Leitsatz (amtlich)

Ein aufgrund streitiger Verhandlung ergangenes rechtskräftiges Unterhaltsurteil ist kein "sonstiger Grund" im Sinne von RVO § 1265.

 

Normenkette

RVO § 1265 S. 1 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 17. April wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten H B wurde durch Urteil des Landgerichts Frankfurt/M. vom 13. April 1926 aus alleinigem Verschulden des Versicherten geschieden. Im Anschluß an den Ehescheidungsprozeß erstritt die Klägerin die Verurteilung ihres früheren Ehemannes zur Zahlung eines Unterhaltsbeitrages für sich und die beiden Kinder aus dieser Ehe in Höhe von 15,- DM wöchentlich. Der Versicherte erbrachte diese Unterhaltsleistung bis zu seiner Invalidisierung im Jahre 1932. Da ihm seit dieser Zeit nur noch Invalidenrente in Höhe von monatlich 60,- DM zur Verfügung stand, leistete er der Klägerin seit dieser Zeit keinen Unterhalt mehr. Weder die Klägerin noch der Versicherte gingen eine neue Ehe ein. Am 25. April 1945 starb der Versicherte.

Am 20. April 1954 stellte die Klägerin Antrag auf Gewährung der sog. Geschiedenen-Witwenrente. Durch Bescheid vom 12. Mai 1954 lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, der Versicherte habe zur Zeit seines Todes die Klägerin nicht unterhalten und sei hierzu auch nicht in der Lage gewesen. Mit derselben Begründung wurde auch der Widerspruch der Klägerin gegen diesen Bescheid zurückgewiesen.

Auf die hiergegen erhobene Klage verurteilte das Sozialgericht Frankfurt/M. die Beklagte, der Klägerin die beantragte Rente ab 1. Mai 1954 in Höhe von höchstens 65,- DM monatlich zu zahlen.

Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht das Urteil des Sozialgerichts durch Urteil vom 17. April 1958 auf und wies die Klage ab. Der Versicherte sei wegen der seit dem Jahre 1932 bestehenden Leistungsunfähigkeit nicht unterhaltspflichtig nach dem Ehegesetz (EheG) von 1938 gewesen. Aus diesem Grunde stehe der Klägerin nach § 1256 Abs. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F. kein Anspruch auf sog. Geschiedenen-Witwenrente zu. Sie könne aber auch aus § 1265 RVO keinen Anspruch gegen die Beklagte herleiten; der Versicherte sei weder nach dem EheG noch aus sonstigen Gründen unterhaltspflichtig gewesen. Das rechtskräftige Unterhaltsurteil sei insbesondere kein sonstiger Leistungsgrund im Sinne der zweiten Alternative dieser Vorschrift. Der Unterhaltstitel sei zudem für die Klägerin nutzlos gewesen, da er nicht durchzusetzen gewesen sei; denn dem Versicherten habe bei einem Vollstreckungsversuch der Klägerin die Möglichkeit der Klage nach § 323 oder § 767 der Zivilprozeßordnung (ZPO) offengestanden. Die Voraussetzungen der dritten Alternative des § 1265 RVO lägen nicht vor, da der Versicherte in dem Jahr vor seinem Tode der Klägerin keinen Unterhalt geleistet habe. Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist der Klägerin am 4. Juli 1958 zugestellt worden. Sie hat durch Schriftsatz ihres Prozeßbevollmächtigten vom 1. August 1958, eingegangen am 2. August 1958, Revision eingelegt, soweit ihr Rentenanspruch für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 abgelehnt worden ist, und hat die Revision, nachdem die Revisionsbegründungsfrist bis zum 4. Oktober 1958 verlängert worden war, durch Schriftsatz ihres Prozeßbevollmächtigten vom 2. Oktober 1958, eingegangen am 3. Oktober 1958, begründet. Sie rügt die Verletzung des § 1265 RVO durch das Berufungsgericht. Der rechtskräftige Unterhaltstitel müsse als Verpflichtung "aus sonstigen Gründen" im Sinne des § 1265 RVO angesehen werden.

Sie beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Darmstadt vom 17. April 1958 aufzuheben, soweit es ihren Anspruch für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 betrifft, und die Beklagte zu verurteilen, ihr für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 Rente nach § 1265 RVO zu gewähren sowie der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt und hat keine Stellung genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft, da das Landessozialgericht sie zugelassen hat. Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen daher nicht. Es mußte ihr jedoch der Erfolg versagt bleiben.

Da die Klägerin nur Revision eingelegt hat, soweit das Berufungsgericht über den geltend gemachten Anspruch für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 entschieden hat, war nur zu prüfen, ob für diese Zeit ein Rentenanspruch nach § 1265 RVO besteht. Diese Vorschrift ist, da sie nach Art. 2 § 19 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG - auch für Versicherungsfälle, die in der Zeit vom 1. Mai 1942 bis zum 31. Dezember 1956 eingetreten sind, gilt, im vorliegenden Fall anzuwenden. Hiernach steht der Klägerin Rente zu, wenn der Versicherte ihr zur Zeit seines Todes nach dem EheG oder aus sonstigen Gründen Unterhalt zu leisten hatte oder im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Maßgebend ist das EheG, welches zur Zeit des Todes des früheren Ehemannes galt (BSG. 5 S. 276), hier also das EheG 38. Voraussetzung des Unterhaltsanspruchs nach § 66 EheG 38 ist unter anderem, daß der frühere Ehemann in der Lage ist, Unterhalt zu leisten (BSG. 5 S. 276). Diese Voraussetzung ist, wie das Berufungsgericht nicht verkannt hat und wie auch die Klägerin selbst nicht bezweifelt, nicht erfüllt, da dem Versicherten lediglich eine Invalidenrente in Höhe von 60,- DM monatlich zur Verfügung stand und diese Einnahme kaum für seinen eigenen notwendigen Unterhalt ausreichte. Da der Versicherte nach der eben falls nicht angegriffenen Feststellung des Berufungsgerichts der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode auch keinen Unterhalt geleistet hat, liegen auch die Voraussetzungen der dritten Alternative des § 1265 RVO nicht vor, wie das Berufungsgericht ebenfalls zu Recht entschieden hat. Zweifelhaft könnte allein sein, ob die Voraussetzungen der zweiten Alternative dieser Vorschrift gegeben sind. Dem Berufungsgericht ist aber auch insoweit im Ergebnis zuzustimmen; denn das zu Gunsten der Klägerin ergangene rechtskräftige Unterhaltsurteil ist kein "sonstiger Grund" im Sinne dieser Vorschrift, da hierunter nur materielle Anspruchsgründe zu verstehen sind. Dies ergibt sich sowohl aus der Entstehungsgeschichte wie auch aus dem Wortlaut des § 1265 RVO. Der Ausschuß für Sozialpolitik des Bundestages wollte, wie sich aus seinem schriftlichen Bericht zu § 1269 des Entwurfs (zur Bundestagsdrucksache 3080 der 2. Wahlperiode) ergibt, noch zusätzlich die Möglichkeit eröffnen, neben der gesetzlichen auch vertragliche Unterhaltsverpflichtungen als ausreichend anzusehen. Dem ist der Gesetzgeber gefolgt. Dies spricht dafür, daß nur an andere materielle Anspruchsgründe gedacht ist. Auch die in § 1265 RVO vorgenommene sprachliche Zusammenfassung der "sonstigen Gründe" mit dem gesetzlichen Unterhaltsgrund deutet darauf hin, daß es sich bei beiden Arten von Gründen um gleichartige Gründe handelt, d. h., daß unter sonstigen Gründen ebenfalls materiell-rechtliche Gründe zu verstehen sind. Zudem pflegt der Gesetzgeber die in § 1265 RVO für beide Gruppen von Gründen benutzte Formulierung "zu leisten hat" ebenso wie - von der Seite des Berechtigten aus gesehen - "zu fordern berechtigt ist" zur Bezeichnung eines Schuldverhältnisses zu verwenden. Er vermeidet es allgemein, beide Seiten des Schuldverhältnisses zu bezeichnen. Zudem kann man auch schon sprachlich gesehen, ein Urteil kaum als einen Leistungsgrund bezeichnen. Es könnte allerdings gefragt werden, ob nicht durch ein zur Leistung verurteilendes rechtskräftiges Urteil der zugrundeliegende materielle Anspruch, falls er entgegen diesem Urteil nicht besteht, zur Entstehung gelangt; denn dann könnten die Voraussetzungen der zweiten Alternative des § 1265 RVO allerdings als gegeben angesehen werden. Nach der heute vorwiegenden prozessualen Rechtskrafttheorie (Stein-Jonas, Zivilprozeßordnung, 18. Aufl. Anm. II, 1 zu § 322, Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., § 148 II; Baumbach, Zivilprozeßordnung, 25. Aufl. 2 B vor § 322), der sich anzuschließen der Senat keine Bedenken trägt, wird jedoch der materielle Anspruch durch das rechtskräftige Urteil nicht berührt, kann also auch nicht zur Entstehung gelangen. In dem rechtskräftigen Titel ist zwar der materielle Anspruch in einer Weise festgelegt, daß die Vollstreckungsorgane verpflichtet sind, nach Maßgabe dieses Titels zu vollstrecken, berührt wird jedoch der materielle Anspruch durch den Titel nicht (vgl. dazu Rosenberg a. a. O. § 170 III, 1; Stein-Jonas a. a. O. II, 2 vor § 704). Der sich aus dem rechtskräftigen Titel ergebende Vollstreckungsanspruch aber ist nicht materieller, sondern prozessualer Natur und ist daher kein sonstiger Grund im Sinne der zweiten Alternative des § 1265 RVO. Zudem richtet er sich gegen den Staat und nicht gegen den Vollstreckungsschuldner. Dieser ist seinerseits weder dem Vollstreckungsgläubiger noch dem Staat gegenüber zu einer Leistung, insbesondere nicht zur Leistung von Unterhalt, wie es in § 1265 RVO verlangt wird, verpflichtet (vgl. dazu Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., § 170 II, 3). Das rechtskräftige Unterhaltsurteil ist daher kein "sonstiger Grund" im Sinne des § 1265 RVO. Unabhängig hiervon werden allerdings Versicherungsträger und Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit dann, wenn ein rechtskräftiges Unterhaltsurteil vorliegt, in aller Regel keine weiteren Ermittlungen darüber erheben, ob die Voraussetzungen eines Unterhaltsanspruchs gegeben waren. Besteht jedoch z. B. Anlaß für die Annahme, daß sich die Einkommens- oder Vermögensverhältnisse der Parteien des Unterhaltsprozesses seit Erlaß des Urteils wesentlich geändert haben, so werden sie die erforderlichen Ermittlungen selbst anstellen.

Dieses Ergebnis erscheint auch angemessen. Es wäre nicht recht verständlich, wenn diejenige geschiedene Frau, welche nach der Scheidung ein Unterhaltsurteil erstritten hat, weil ihr früherer Ehemann seiner Unterhaltsverpflichtung nicht freiwillig nachgekommen ist, nach dessen Tode (falls keine Klage nach §§ 323, 767 ZPO erhoben ist bzw. wird) einen Rentenanspruch nach § 1265 RVO haben würde, obwohl sich die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Parteien bis zum Tode des früheren Ehemannes so wesentlich geändert haben, daß in der nach § 1265 RVO maßgebenden Zeit ein Unterhaltsanspruch nicht mehr bestand, während bei sonst gleichen Verhältnissen diejenige geschiedene Frau, deren früherer Ehemann nach der Scheidung der zunächst bestehenden Unterhaltsverpflichtung freiwillig nachgekommen ist, ohne daß es einer Unterhaltsklage bedurfte, diese Rente nicht zustehen würde.

Eine andere rechtliche Betrachtung könnte allerdings für Anerkenntnisurteile in Verbindung mit den ihnen zugrunde liegenden prozessualen Anerkenntnissen dann Platz greifen, wenn man davon ausgeht, daß das Prozeßanerkenntnis ebenso wie der Prozeßvergleich prozessuale und materielle Wirkungen hat (so Stein-Jonas, a. a. O. I, 2 zu § 307; a. A. Rosenberg a. a. O. § 131 I, b), wobei es allerdings auch noch darauf ankommt, ob das Prozeßanerkenntnis, ähnlich wie der Prozeßvergleich, bereits für sich allein oder aber erst im Zusammenhang mit dem ergehenden Anerkenntnisurteil Wirkungen (wenn man von der, daß bei Antragstellung des Beklagten ein Anerkenntnisurteil ergehen muß, absieht) zeitigt (vgl. dazu Rosenberg, a. a. O., § 131 I 5 b).

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat zwar in den Gründen seines Urteils vom 29. Juli 1959 (BSG. 8 S. 24) und vom 18. November 1958 (SozR. § 1265 RVO Aa 2) die von der des erkennenden Senats abweichende Ansicht vertreten, daß rechtskräftige Unterhaltsurteile allgemein einen sonstigen Grund im Sinne des § 1265 RVO darstellen. Einer Anrufung des Großen Senats nach § 42 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bedurfte es dennoch nicht, weil in dem Urteil vom 29. Juli 1959 nur die einer besonderen Beurteilung zugängliche Entscheidung getroffen wurde, daß ein Anerkenntnisurteil ein sonstiger Grund im Sinne des § 1265 RVO ist und in dem Urteil vom 18. November 1958 lediglich § 1256 Abs. 4 RVO a. F. angewandt worden ist.

Da das Berufungsgericht demnach zu Recht entschieden hat, daß der Klägerin ein Anspruch nach § 1265 RVO nicht zusteht, mußte die Revision gemäß § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1984148

BSGE, 99

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