Entscheidungsstichwort (Thema)

Tätigkeit wie bei privatem Kfz-Halter Beschäftigter

 

Orientierungssatz

1. Wer am privaten Pkw eines Arbeitskollegen den Seilzug des Anlassers repariert, wird wie ein nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO aufgrund eines Arbeitsverhältnisses in der privaten Kfz-Haltung Beschäftigter tätig und ist deshalb nach § 539 Abs 2 RVO versichert.

2. Liegt eine ernstliche Arbeitstätigkeit für ein Unternehmen vor, läßt sich der Versicherungsschutz nicht mit der Begründung verneinen, die Tätigkeit sei eigenwirtschaftlich, weil sie während der Freizeit verrichtet worden sei.

3. Für die Anwendung des § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO ist es nicht erforderlich, daß der Unfall sich bei Arbeiten ereignet, die üblicherweise von den im unterstützten Unternehmen oder in Unternehmen des betreffenden Gewerbezweiges beschäftigten Personen ausgeübt werden (vgl BSG 25.1.1973 2 RU 55/71 = BSGE 35, 140, 142).

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 2 Fassung: 1963-04-30, § 658 Abs 2 Nr 2 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 04.04.1984; Aktenzeichen L 17 U 176/83)

SG Münster (Entscheidung vom 16.08.1983; Aktenzeichen S 14 U 59/82)

 

Tatbestand

Als Folgen eines Unfalls am 3. November 1963 wurden dem Kläger die Finger zwei bis fünf an der linken Hand amputiert. Streitig ist, ob der Unfall ein Arbeitsunfall war.

Der Kläger ist gelernter Schlosser und war als angestellter Fahrlehrer beschäftigt. Am Unfalltag, einem Sonntag, suchte ihn gegen 14 Uhr der etwa 200 m entfernt wohnende, bei demselben Unternehmen wie der Kläger als Fahrlehrer beschäftigte K mit seinem PKW auf. Der PKW hatte einen Schaden; das Fahrzeug sprang nicht an und mußte angeschoben werden; K war nicht als Schlosser ausgebildet und konnte die Schadensursache nicht feststellen. Der Kläger reparierte den Seilzug des Anlassers in etwa einer Viertelstunde und geriet, nachdem K den Motor angelassen hatte, mit der linken Hand in den Ventilatorflügel.

Auf seinen im Mai 1974 gestellten Entschädigungsantrag teilte die Beklagte dem Kläger durch Schreiben vom 16. Juli 1974 mit, die Arbeitsleistung des Klägers falle in den Tätigkeitsbereich eines Beschäftigten einer Autoreparaturwerkstatt; für diese Art von Unternehmen sei sie nicht der zuständige Versicherungsträger. Im März 1981 und im Februar 1982 erstattete K gegenüber der Beklagten Unfallanzeige. Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 21. April 1982 erneute Prüfung und Bescheidung nach §§ 627 Reichsversicherungsordnung (RVO), 44 Sozialgesetzbuch -Verwaltungsverfahren- (SGB X). Die Beklagte berief sich auf die Bindungswirkung des Verwaltungsakts vom 16. Juli 1974, zu dessen Rücknahme nach § 44 SGB X kein Anlaß bestehe (Schreiben vom 26. April 1982 ohne Rechtsmittelbelehrung). Den Widerspruch des Klägers wies sie durch Bescheid vom 27. September 1982 zurück: Die Tätigkeit, bei welcher der Kläger den Unfall erlitten habe, werde üblicherweise sonst von Kfz-Werkstätten verrichtet. Im Verhältnis zum PKW-Halter handele es sich mithin um eine unternehmerische Leistung auf werkvertraglicher Basis. Es fehle an einer arbeitnehmerähnlichen Tätigkeit iS des § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO.

Das Sozialgericht (SG) Münster hat die auf Entschädigungsleistung gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 16. August 1983): Ein privater Kfz-Halter habe nicht die Stellung eines Unternehmers. Wer aus Gründen der Freundschaft, Kollegialität oder Nachbarschaft eine Reparatur oder Wartung an dem Fahrzeug eines privaten Kfz-Halters durchführe, sei vielmehr selbst als Unternehmer anzusehen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG und des Bescheides vom 26. April 1982 idF des Widerspruchsbescheides vom 27. September 1982 verurteilt, dem Kläger Verletztenrente zu zahlen (Urteil vom 4. April 1984). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Die Beklagte habe bei Erlaß des Verwaltungsakts vom 16. Juli 1974 das Recht unrichtig angewandt und deshalb zu Unrecht keine Verletztenrente gewährt (§ 44 Abs 1 SGB X); der angefochtene Bescheid vom 26. April 1982 sei deshalb rechtsfehlerhaft. Der Kläger sei im Unternehmen der privaten Kfz-Haltung des K wie ein Arbeitnehmer iS des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO tätig geworden und deshalb nach § 539 Abs 2 RVO gegen Arbeitsunfall versichert gewesen. Für eine unternehmerähnliche Tätigkeit bestehe kein Anhalt. Die Tätigkeit des Klägers sei auch über den Umfang einer reinen Gefälligkeitsleistung hinausgegangen und nicht dadurch geprägt gewesen, daß sie für einen Nachbarn und Arbeitskollegen verrichtet worden sei.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, der Kläger sei nicht wie ein nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO bei K Beschäftigter tätig geworden. Es gebe keine Personen, die zu K als dem Unternehmer seiner privaten Kfz-Haltung (§ 658 Abs 2 Nr 2 RVO) in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit stünden. Auch wenn auf den gesamten "Unternehmenszweig" der privaten Kfz-Haltungen abzustellen wäre, fehle es an einer rechtserheblichen Anzahl von gleichartig Beschäftigten. Es dürfe nicht darauf abgestellt werden, daß eine vergleichbare Tätigkeit in Kfz-Werkstätten, einem anderen Gewerbezweig, üblich sei. Die Hilfe bei der Reparatur oder Wartung eines privat gehaltenen Kraftfahrzeuges sollte im übrigen in Fällen der vorliegenden Art als eigenwirtschaftliche, zur Freizeitgestaltung gehörende Betätigung gewertet werden. Die Heranziehung von Mitgliedsunternehmen der Beklagten zur Aufbringung von Mitteln ohne die Gegenleistung von Beiträgen für Unfälle bei der privaten Kfz-Haltung verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes -GG-).

Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Das LSG hat die Beklagte zu Recht dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Unfalls vom 3. November 1963 Verletztenrente zu gewähren. Die Beklagte hat durch die Versagung einer Entschädigung im Schreiben vom 16. Juli 1974 - durch Verwaltungsakt (s § 31 SGB X) - das Recht unrichtig angewandt (§ 44 Abs 1 SGB X). Der Unfall des Klägers war ein Arbeitsunfall (§ 548 RVO). Der Kläger war zur Unfallzeit wie ein nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO aufgrund eines Arbeitsverhältnisses in der privaten Kfz-Haltung Beschäftigter tätig und deshalb nach § 539 Abs 2 RVO versichert.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hat der Kläger durch die Reparatur am Seilzug des Anlassers des Pkw seines Arbeitskollegen K eine ernstliche, dem in Frage stehenden Unternehmen dienliche Tätigkeit verrichtet, die dem erklärten Willen des Unternehmers entsprach und auch hinsichtlich der zum Unfall führenden Tätigkeit in einem inneren Zusammenhang mit dem Unternehmen stand (s BSGE 5, 168; BSG SozR 2200 § 539 Nr 93 mwN; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 475m ff; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 539 Anm 101 ff; Gitter in SGB - Sozialversicherung - Gesamtkommentar, § 539 RVO Anm 68 - sämtliche mwN). Bei einer Tätigkeit nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO braucht eine persönliche oder wirtschaftliche Abhängigkeit vom unterstützten Unternehmen nicht vorzuliegen; auch sind die Beweggründe des Tätigwerdens für den Versicherungsschutz unerheblich, so daß grundsätzlich auch Freundschafts- und Gefälligkeitsdienste - wie im vorliegenden Fall - der Anwendung des § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO nicht entgegenstehen (BSGE aaO; Brackmann aaO S 475u; Lauterbach/Watermann aaO § 539 Anm 102). Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO besteht zwar nicht bei jeder Tätigkeit, die einem anderen Unternehmen dient und dem Willen des Unternehmers entspricht. Es muß sich vielmehr um eine Tätigkeit handeln, die ihrer Art nach sonst von Personen verrichtet werden könnte, die zu dem Unternehmen in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit stehen; die Tätigkeit muß unter solchen Umständen geleistet werden, daß sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) ähnlich ist. Dies darf nicht losgelöst von den tatsächlichen und rechtlichen Umständen beurteilt werden, unter denen sich die Tätigkeit vollzieht. Nach diesen Umständen hat der Kläger jedoch mit der Reparaturarbeit eine Tätigkeit verrichtet, wie sie derjenigen aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich ist. Er ist nicht als Unternehmer tätig geworden und auch nicht, wie die Beklagte geltend macht, "unternehmerähnlich" (s BSGE 42, 126, 128). Die von der Beklagten angeführte "Gleichrangigkeit" zwischen dem Kläger und dem privaten Kfz-Halter K schließt eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit nicht aus, da es für die Anwendung des § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO auf eine persönliche oder wirtschaftliche Abhängigkeit, wie ausgeführt, nicht ankommt. Unerheblich ist auch, daß die "Funktion" von Kraftfahrzeugwerkstätten gegenüber privaten Kfz-Haltern eine selbständige ist, wie die Beklagte weiter geltend macht. Abgesehen davon, daß auch diese Unternehmen ihre Arbeiten in aller Regel durch Beschäftigte iS des § 539 Abs 1 Nr 1 RVO durchführen lassen, läßt sich daraus nicht folgern, daß der Kläger nicht wie ein Arbeitnehmer, sondern anstelle eines selbständigen Inhabers einer Werkstatt tätig geworden ist. Liegt - wie hier - eine ernstliche Arbeitstätigkeit für ein Unternehmen vor, läßt sich der Versicherungsschutz auch nicht mit der Begründung verneinen, die Tätigkeit sei eigenwirtschaftlich, weil sie während der Freizeit verrichtet worden sei.

Die Beklagte wendet sich im wesentlichen gegen die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO bei einer vorübergehenden Tätigkeit für nicht gewerbsmäßige Halter von Kraftfahrzeugen, die insoweit Unternehmer sind (§ 658 Abs 2 Nr 2 RVO), sowie gegen ihre Zuständigkeit zur Entschädigung dieser Versicherten. Schon mehrfach hat der erkennende Senat zu den von der Beklagten vorgebrachten Erwägungen Stellung genommen, insbesondere zur Frage des Versicherungsschutzes von Pannenhelfern (s BSGE 35, 140, 142) und dazu, daß hier die Beklagte und nicht der für Haushaltungen zuständige Versicherungsträger leistungspflichtig ist (s ua BSGE aaO; BSG Urteil vom 31. März 1976 -2 RU 113/75- USK 7633 mwN). Der Senat hält an seiner Rechtsauffassung fest. Danach steht dem Versicherungsschutz des Klägers nicht entgegen, daß es keine Personen gibt, die zu K als privatem Kfz-Halter in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit stehen und, wie die Beklagte weiter geltend macht, auch sonst nur eine ganz geringe Zahl der privaten Halter von Kraftfahrzeugen gem § 539 Abs 1 Nr 1 RVO Versicherte beschäftigt. Für die Anwendung des § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO ist es nicht erforderlich, daß der Unfall sich bei Arbeiten ereignet, die üblicherweise von den im unterstützten Unternehmen oder in Unternehmen des betreffenden Gewerbezweiges beschäftigten Personen ausgeübt werden (s ua BSGE 34, 240, 242; 35, 140, 142; Brackmann aaO S 475r; Lauterbach/Watermann aaO § 539 Anm 101 Buchst d). Ebenso kann der Versicherungsschutz in Fällen der vorliegenden Art nicht deshalb versagt werden, weil die Beklagte insoweit mit merkbaren finanziellen Belastungen rechnet, ohne allgemein von den privaten Kfz-Haltern Beiträge zu erhalten.

Die Revision ist danach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665184

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