Leitsatz (redaktionell)

Bei der Prüfung der zumutbaren Verweisbarkeit zur Abwendung der Berufsunfähigkeit ist ein Lehrhauer einem Versicherten gleichzustellen, der für einen anerkannten Anlernberuf ausgebildet worden ist.

 

Normenkette

RKG § 46 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. Januar 1975 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Der 1913 geborene Kläger war in einer Vielzahl von Tätigkeiten beschäftigt und versichert. Nach verschiedenen Beschäftigungen außerhalb des Bergbaus war er 1949 zunächst zwei Monate lang Umschüler im Bergbau und anschließend bis 1951 Lehrhauer. Sodann war der Kläger bis 1960 wiederum außerhalb des Bergbaus vorwiegend als Produktionsarbeiter beschäftigt. Von 1960 bis 1965 arbeitete der Kläger erneut in knappschaftlichen Betrieben als Lokomotivheizer, Kesselreiniger, Rangierer, 2. Anschläger und Grubenlokomotivführer. Bis 1968 war der Kläger anschließend noch über Tage knappschaftlich als Transportarbeiter und Platzreiniger tätig. Er kehrte dann endgültig ab.

Die im März 1968 beantragte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit dem Bescheid vom 4. Dezember 1969, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 27. Mai 1970, ab. Sie war der Auffassung, daß der Kläger nach seinem Gesundheitszustand noch eine Reihe leichterer Tätigkeiten zumutbar verrichten könne.

Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil abgeändert und die Beklagte verurteilt, "unter Annahme des Eintritts von Berufsunfähigkeit im Juni 1973 die entsprechenden Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren". Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, der Kläger habe seine Tätigkeit als Lehrhauer aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben. Diese Tätigkeit könne daher bei der Bestimmung des Hauptberufes nicht unberücksichtigt bleiben. Auch für die Aufgabe der Tätigkeit eines Lokführers seien gesundheitliche Gründe maßgebend gewesen. Während der von 1951 bis 1960 außerhalb des Bergbaus zurückgelegten Zeit sei der Kläger als angelernter Produktionsarbeiter tätig gewesen. Bei einer Gesamtwürdigung des Arbeitslebens des Klägers sei es gerechtfertigt, diesen der zweiten Berufsgruppe der Arbeiter - Angelernte und ihnen Gleichzustellende - zuzurechnen. Es sei nicht erforderlich, einen bestimmten Hauptberuf festzulegen. Da der Kläger seit Juni 1973 aus gesundheitlichen Gründen nur die einfachsten Reinigungs- und Hilfsarbeiten verrichten könne, ihm aber solche Tätigkeiten als Angelerntem nicht zumutbar seien, sei er auf Dauer berufsunfähig. Im übrigen sei der Anspruch nicht begründet.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie bringt vor, die Tätigkeiten des Klägers als Lehrhauer und Grubenlokführer schieden als Hauptberuf aus. Eine Tätigkeit könne Hauptberuf nur sein, wenn sie solange ausgeübt worden ist, daß die für die Ausübung der Tätigkeit notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten erworben worden sind und die Absicht der Berufsausübung auf gewisse Dauer ersichtlich wird. Daran mangele es hier. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts (Hinweis auf BSGE 18, 36) sei eine weniger als drei Jahre ausgeübte Tätigkeit zu kurz, um sie als eigentlichen Beruf ansehen zu können. Weder die Lehrhauer- noch die Grubenlokführertätigkeit, ja nicht einmal beide Tätigkeiten zusammen, seien etwa drei Jahre ausgeübt worden. Maßgebend seien daher die ungelernten Arbeiten des Klägers außerhalb des Bergbaus, die nicht der zweiten Berufsgruppe zugeordnet werden könnten; Voraussetzung hierfür sei eine Anlernzeit von zwei Jahren. Im übrigen habe sich der Kläger von der Tätigkeit eines Produktionsarbeiters freiwillig gelöst. Als Angehöriger der dritten Berufsgruppe (ungelernte Arbeiter) müsse sich der Kläger auf die einfachsten Reinigungs- und Hilfsarbeiten verweisen lassen. Er sei daher noch nicht berufsunfähig im Sinne des § 46 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG).

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 30. März 1971 insoweit zurückzuweisen, als mit ihr Rente wegen Berufsunfähigkeit aufgrund eines im Juni 1973 eingetretenen Versicherungsfalles begehrt wird.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. Januar 1975 zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig und betont, daß die Zuordnung zur zweiten Berufsgruppe keineswegs eine mindestens zweijährige Anlernzeit erfordere.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.

Der Kreis der Tätigkeiten, auf die ein Versicherter zur Vermeidung von Berufsunfähigkeit (§ 46 Abs. 2 RKG = § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) verwiesen werden kann, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (Satz 2 aaO). Auszugehen ist mithin vom "bisherigen Beruf" bzw. von der "bisherigen Berufstätigkeit". Hat der Versicherte während seines Berufes verschiedene Tätigkeiten zurückgelegt, so ist bisheriger Beruf sein "eigentlicher Beruf", sein "Hauptberuf".

Die vom Kläger während seines Berufslebens ausgeübte höchstentlohnte Tätigkeit ist die des Lehrhauers; sie hat der Kläger von 1949 bis 1951 23 Monate lang verrichtet. Freilich hat sich der Kläger später anderen Berufstätigkeiten zugewandt. Das ist aber für den vorliegenden Fall unerheblich. Der Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 9. Februar 1960 (BSGE 2, 183) herausgestellt, daß sich der Versicherte dann nicht von einer aufgegebenen Berufstätigkeit im Rechtssinne gelöst hat, wenn er sich einer anderen Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen zugewandt hat; denn für den Fall einer durch gesundheitliche Gründe erzwungenen Berufsaufgabe habe die Knappschaftsversicherung u.a. durch Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit gerade einzustehen. Das ist seither ständige Rechtsprechung des Senats (vgl. BSGE 15, 213, 214 = SozR Nr. 16 zu § 35 RKG aF; SozR 2600 § 45 Nr. 6).

Nach den nicht angegriffenen, daher für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) hat der Kläger seine Lehrhauertätigkeit 1951 wegen gesundheitlich bedingter Bergbau-Untauglichkeit aufgegeben. Diese Tätigkeit bleibt daher sein Hauptberuf.

Ausgehend hiervon kann der Kläger nicht zumutbar auf einfachste Reinigungs- und Hilfsarbeiten verwiesen werden, welche er nach den - ebenfalls nicht beanstandeten - Feststellungen des LSG alleine noch verrichten kann. Als Lehrhauer ist der Kläger nämlich einem Versicherten gleichzustellen, der für einen anerkannten Anlernberuf ausgebildet worden ist (vgl. den erkennenden Senat in SozR Nr. 16 zu § 46 RKG; SozR 2600 § 46 Nr. 2). Hieran ändert entgegen der Auffassung der Beklagten die Tatsache nichts, daß der Kläger bei Aufgabe der Lehrhauertätigkeit noch keine drei Jahre im Bergbau beschäftigt war. Die Entscheidung des erkennenden Senats in BSG 18, 36 (= SozR Nr. 7 zu § 46 RKG) stützt die Ansicht der Beklagten nicht. Der Senat hat aaO lediglich ausgesprochen, daß ein Versicherter, der eine entsprechende Lehre nicht erfolgreich abgeschlossen hat, der Gruppe der gelernten Arbeiter - der ersten Berufsgruppe - nur dann zugeordnet werden kann, wenn er den dieser Gruppe zuzuordnenden entsprechenden Lehrberuf mindestens solange ausgeübt hat, wie dies der Lehrzeit für diesen Beruf entspricht. Daneben kann aber auch ein Beruf, der nicht Lehrberuf ist, wegen seiner Bedeutung einem Lehrberuf gleichbehandelt werden. Diese Grundsätze gelten entsprechend für die Einordnung einer Tätigkeit in die mittlere Berufsgruppe. Die Arbeit des Lehrhauers ist eine Tätigkeit, die wegen ihrer Bedeutung einem anerkannten Anlernberuf gleichzubehandeln und daher in die mittlere Berufsgruppe einzuordnen ist. Es muß also im vorliegenden Falle, da der Kläger die übliche Berufsentwicklung zum Lehrhauer durchlaufen hat, bei dem Grundsatz verbleiben, daß - bei sonst gegebenen Voraussetzungen - Hauptberuf auch eine Tätigkeit ist, die der Versicherte vollwertig, wenn auch nur kurzfristig, ausgeübt hat (vgl. den erkennenden Senat in SozR Nr. 20 zu § 45 RKG).

Ist Hauptberuf des Klägers eine Tätigkeit, die einem anerkannten Anlernberuf gleichzuerachten ist, so scheidet die Verweisung auf einfachste Reinigungs- und Hilfstätigkeiten, wie sie der Kläger nur noch verrichten kann, als unzumutbar aus (vgl. SozR Nr. 16 aaO). Der Kläger ist daher berufsunfähig im Sinne des § 46 Abs. 2 RKG.

Hiernach kann dahinstehen, ob der Senat nicht zu dem gleichen Ergebnis auch dann gelangen müßte, wenn er von der vom Kläger 1964/1965 ausgeübten, relativ hoch entlohnten Tätigkeit eines Grubenlokführers ausginge, die dieser nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ebenfalls aus gesundheitlichen Gründen hat aufgeben müssen.

Da der berufsunfähige Kläger auch die Wartezeit erfüllt hat, hat ihm das LSG zu Recht die von ihm beantragte Versichertenrente zugesprochen.

Die Revision gegen das Urteil des LSG war zurückzuweisen und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647419

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