Leitsatz (amtlich)

1. Wird während des gerichtlichen Verfahrens die bisherige Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in ein Altersruhegeld umgewandelt, so wird der Umwandlungsbescheid nach SGG § 96 Gegenstand des anhängigen Verfahrens.

2. Bei der Umwandlung ist der Leistungsanspruch ohne Bindung an frühere Rentenbescheide nach Grund und Höhe neu zu prüfen und festzustellen.

 

Normenkette

SGG §§ 77, 96; AVG § 31 Abs. 2

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 14. Juni 1973 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Der ... 1907 geborene Kläger hatte bereits vom 1. Dezember 1952 bis 30. Juni 1962 eine Rente bezogen. Durch Bescheid vom 15. August 1969 bewilligte ihm die Beklagte erneut Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. August 1968 an. Dabei war sie davon ausgegangen, daß aufgrund der vorhandenen Versicherungskarte Nr. 1 der Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinland-Pfalz die ersten Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung für die Zeit vom 6. Januar 1930 an entrichtet waren.

Im Juli 1971 beantragte der Kläger die Neufeststellung seiner Rente unter Berufung auf § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Er begehrte zusätzlich die Berücksichtigung seiner gesamten Lehrzeit als nachgewiesene Ausfallzeit sowie der von ihm im elterlichen Betrieb in Ludwigshafen zurückgelegten Beschäftigungszeit vom 1. Mai 1925 bis 31. Dezember 1929 als Beitragszeit, ferner eine bessere Bewertung seiner Rentenbemessungsgrundlage im Rahmen des § 32 a AVG.

Durch Bescheid vom 19. Mai 1972 stellte die Beklagte nach Überprüfung der Sach- und Rechtslage die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von ihrem Beginn an neu fest, wobei sich eine nicht unerhebliche Nachzahlung sowie eine etwas höhere laufende Leistung ergab. Anstelle der bisher angerechneten pauschalen Ausfallzeit nach Art. 2 § 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) berücksichtigte die Beklagte nunmehr längere nachgewiesene Ausfallzeiten, wobei sie insbesondere eine Lehrzeit vom 13. September 1923 (Vollendung des 16. Lebensjahres) bis 30. April 1925 als Ausfallzeit anerkannte. Die Anrechnung einer anschließenden Beitragszeit lehnte sie ab, weil für die Zeit vom 1. Mai 1925 bis 5. Januar 1930 keine Beiträge entrichtet seien.

Hiergegen erhob der Kläger Klage, mit der er die Nichtanrechnung der behaupteten Beitragszeit vom 1. Mai 1925 bis 5. Januar 1930 beanstandete und außerdem die Berücksichtigung von Sachbezügen nach Art. 2 § 54 AnVNG sowie erneut eine bessere Einstufung im Rahmen des § 32 a AVG begehrte.

Während des Klageverfahrens wandelte die Beklagte durch Bescheid vom 1. Dezember 1972 die Erwerbsunfähigkeitsrente mit Wirkung vom 1. Oktober 1972 an in ein Altersruhegeld um. Da sich hierbei ein geringfügig niedriger Zahlbetrag ergab, wurde die Rente in der bisherigen Höhe weitergezahlt.

Das Sozialgericht (SG) Speyer wies die Klage "gegen den Bescheid der Beklagten vom 19. Mai 1972" durch Urteil vom 1. März 1973 ab. Dagegen legte der Kläger Berufung ein mit dem Antrage, unter Aufhebung des Urteils des SG vom 1. März 1973 die Beklagte in Abänderung ihrer Bescheide vom 19. Mai 1972 und 1. Dezember 1972 zu verurteilen, die Zeit vom 1. Mai 1922 bis zum 13. September 1923 als weitere Ausfallzeit und die Zeit vom 1. Mai 1925 bis zum 5. Januar 1930 als weitere Beitragszeit zu berücksichtigen und ihm dementsprechend eine höhere Erwerbsunfähigkeitsrente bzw. ein höheres Altersruhegeld zu gewähren.

Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz wies die Berufung "gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 1. März 1973" zurück. Es war zunächst der Auffassung, der Durchführung eines Vorverfahrens nach § 79 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bedürfe es nicht. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in BSG 20, 199 stehe dem nicht entgegen. Aus dem Bescheid vom 19. Mai 1972 ergebe sich, daß die Beklagte das Begehren auf Neufeststellung der Leistung in vollem Umfange nachgeprüft, ihm aber nur teilweise stattgegeben habe. Für einen solchen Fall sehe § 79 Nr. 2 SGG ein Vorverfahren nicht vor.

Sodann führte das LSG weiter aus, bei der sachlichen Prüfung des Klagebegehrens müsse davon ausgegangen werden, daß für den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bereits der bindend gewordene Bescheid vom 15. August 1969 vorliege. Gegenüber der in diesem Bescheid getroffenen Regelung könne der Kläger nur dann und nur insoweit eine Neufeststellung erhalten, als sich der Versicherungsträger davon überzeuge, daß er die Leistung in diesem Bescheid zu Unrecht zu niedrig festgesetzt habe (§ 77 SGG; § 79 AVG). Nur wenn sich die Beklagte davon hätte überzeugen müssen, daß sie die Lehrzeit des Klägers vor Vollendung des 16. Lebensjahres zu Unrecht nicht als Ausfallzeit und die Beschäftigung vom 1. Mai 1925 bis zum 5. Januar 1930 zu Unrecht nicht als Beitragszeit angerechnet habe, hätte sie die Rente neu feststellen müssen. Die entsprechenden Feststellungen hätten sodann bei der Umwandlung der Erwerbsunfähigkeitsrente in das Altersruhegeld in den Bescheid vom 1. Dezember 1972 übernommen werden müssen. Ob die Beklagte von der Unrichtigkeit ihrer früheren Entscheidung als überzeugt zu gelten habe, hänge jedoch nicht davon ab, ob das Gericht von der Unrichtigkeit der früheren Rentenfeststellung überzeugt sei. Maßgebend sei vielmehr allein, ob die Überzeugung des Versicherungsträgers von der Richtigkeit der früheren Rentenfeststellung unter keinen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten zu halten sei. An den danach erforderlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Neufeststellung in Bezug auf die vor Vollendung des 16. Lebensjahres liegende Lehrzeit und die streitige Beitragszeit vom 1. Mai 1925 bis zum 5. Januar 1930 fehle es jedoch, was anschließend naher begründet wird. Wenn der Kläger aus Art. 2 § 54 AnVKG die Anrechnung glaubhaft gemachter Sachbezüge herleiten wolle, so übersehe er, daß es sich dabei um Sachbezüge handeln müsse, die neben Barbezügen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung gewährt worden seien. Der Kläger irre auch, wenn er meine, im Rahmen des § 32 a AVG benachteiligt worden zu sein.

Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger,

das Urteil des LSG vom 14. Juni 1973 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanzen zurückzuverweisen.

Gerügt wird in erster Linie Verletzung des § 79 Nr. 2 SGG.

Die Beklagte hat von der Stellung eines Sachantrages abgesehen. Zwar seien die materiell-rechtlichen Überlegungen des LSG durchweg zutreffend, jedoch bedeute das Fehlen eines Vorverfahrens nach § 79 Nr. 2 SGG einen Mangel im Verfahren des LSG.

II.

Die Revision ist begründet. Da es sich um eine zugelassene Revision handelt, unterliegt das angefochtene Urteil in vollem Umfange der Nachprüfung seiner rechtlichen Auffassungen durch den Senat. Dabei kann dem LSG im wesentlichen nicht gefolgt werden.

Das LSG hat sich ebenso wie das SG nur mit dem Bescheid über die Neufeststellung der Erwerbsunfähigkeitsrente vom 19. Mai 1972 befaßt, da es sich darauf beschränkt hat, die Berufung gegen das Urteil vom 1. März 1973 zurückzuweisen; dieses hatte aber lediglich die Klage gegen den genannten Bescheid vom 19. Hai 1972 abgewiesen. Der Umwandlungsbescheid vom 1. Dezember 1972 war jedoch bereits im Verfahren vor dem SG nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Er hatte den früheren Bescheid vom 19. Mai 1972 dahin eingeschränkt, daß er seitdem nur noch für die Zeit bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres des Klägers wirkte und die bisherige Rente seitdem durch eine andere Leistung ersetzt wurde. Hieran ändert sich nichts dadurch, daß im Hinblick auf § 31 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 30 Abs. 2 Satz 5 AVG der bisherige Rentenzahlbetrag weiter gewährt wurde. Das Altersruhegeld hatte trotzdem einen anderen Charakter. Einmal war es eine endgültige Leistung, die nicht mehr wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse hätte entzogen werden können (§ 63 AVG). Zum anderen wäre der Kläger nunmehr bei Übernahme einer neuen Beschäftigung nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 AVG nicht mehr versicherungspflichtig gewesen. Damit waren alle Voraussetzungen für ein Eingreifen des § 96 Abs. 1 SGG erfüllt. Diesem Ergebnis steht die Entscheidung des 12. Senats des BSG in SozR § 96 SGG Nr. 22 nicht entgegen, weil dort - anders als im vorliegenden Fall - die Zahlung einer Rente wegen Berufs- bezw. Erwerbsunfähigkeit abgelehnt worden war.

Der Bescheid über die Umwandlung der bisherigen Erwerbsunfähigkeitsrente in ein Altersruhegeld war außerdem nicht lediglich im Rahmen des § 79 AVG nachzuprüfen, so daß es aus diesem Grunde hier der Durchführung eines Vorverfahrens nach § 79 SGG nicht bedurfte (vgl. hierzu BSG 20, 199). Auf die Umwandlung waren die §§ 31 Abs. 2 und 30 Abs. 2 AVG anzuwenden. Bei der rechtlichen Beurteilung dieses Vorganges ist davon auszugehen, daß bei dem Eintritt eines neuen Versicherungsfalles der hierauf beruhende Leistungsanspruch nach Grund und Höhe neu zu prüfen und festzustellen ist. Nach dem Zeitpunkt des Eintritts des neues Versicherungsfalles richtet sich auch die für die Berechnung der neuen Rente maßgebende allgemeine Bemessungsgrundlage. Es ist weiter zu beachten, daß sich die Bindungswirkung (§ 77 SGG) eines früheren Bescheides über die Bewilligung einer Rente grundsätzlich nicht auf die Berechnungsfaktoren einer Rente erstreckt, so daß bei der Neufeststellung einer Leistung oder bei der Feststellung einer neuen Leistung früher unrichtig festgestellte Berechnungsfaktoren durch die richtigen zu ersetzen sind. Von diesem Grundsatz darf nur dann abgegangen werden, wenn das Gesetz die Berechtigung hierzu deutlich erkennen läßt. Dies ist aber bei der Umwandlung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder einer Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit in das Altersruhegeld (§§ 30 Abs. 2, 31. Abs. 2 AVG) nicht der Fall. (vgl. insbesondere BSG 26, 206 und SozR Nr. 6 zu § 1254 RVO). Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn bereits ein bindender Bescheid (§ 77 SGG) vorgelegen hätte, in welchem insbesondere die geltend gemachte Beitragszeit vom 1. Mai 1925 bis 5. Januar 1930 z.B. in einem Verfahren zur Wiederherstellung von Versicherungsunterlagen außerhalb eines Leistungsfeststellungsverfahrens endgültig als anrechenbare Versicherungszeit anerkannt oder als nicht anrechenbar festgestellt worden wäre.

In diesem Zusammenhang hatte der Umwandlungsbescheid vom 1. Dezember 1972 schon deshalb auszuscheiden, weil er vom Kläger angefochten worden ist. Der frühere Bescheid vom 15. August 1969 aber hatte sich über die streitige Beitragszeit überhaupt nicht ausgesprochen, da sie damals noch gar nicht geltend gemacht worden war. Nach der angeführten Rechtsprechung des BSG erstreckt sich die Bindungswirkung eines Rentenbescheides ohnehin nicht auf die einzelnen Berechnungsfaktoren. Damit geht es erst recht nicht an, einen Rentenbescheid etwa dahin auszulegen, daß er nicht nur eine Regelung über die Art der bewilligten Rente, ihren Beginn und ihre Höhe habe treffen, sondern zugleich habe aussprechen wollen, daß weitere als die in den Berechnungsbögen aufgeführten und berücksichtigten Versicherungszeiten nicht vorhanden seien. Das LSG hätte somit das Altersruhegeld, an dessen Erhöhung der Kläger in erster Linie interessiert war, darauf hin prüfen müssen, ob die Leistung der Höhe nach richtig berechnet war.

Aber auch hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs auf Zahlung einer höheren Rente wegen Erwerbsunfähigkeit kann dem LSG nicht in vollem Umfang gefolgt werden. Vor allem ist es zu Unrecht davon ausgegangen, daß es sich hier um ein Verfahren auf Neufeststellung nach § 79 AVG handelt und deshalb ein Vorverfahren nach § 79 SGG erforderlich war. Die Beklagte hatte auf Grund des Antrages auf Neufeststellung der Erwerbsunfähigkeitsrente die Rentenberechnung umfassend nachgeprüft und teilweise abgeändert. Damit hatte sie eine neue Regelung und somit einen neuen, im Verwaltungsrechtswege anfechtbaren Verwaltungsakt erlassen (BSG 10, 248; 13, 48; 18, 22), durch den der Rechtsweg neu eröffnet worden war. Dabei hatte sie auch nicht etwa wegen der restlichen Punkte, in denen sie dem Begehren des Klägers nicht entsprochen hatte, ausgesprochen, daß es insoweit bei der Unanfechtbarkeit des früheren Bescheides zu verbleiben habe (vgl. Koch/Hartmann/v. Altrock/Fürst, Das AVG, 2. und 3. Aufl. Bd. IV § 79 AVG Anm. C I 3 S. V 529).

Der Bescheid vom 19. Mai 1972 hatte somit ebenfalls vom LSG umfassend und ohne Einschränkung auf seine Richtigkeit hin nachgeprüft werden müssen.

Nach alledem ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Eine das Verfahren endgültig erledigende Entscheidung ist dem Senat nicht möglich, da er die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann.

Bei seinem abschließenden Urteil wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647212

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