Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegfall einer Berufsbezeichnung in einem neuen Tarifvertrag

 

Orientierungssatz

Bei einem Lehrhauer, der die Tätigkeit bereits vor dem 1971-06-01 (Inkrafttreten der neuen Lohnordnungen im Bergbau) aufgegeben hat, ist bei Prüfung der Frage, ob die von ihm in knappschaftlich versicherten Betrieben nach dem 1971-06-01 noch ausübbaren Tätigkeiten der früheren Tätigkeit im wesentlichen gleichwertig im Sinne des RKG § 45 Abs 2 sind, von der Lohngruppe 09 auszugehen. Daraus ergibt sich, daß jedenfalls die Tätigkeiten der Lohngruppen 06 und 07 der früher ausgeübten Lehrhauertätigkeit im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sind.

 

Normenkette

RKG § 45 Abs. 2

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. August 1972 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben sich die Beteiligten nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Unter den Beteiligten ist streitig, ob dem im Jahre 1923 geborenen Kläger ab 1. Juni 1971, dem Inkrafttreten des neuen Lohntarifvertrages, der die Berufsbezeichnung "Lehrhauer" nicht mehr enthält, die Bergmannsrente des § 45 Abs. 1 Nr. 1 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zu zahlen ist.

Der Kläger war nach mehrjähriger Tätigkeit als Gedingeschlepper vom 1. Dezember 1963 bis zum 25. Oktober 1970 Lehrhauer. Dann wurde er wegen Silikosegefährdung über Tage eingesetzt und arbeitete dort als Transportarbeiter, Verlader und Kauenwärter.

Mit Bescheid vom 12. Januar 1971 wurde ein am 9. Oktober 1970 gestellter Rentenantrag des Klägers abgelehnt, weil er weder berufsunfähig noch vermindert bergmännisch berufsfähig sei. Er sei noch in der Lage, Tätigkeiten der Lohngruppe II (z.B. angelernter Elektriker, 2. Anschläger, Verwieger, Maschinist und ähnliches) sowie außerhalb des Bergbaus die vergleichbaren Arbeiten regelmäßig und ganzschichtig zu verrichten. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 9. März 1971 zurückgewiesen.

In dem nachfolgenden Klageverfahren hat der Kläger sein Rentenbegehren eingeschränkt und nur noch beantragt, ihm die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit ab 1. Juni 1971 zu gewähren. Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat die Klage mit Urteil vom 21. März 1972 abgewiesen. Im Berufungsverfahren legte der Kläger ein Schreiben darüber vor, daß er durch langjährige Erfahrung befähigt gewesen sei, alle Hauerarbeiten auszuführen. Seine Leistungen seien überdurchschnittlich gewesen.

Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die gegen das Urteil des SG eingelegte Berufung mit Urteil vom 24. August 1972 zurückgewiesen und ausgeführt, der Kläger sei nicht vermindert bergmännisch berufsfähig. Wenn er auch nicht mehr imstande sei, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit auszuüben, so sei er doch fähig, andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlichen Betrieben auszuüben. Nach dem Inkrafttreten des Tarifvertrages über die Neuordnung des Entlohnungswesens für die Arbeiter des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus vom 29. April 1971 am 1. Juni 1971 müsse bei der Beurteilung eines früheren Lehrhauers die Lohngruppe 09 zugrunde gelegt werden. Demgegenüber seien die Arbeiten der Lohngruppe 05 über Tage in jedem Fall noch im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig. Es fänden sich aber auch noch in den Lohngruppen 06 und 07 über Tage Tätigkeiten, die der Kläger nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen verrichten könne. Wesentliche Einschränkungen seiner Leistungsfähigkeit beruhten lediglich auf der Staubgefährdung und -einwirkung. Er könne deshalb z.B. als Maschinenwärter, Lampenwärter (Lohngruppe 06) arbeiten und auch auf einigen Arbeitsplätzen des Maschinisten 1 (Lohngruppe 07) eingesetzt werden. Hierbei handele es sich um Arbeiten, die im Vergleich zum Lehrhauer von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten ausgeübt würden. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, er sei nach dem Inkrafttreten des Tarifvertrages über die ab 1. Juni 1971 gültigen Löhne wie ein Facharbeiter (Hauer) zu behandeln. Wenn die Tarifpartner ab 1. Juni 1971 eine Neubewertung der einzelnen bergbaulichen Tätigkeiten vorgenommen hätten, so bestätigten sie damit die lohnmäßige Entwicklung aller Gedingearbeiten. Von diesem Tatbestand müsse daher bei der Feststellung des Versicherungsfalles ausgegangen werden. Deshalb sei die frühere Tätigkeit - ebenso wie bei einem früheren Hauer - lohnmäßig in die Gruppe 10 einzustufen. Außer der wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit sei dann aber bei den Tätigkeiten, auf die er verwiesen werden solle, auch zu prüfen, ob es sich um solche handele, die von Personen mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten verrichtet würden. Bei dieser Prüfung ergebe sich, daß es keine Tätigkeiten über Tage gäbe, auf die er verwiesen werden könne, um dadurch das Vorliegen einer verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit i.S. des § 45 Abs. 2 RKG auszuschließen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. August 1972, das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 21. März 1972 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Juni 1971 die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. August 1972 zurückzuweisen.

Nach Ansicht der Beklagten kann die vom Kläger vor dem Inkrafttreten der ab 1. Juni 1971 geltenden Lohnordnung aus gesundheitlichen Gründen aufgegebene, aber in der neuen Lohnordnung nicht mehr aufgeführte Lehrhauertätigkeit auch ab diesem Zeitpunkt nicht als Facharbeitertätigkeit eingeordnet werden. Der Kläger sei niemals Hauer gewesen und habe auch niemals den Lohn eines Hauers erhalten. Deshalb sei bei Versicherten, die im Hauptberuf als Lehrhauer beschäftigt gewesen seien, bei der Beurteilung der Anspruchsberechtigung vom 1. Juni 1971 an von dem Lohn der Lohngruppe 08 unter Tage auszugehen. Da der Kläger kein Facharbeiter sei, habe das die Verweisung zusätzlich einschränkende Merkmal der Gleichwertigkeit der beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten hier keine besondere Bedeutung. Hier sei von dem Grundsatz auszugehen, daß bei der im wesentlichen wirtschaftlichen Gleichwertigkeit der zu vergleichenden Tätigkeiten auch die Gleichwertigkeit der beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten gegeben sei. Selbst wenn man eine Tätigkeit nach der Lohngruppe 09 unter Tage als bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit zugrunde lege, sei der Kläger nicht vermindert bergmännisch berufsfähig, weil er nach den Feststellungen des LSG über Tage noch als Maschinen- und Lampenwärter und als Maschinist 1 tätig sein könne.

II

Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet.

Nach § 45 Abs. 1 Nr. 1 RKG ist einem Versicherten die Bergmannsrente zu zahlen, wenn er vermindert bergmännisch berufsfähig ist und er die Wartezeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hat. Die Wartezeit hat der Kläger erfüllt. Vermindert bergmännisch berufsfähig ist nach § 45 Abs. 2 RKG ein Versicherter, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte weder imstande ist, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit auszuüben, noch imstande ist, andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben zu verrichten. Der Kläger mußte die bis zum 25. Oktober 1970 ausgeübte knappschaftliche Tätigkeit als Lehrhauer aus gesundheitlichen Gründen aufgeben, denn er durfte wegen Silikosegefährdung nicht mehr unter Tage arbeiten. Darüber hinaus ist seine Arbeitsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen jedoch nicht eingeschränkt. Er kann daher nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen alle Tätigkeiten über Tage verrichten, die seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechen. Es kommt also darauf an, ob es Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen dieser Art über Tage gibt, die seiner bisherigen Tätigkeit im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sind. Da der Kläger die Tätigkeit eines Lehrhauers zu einer Zeit aufgegeben hat, als der am 1. Juni 1971 in Kraft getretene Tarifvertrag über die Neuordnung des Entlohnungswesens noch keine Gültigkeit hatte, fällt er nicht unter die neue Lohnordnung. Da jedoch in diesem Rechtsstreit zu prüfen ist, ob und gegebenenfalls auf welche Tätigkeiten er seit dieser Zeit verwiesen werden kann, die alte Lohnordnung aber nicht mehr gilt, mußte der Senat entscheiden, in welche Lohngruppe des neuen Tarifvertrages bei Prüfung der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit der Kläger - fiktiv - einzuordnen ist, wobei zu bedenken ist, daß es die Berufsbezeichnung "Lehrhauer" in der neuen Lohnordnung nicht mehr gibt. Soweit Lehrhauer über den 1. Juni 1971 hinaus in ihrer Tätigkeit verblieben sind, sind sie jedenfalls dann Hauer i.S. der Lohnordnung, wenn der Betrieb nach zweijähriger Tätigkeit unter Tage schriftlich bestätigt, daß sie Kenntnisse und Fertigkeiten besitzen, die sie befähigen, die in der Gewinnung, Aus-, Vor- und Herrichtung vorkommenden wesentlich bergmännischen Arbeiten zu verrichten. Es kann dahingestellt bleiben, ob das vom Kläger im Verfahren vor dem LSG vorgelegte Schreiben seines früheren stellvertretenden Betriebsführers vom 28. März 1972 den Voraussetzungen einer derartigen schriftlichen Bestätigung entsprechen würde; denn diese Bestätigung kann nur Bedeutung für Versicherte haben, die eine Tätigkeit unter der Geltung der neuen Lohnordnung von 1971 ausgeübt haben, nicht also für solche, die - wie der Kläger - bereits vor diesem Zeitpunkt ihre Tätigkeit aufgegeben haben, deren Arbeitsverhältnisse also von der neuen Lohnordnung überhaupt nicht erfaßt worden sind. In einem derartigen Übergangsfall ist es nach Ansicht des erkennenden Senats unter Abwägung aller Umstände gerechtfertigt, bei einem früheren Lehrhauer von der Lohngruppe 09 des neuen Lohntarifes auszugehen und zu prüfen, ob die Tätigkeiten, die er noch ausüben kann, den Tätigkeiten der Lohngruppe 09 der neuen Lohnordnung im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sind. Nach den vom erkennenden Senat für die im wesentlichen wirtschaftliche Gleichwertigkeit aufgestellten Grundsätzen ergibt sich, daß mindestens alle Tätigkeiten über Tage, die nach der Lohngruppe 05 oder höher entlohnt werden, noch im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sind. Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten noch als Maschinenwärter (Lohngruppe 06) und auch auf einigen Arbeitsplätzen des Maschinisten 1 (Lohngruppe 07) tätig sein kann. Da es sich insoweit um Tätigkeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gegenüber Tätigkeiten der Lohngruppe 09 handelt, durfte das LSG den Kläger auf diese Tätigkeiten verweisen. Das LSG ist somit zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger nicht vermindert bergmännisch berufsfähig ist, so daß seine Revision gegen das Urteil des LSG zurückzuweisen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647705

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