ein, wenn er als eine Erweiterung der in § 28 Abs. 1 AVG erwähnten Ersatzzeiten verstanden wird, und zwar ohne Übernahme des alten Anwartschaftsrechts für diese Ersatzzeiten (vgl. dazu auch Jantz-Zweng zu Art. 2 § 9 ArVNG). Ersatzzeiten der in § 28 Abs. 1 AVG nicht mehr erwähnten Gruppen sind nur anrechenbar, wenn ihnen nach § 26 AVG anrechnungsfähige Beitragszeiten vorausgehen.

Aus dem Wortlaut des Gesetzes, aus dem Zweck der einzelnen Vorschriften und aus ihrem Sinnzusammenhang ergibt sich, daß Art. 2 § 8 AnVNG zwar auf die Anwartschaftsregelung des § 26 AVG, nicht aber gleichzeitig (auf dem Wege über § 27 AVG) auf die Ersatzzeitenregelung des § 28 AVG verweist. Diese Vorschrift findet daher auf Versicherungsfälle, die nach dem 31. März 1945, aber vor dem 1. Januar 1957 eingetreten sind, keine Anwendung. Die gegenteilige Meinung des Landessozialgerichts, die sich hauptsächlich auf den Klammerzusatz in § 26 AVG stützt, erscheint nicht begründet. Dieser Klammerzusatz hat nur für den Fall der unmittelbaren Geltung des § 26 AVG Bedeutung. Dies bedeutet, daß § 28 AVG nur auf Versicherungsfälle anzuwenden ist, die in der Zeit seit dem Inkrafttreten des AnVNG eingetreten sind. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

Danach kann aber die Kriegsdienstzeit des Klägers, die vor dem Beginn seiner rentenversicherungspflichtigen Tätigkeit liegt, nicht auf die Wartezeit angerechnet werden, diese ist mit den vom Kläger nachgewiesenen Beitragszeiten allein nicht erfüllt. Die Revision der Beklagten erweist sich sonach als begründet, weshalb das angefochtene Urteil aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das im Ergebnis zutreffende Urteil des Sozialgerichts Nürnberg zurückgewiesen werden muß.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 92

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