Entscheidungsstichwort (Thema)

Gutachten in Gemeinschaftsarbeit. persönliche Verantwortung des Sachverständigen für sein Gutachten

 

Orientierungssatz

1. Zur Frage der persönlichen Verantwortung des vom Gericht allein bestellten medizinischen Sachverständigen für sein Gutachten (vgl ua BSG vom 25.5.1988 - 9/9a RV 40/85 = SozR 1500 § 128 Nr 33 und vom 15.2.1989 - 9 RV 23/88).

2. Der vom Gericht beauftragte Sachverständige darf den Gutachtenauftrag nicht eigenmächtig auf andere Personen übertragen oder mit diesen die Verantwortung teilen.

3. Ein Gutachten ist als Beweismittel nicht ordnungsgemäß zustande gekommen und daher nicht verwertbar, wenn der vom Gericht allein bestellte Sachverständige nicht in der gebotenen Weise aufgrund eigener Prüfung und Urteilsbildung persönlich die volle fachliche sowie zivil- und strafrechtliche Verantwortung für den gesamten Inhalt des schriftlichen Gutachtens übernimmt. Der einfache Zusatz "Einverstanden", den ein als Sachverständiger beauftragter Professor der Medizin unter das Gutachten setzt, das in Wirklichkeit seine beiden Oberärzte erstellt haben, genügt diesem Grundsatz zur höchstpersönlichen Gutachtenerstattung nicht.

 

Normenkette

SGG §§ 106, 118 Abs 1, § 128 Abs 1 S 1; ZPO § 404 Abs 1, §§ 407, 410, 411 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 28.01.1988; Aktenzeichen L 7 V 984/84)

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 22.03.1984; Aktenzeichen S 3 V 2086/82)

 

Tatbestand

Der Kläger, der eine Beschädigtengrundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH bezieht (Bescheide vom 12. Februar 1955 und 18. Juli 1984), begehrt zusätzlich Versorgung ua wegen eines Herzleidens, das er auf eine Fleckfiebererkrankung in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft zurückführt. (Bescheide vom 8. September 1982 und 18. Juli 1984; Urteil des Sozialgerichts vom 22. März 1984). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen sowie die Klage gegen den Bescheid vom 18. Juli 1984 abgewiesen (Urteil vom 28. Juli 1988). Es ist vor allem der medizinischen Beurteilung in einem "Gutachten" aus der Gutachtenstelle der Medizinischen Universitätsklinik H.         vom 23. Juni 1987 gefolgt, das von Oberarzt Dr. J.      , Dr. D. und - mit dem Zusatz "Einverstanden" - von dem zum Sachverständigen bestellten Prof. Dr. S.       , dem früheren Direktor der Klinik, unterzeichnet ist. Für den Fall, daß von einer Fleckfiebererkrankung in der Kriegsgefangenschaft ausgegangen werden könnte, sei ein ursächlicher Zusammenhang mit den Herzstörungen mangels eindeutiger Brückensymptome nicht wahrscheinlich. Deshalb sei die MdE auch nicht wegen besonderen beruflichen Betroffenseins zu erhöhen (§ 30 Abs 2 BVG) und dem Kläger kein Berufsschadensausgleich zu gewähren (§ 30 Abs 3 ff BVG).

Der Kläger rügt mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision eine Verletzung der Verfahrensvorschriften der §§ 103, 106, 118, 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und der §§ 402, 404, 407, 410, 411 Zivilprozeßordnung (ZPO) sowie eine unzulässige Entscheidung über eine Rentenerhöhung wegen besonderen beruflichen Betroffenseins und über einen Anspruch auf Berufsschadensausgleich. Er beanstandet, daß das bezeichnete "Gutachten" nicht ordnungsmäßig erstattet worden sei, was er schon im Berufungsverfahren geltend gemacht habe. Nach seiner Ansicht hätte das LSG nicht auf den erst in zweiter Instanz gestellten Antrag auf höhere Rente nach § 30 Abs 2 BVG und auf Berufsschadensausgleich entscheiden dürfen, ohne daß darüber ein Verwaltungsakt ergangen war.

Der Kläger beantragt,

unter Änderung der Urteile sowie Aufhebung der Bescheide des Beklagten diesen zu verurteilen, beim Kläger als weitere Schädigungsfolge "Gesundheitsstörung am Herz-Kreislauf-System nach Fleckfieber" anzuerkennen und ihm - auch unter Berücksichtigung einer beruflichen Betroffenheit - ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt Beschädigtenrente nach einer MdE von 70 vH und ab 1. Mai 1980 nach einer MdE von 100 vH sowie Berufsschadensausgleich zu gewähren, hilfsweise, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte vertritt ebenfalls die Ansicht, daß das Berufungsurteil, das auf einem nicht ordnungsmäßig zustandegekommenen Gutachten beruhe, aufgehoben werden müsse.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat gemäß dem Hilfsantrag Erfolg. Das Berufungsurteil ist aufzuheben, und der Rechtsstreit ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Für eine Sachentscheidung fehlen ausreichende Tatsachenfeststellungen. Der Feststellung des LSG, daß ein Ursachenzusammenhang zwischen einer evtl in Kriegsgefangenschaft durchgemachten Fleckfiebererkrankung und dem Herzleiden des Klägers nicht wahrscheinlich sei, liegt kein ordnungsmäßiges Beweisverfahren zugrunde (§ 153 Abs 1, §§ 155, 103, 106 Abs 2 bis 4, § 118 Abs 1, § 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Sie stützt sich wesentlich auf das unter dem 23. Juni 1987 von Ärzten der Gutachtenstelle der Medizinischen Universitätsklinik H.         erstattete "Gutachten". Darauf beruht die das Berufungsurteil tragende Entscheidung, dem Kläger stehe keine Versorgung wegen des Herzleidens als Schädigungsfolge zu (§ 1 Abs 1 und 2 Buchstabe b, Abs 3 Satz 1, § 9 BVG, §§ 44 und 48 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren -). Das bezeichnete Erkenntnismittel, das das Gericht als Gutachten eines Sachverständigen (§ 106 Abs 3 Nr 4 und Abs 4, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG, §§ 402 ff ZPO) bewertet hat, war als ein solches Beweismittel nicht ordnungsmäßig zustande gekommen und daher nicht verwertbar; als Urkunde (§§ 415 ff ZPO) ist es nicht benutzt worden.

Das LSG hätte nicht - schon gar nicht angesichts der Beanstandungen des Klägers - von einer weiteren Beweisaufnahme absehen dürfen. Es hätte vor allem durch eine Anfrage klären müssen, ob Prof. Dr. S.        als vom Gericht allein bestellter Sachverständiger in der gebotenen Weise aufgrund eigener Prüfung und Urteilsbildung persönlich die volle fachliche sowie zivil- und strafrechtliche Verantwortung für den gesamten Inhalt des schriftlichen Gutachtens übernahm (§ 404 Abs 1, §§ 406, 407, 409, 410, 411 Abs 1, § 413 ZPO, §§ 153 ff Strafgesetzbuch; st Rspr des BSG, zB SozR 1500 § 128 Nrn 24 und 33; weitere Urteile des Senats vom 22. Juni 1988 - 9 RV 58/88 -; 15. Februar 1989 - 9 RV 23/88 -). In diesem Fall war die Übernahme der persönlichen Verantwortung durch Prof. Dr. S.        und die ausdrückliche Bekundung dessen deshalb besonders geboten, weil dieser Sachverständige nach der Beweisanordnung vom 15. September 1986 vor allem wegen einer Bezugnahme auf ihn in dem nach § 109 SGG von Prof. Dr. M.   erstatteten Gutachten beauftragt wurde. Die richtige Autorenschaft konnte nicht durch Auslegung des "Gutachtens" ermittelt werden.

Prof. Dr. S.        durfte den Gutachtenauftrag (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG, §§ 402, 404 Abs 1, § 359 ZPO) nicht eigenmächtig auf andere Personen übertragen oder mit diesen die Verantwortung teilen (BSG aaO). Das schriftliche "Gutachten" vom 23. Juni 1987 läßt nicht deutlich genug erkennen, ob der beauftragte Sachverständige die erforderliche persönliche Verantwortung übernommen hat. Der einfache Zusatz "Einverstanden" genügt dafür nicht. Er gewährleistet nicht, daß der Sachverständige bekundet, er habe im notwendigen Umfang an dem Gutachten mitgewirkt. Welchen Anteil an der Arbeit Dr. J. und Dr. D.   , die ebenfalls unterschrieben haben, aber nicht zu Sachverständigen bestellt waren, hatten, ist nicht erkennbar. Die Einleitungsformel, daß "wir" das Gutachten erstatten, bringt nicht deutlich genug zum Ausdruck, daß Prof. Dr. S.        allein als Sachverständiger die Verantwortung übernahm und die beiden anderen Ärzte bloß als Hilfskräfte in gesetzlich vertretbarem Umfang mitwirkten. Dies läßt die genannte Einleitungsformel sogar sehr fraglich erscheinen. Fraglich ist insbesondere auch, ob Prof. Dr. S.       , der nach dem Zusatz unter seinem Namen ("Em. Prof.") in der Zeit, als das "Gutachten" erstattet wurde, als Universitätsprofessor nicht mehr im Dienst war, weiterhin in der Gutachtenstelle der Medizinischen Klinik, deren Direktor er vorher gewesen war, ein Gutachten in ordnungsmäßiger Weise selbst erstattete und dabei Mitarbeiter der Klinik und Gutachtenstelle lediglich in vertretbarem Umfang als Gehilfen heranzog.

Das LSG hat nun die formgerechte Sachaufklärung in der aufgezeigten Weise nachzuholen.

Bei der rechtlichen Beurteilung, die schon die Beweisfragen bestimmen muß, ist die Vorstellung des Gerichts von der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs iS des § 1 Abs 3 Satz 1 BVG zu berichtigen. "Wahrscheinlich" in diesem Sinn ist eine Verursachung schon dann, wenn mehr für als gegen sie spricht (BSGE 60, 58 f = SozR 3850 § 51 Nr 9). Davon ist das Berufungsgericht zutreffend ausgegangen. Es hat jedoch als andere Definition hinzugefügt, es müßten "vernünftige Zweifel an einer Verursachung ausgeschlossen sein" (Seite 10, zweiter Absatz). Dies ist eine überspannte Anforderung an den erforderlichen Grad der Überzeugung. Sie ist vielmehr für den vollen Beweis erforderlich, der, wie das LSG mit Recht fordert, für den Schädigungstatbestand gegeben sein muß (BSGE 60, 59).

Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

AusR 1990, 16

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