Leitsatz (amtlich)

Hat die letzte Tatsacheninstanz vor Zustellung aber nach Erlaß (Beschlußfassung) eines Urteils ohne mündliche Verhandlung einen Versicherungsträger beigeladen, der auch als leistungspflichtig in Betracht kommen kann, so wird damit der Anspruch auf rechtliches Gehör sowohl des Klägers wie auch des Beigeladenen verletzt.

Der darin liegende und in der Revisionsinstanz gerügte Verfahrensmangel ist zugleich unbedingter Revisionsgrund iS von SGG § 202 iVm ZPO § 551 Nr 5; die Revision des Klägers oder Beigeladenen führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 75 Fassung: 1953-09-03, § 106 Abs. 3 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03, § 124 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 133 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 551 Nr. 5

 

Verfahrensgang

SG für das Saarland (Entscheidung vom 24.06.1977; Aktenzeichen S 13 J 137/71)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 24. Juni 1977 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die klagende Berufsgenossenschaft (BG) verlangt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) die Erstattung der Kosten (5.229,55 DM), die infolge stationärer Heilbehandlung ihrer Versicherten K. in der Zeit vom 16. Juni bis zum 9. Oktober 1970 entstanden sind.

Die Versicherte erhält von der Klägerin eine Unfallrente wegen Silikose dritten Grades, von der Beklagten ein Altersruhegeld. Am 16. Juni 1970 wurde sie von ihrem Hausarzt wegen aktiver Siliko-Tbc zur stationären Behandlung in das W-Krankenhaus der Inneren Mission in I eingewiesen. Der Chefarzt der Lungenabteilung bestätigte die Einweisungsdiagnose, teilte dies in mehreren Berichten der Klägerin mit und schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf Grund der Siliko-Tbc auf 80 vH. Daraufhin übernahm die BG die Kosten der stationären Behandlung. Der von ihr danach zugezogene Gewerbe-Obermedizinalrat Dr. med. Z. hielt in seinem im März 1971 erstatteten Gutachten eine aktive Begleit-Tbc für unwahrscheinlich, empfahl jedoch, wegen der Zunahme silikotischer Veränderungen ab Juni 1970 die Unfallrente in Höhe von 60 vH (anstatt vorher 40 vH) der Vollrente zu gewähren; dem entsprach die Klägerin.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage der BG gegen die LVA auf Erstattung der Kosten durch ohne mündliche Verhandlung ergangenes Urteil vom 24. Juni 1977 abgewiesen sowie mit Beschluß vom 12. Juli 1977, der gleichzeitig mit dem Urteil zugestellt wurde, die Allgemeine Ortskrankenkasse V (AOK) beigeladen. Es hat ausgeführt: Die Klägerin habe mit der Kostenübernahme keine Aufgabe der Beklagten erfüllt, sondern sei auf Grund der Einweisungsdiagnose in eigener Zuständigkeit verpflichtet gewesen, die Heilbehandlung durchführen zu lassen (§§ 1244 a Abs 7, 551 Abs 1 S 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -, § 3 Abs 1 S 1 Berufskrankheiten-Verordnung - BKVO -). Diese Pflicht der Unfallträger setze bei Berufskrankheiten bereits ein, wenn deren Behandlungsbedürftigkeit festgestellt werde; es genüge die Gefahr, daß eine Berufskrankheit (BK) entstehe, wieder auflebe oder sich verschlimmere. Der Umstand, daß sich die Diagnose einer akuten Siliko-Tbc später als wahrscheinlich unrichtig erwiesen habe, berühre die Verpflichtung der Klägerin nicht. Deshalb bestehe auch keine Ersatzpflicht der beigeladenen AOK nach § 1509 a RVO.

Die Klägerin hat die - vom SG zugelassene - Revision eingelegt. Sie macht geltend, daß Beklagte und Beigeladene ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht erklärt hätten. In der Sache selbst möchte sie die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), die zu § 1244 a RVO zum Verhältnis Rentenversicherungsträger/Krankenversicherungsträger ergangen ist, im Verhältnis zur Unfallversicherung angewendet wissen und die Verpflichtung des beklagten Rentenversicherungsträgers auch beim unbestätigt gebliebenen Verdacht auf eine aktive Siliko-Tbc entstehen lassen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 24. Juni 1977 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr 5.229,55 DM zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladene meint, das Urteil sei aufzuheben, da sie vor dem SG nicht gehört worden sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des BSG ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der klagenden BG ist insofern begründet, als das Urteil des SG aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen werden muß.

Das Urteil des SG ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Mit Recht macht die Klägerin mit der Revision geltend, es habe keine Entscheidung des SG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) ergehen dürfen, weil hierfür nicht alle Beteiligten ihr Einverständnis erklärt hätten.

Allerdings irrt die Klägerin, soweit sie von der fehlenden Zustimmung der Beklagten ausgeht; diese hat mit Schriftsatz vom 25. Mai 1973 (wovon die Klägerin allem Anschein nach keine Kenntnis erhielt) ihr Einverständnis erklärt. In hohem Maße zweifelhaft kann aber schon sein, ob die Zustimmungserklärung bis zum Erlaß des SG-Urteils nicht "verbraucht" war. Zwar ist in der Zwischenzeit weder mündlich verhandelt noch ein Beweisbeschluß verkündet worden; auch schadet die Anberaumung eines Erörterungstermins nicht. Die Einholung von Auskünften durch den Vorsitzenden nach § 106 Abs 3 Nr 3 SGG (hier zB Auskunft des Gesundheitsamtes) führt dagegen in der Regel zum Verbrauch des Einverständnisses (vgl neuerdings Beschluß des 12. Senats des BSG vom 31. Mai 1978 - 12 BK 20/77 -, zur Veröffentlichung bestimmt).

Jedenfalls fehlt jedoch die Zustimmung der beigeladenen AOK zu einem SG-Urteil ohne mündliche Verhandlung. Mit dem Einverständnis "der Beteiligten" in § 124 Abs 2 SGG ist dasjenige aller Beteiligten gemeint, also einschließlich der Beigeladenen (§ 69 Nr 3 SGG). Die AOK war auch bereits beigeladen, als das Urteil wirksam wurde, dh hier, da die Entscheidung nicht auf Grund mündlicher Verhandlung erging, mit der Zustellung (§ 133 SGG). Das am 24. Juni 1977 gefällte Urteil ist der beigeladenen AOK am 21. Juli 1977 gleichzeitig mit dem Beiladungsbeschluß zugestellt worden. Gleichzeitig bedeutet hier rechtzeitig in dem Sinne, daß auch die Beiladung mit der Zustellung des sie betreffenden Beschlusses wirksam geworden ist zu dem Zeitpunkt, als das Verfahren vor dem SG zwar beendet wurde, aber noch nicht abgeschlossen war. Dabei bedarf es im vorliegenden Fall keiner Klärung, ob das ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 SGG ergangene Urteil wirksam wird schon mit der ersten Zustellung an einen Beteiligten, oder ob erst die letzte Zustellung maßgebend ist (vgl Meyer-Ladewig, SGG, § 133 Anm 2 und die dort zitierte Rechtsprechung und Literatur); denn der Klägerin (am 26. Juli 1977) und der Beklagten (am 27. Juli 1977) ist nicht früher zugestellt worden. Die AOK war also bei Erlaß des Urteils bereits Beteiligte. Dementsprechend hat das SG sie auch im Urteilsrubrum als Beteiligte aufgeführt (vgl § 136 Abs 1 Nr 1 SGG) und in den Urteilsgründen eine Ersatzpflicht der "beigeladenen Krankenkasse" untersucht.

Die AOK hat bis zum Erlaß des sozialgerichtlichen Urteils, wie nach dem Geschehensablauf auch kaum anders möglich, weder ihr Einverständnis mit schriftlicher Entscheidung erklärt noch sich überhaupt zum Sach- und Streitgegenstand geäußert. Sie rügt mit Recht, daß sie entgegen dem Sinn und Zweck der Beiladung in der letzten Tatsacheninstanz nicht habe bei der Sachverhaltsermittlung mitwirken und auf die Urteilsfindung Einfluß nehmen können. Damit hat das SG den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) im Verhältnis zur Beigeladenen, aber auch gegenüber der Klägerin verletzt; denn durch die Beiladung ist praktisch ein weiterer Anspruchsgegner in das Verfahren eingeführt worden, ohne daß die Klägerin sich hierauf hat einstellen und ihren Sachvortrag ggf ergänzen können (vgl § 75 Abs 5 SGG; SozR Nr 26 und 30 zu § 75 SGG; Meyer-Ladewig, SGG, § 75 Anm 12 und 18). Darin, daß bei diesem Sachverhalt das SG ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens iS eines absoluten (unbedingten) Revisionsgrundes (§ 202 SGG iVm § 551 Nr 5 Zivilprozeßordnung - ZPO -; Meyer-Ladewig, SGG, § 124 Anm 2; Eyermann/Fröhler, VwGO-Komm, 7. Aufl, § 101 Anm 6; Baumbach/Lauterbach, ZPO-Komm, 34. Aufl - für die Fassung der Vorschrift in der ab 1. Juli 1977 in Kraft getretenen Vereinfachungsnovelle 36. Aufl - § 128 Anm 6 D); der Beteiligte "war in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten". § 551 Nr 5 ZPO beruht auf der Erwägung, daß die Partei (der Beteiligte) entweder selbst oder wenigstens durch einen dazu berufenen Vertreter Gelegenheit hatte, ihren Standpunkt darzulegen (Stein/Jonas, ZPO-Komm, 19. Aufl, § 551 Anm II 5). Die herrschende Meinung, der sich der Senat anschließt, geht wegen der Schwere des Verstoßes davon aus, daß auch der Gegner die nicht ordnungsgemäße Vertretung iS des § 551 Nr 5 ZPO rügen kann (RG 126, 263; Baumbach/Lauterbach aaO § 551 Anm 6; Thomas/Putzo, ZPO-Komm, § 551 Anm 2; aA Stein/Jonas aaO Anm II 5 b). Schon deshalb kann es auch nicht darauf ankommen, daß die Klägerin und Revisionsklägerin selbst ihr Einverständnis erklärt hatte (vgl SozR Nr 4 zu § 124 SGG).

Die in § 551 ZPO genannten Verfahrensverstöße bewirken so grundlegende Mängel des Verfahrens, daß ein Einfluß auf die Sachentscheidung unwiderlegbar vermutet wird. Die prozessual grob fehlerhaft zustandegekommene Entscheidung muß aufgehoben werden, selbst wenn sie in der Sache zutrifft oder zwar die Entscheidungsgründe eine Gesetzesverletzung ergeben, sich die Entscheidung aber aus anderen Gründen als richtig darstellt; § 170 Abs 1 S 2 SGG ist beim Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes unanwendbar (BSGE 4, 281, 288 mit weiterer Rechtsprechung und Literatur; Baumbach/Lauterbach aaO § 551 Anm 1).

Der in die Revisionsinstanz fortwirkende Verfahrensmangel führt auch dazu, daß das Revisionsgericht die tatsächlichen Feststellungen des SG nicht gleichwohl zu Grunde zu legen und erneut über die Klage zu entscheiden hat. Insofern liegt der Sachverhalt anders als in BSGE 4, 281, 282, 288, wo es um die Unzuständigkeit des Gerichts ging und insoweit das Revisionsgericht nach § 565 Abs 3 Nr 2 ZPO in der Sache selbst entscheiden muß.

Bei dieser Sachlage kann dahingestellt bleiben, ob das SG möglicherweise auch die §§ 129, 12 Abs 1 und 2 SGG verletzt hat, falls nämlich die ehrenamtlichen Richter insoweit nicht bei der Urteilsfällung mitgewirkt haben, als im Urteil der Anspruch der Klägerin gegen die Beigeladene untersucht worden ist. In BSGE 7, 230 ist dies für den Fall bejaht, daß die ehrenamtlichen Richter an der Würdigung "nachgereichter" und im Urteil berücksichtigter Schriftsätze nicht beteiligt gewesen sind; auch ein solcher Verstoß bildet einen absoluten Revisionsgrund (§ 551 Nr 1 ZPO). Immerhin wurde das Urteil des SG bereits am 24. Juni 1977 gefällt; erst am 30. Juni 1977 leitete der Vorsitzende des SG erstmals Ermittlungen ein, um die zuständige AOK zum Zwecke der (notwendigen) Beiladung festzustellen. Den Akten ist nicht zu entnehmen, daß die ehrenamtlichen Richter nochmals zugezogen worden seien.

Das SG wird nunmehr erneut in der Sache zu entscheiden haben; dabei dürfte zu erwägen sein, ob die Rechtsprechung des BSG zur Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen den Trägern der Renten- und Krankenversicherung (vgl zuletzt veröffentlicht BSGE 43, 279 = SozR 2200 § 1244 a Nr 10) für den Fall des Verdachts auf eine Siliko-Tbc entsprechend auf das Verhältnis zwischen Unfall- und Krankenversicherungsträger übertragen werden kann.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662430

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