Leitsatz (amtlich)

In der Vorschrift des SGG § 180 ist der bindende Verwaltungsakt dem rechtskräftigen sozialgerichtlichen Urteil gleichgesetzt. Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens nach SGG § 180 Abs 3 S 1 kann deshalb beim Vorliegen eines bindenden Verwaltungsakts und eines rechtskräftigen Urteils eines Landessozialgerichts sowohl beim Sozialgericht als auch beim Landessozialgericht gestellt werden. Das in einem solchen Falle nach SGG § 180 Abs 3 S 3 für die Entscheidung "gemeinsam nächsthöhere Gericht" ist das Bundessozialgericht.

 

Normenkette

SGG § 180 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, Abs. 3 S. 1 Fassung: 1953-09-03, S. 3 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wird als unzulässig zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Antragsteller, von Beruf Geophysiker, leidet an einer beiderseitigen Lungentuberkulose und einem Zustand nach Entfernung der rechten Niere wegen Nierentuberkulose. Er führt diese Leiden auf Schädigungen durch seinen Wehrdienst vom 15. Januar bis zum 10. April 1942 und insbesondere auf seine anschließende Tätigkeit als Geophysiker bei der "Mineralölbrigade R" in Rußland von Juni bis September 1942 zurück.

Ein im Jahre 1948 gestellter Antrag auf Versorgung nach dem Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) wurde abschlägig beschieden. Mit Bescheid vom 10. November 1952 lehnte die zuständige Steinbruchs-Berufsgenossenschaft in H auch eine Entschädigung nach unfallrechtlichen Vorschriften ab, weil es sich bei der Tätigkeit des Antragstellers nicht um eine versicherte Tätigkeit im Sinne des § 537 der Reichsversicherungsordnung (RVO), sondern um einen militärischen oder militärähnlichen Dienst gehandelt habe. Ferner sei nach den fachärztlichen Untersuchungen mit Sicherheit auszuschließen, daß die chronische Tuberkulose durch den kurzfristigen Einsatz im Osten entstanden und eine entschädigungspflichtige Berufskrankheit sei. Schließlich habe der Antragsteller auch die Fristen zur Anmeldung des Anspruchs nicht eingehalten. Die gegen diesen Bescheid eingelegte Berufung wurde vom Antragsteller zurückgenommen, so daß der Bescheid bindend geworden ist.

Mit Bescheid vom 11. Juni 1955 lehnte das Versorgungsamt F schließlich auch die Gewährung einer Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab, weil der Antragsteller nicht unter den nach dem BVG versorgungsberechtigten Personenkreis falle. Die Klage hiergegen wurde vom Sozialgericht (SG.) Frankfurt/Main mit Urteil vom 9. November 1955 abgewiesen, die Berufung gegen dieses Urteil wurde vom Hessischen Landessozialgericht (LSG.) mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 7. November 1956 zurückgewiesen: Der Antragsteller habe keinen militärähnlichen Dienst im Sinne des § 3 BVG geleistet. Wenn der dort bezeichnete Personenkreis unter bestimmten Voraussetzungen versorgungsrechtlichen Schutz genieße, so sei das darauf zurückzuführen, daß ihm grundsätzlich ein sozialversicherungsrechtlicher Schutz nicht zustehe. Der Antragsteller habe aber für die Dauer seiner Tätigkeit für die Gesellschaft sozialversicherungsrechtlichen Schutz gehabt. Der Antragsteller irre, wenn er glaube, die Folgen einer während der in Frage kommenden Zeit eingetretenen Gesundheitsstörung müßten auf jeden Fall - entweder nach dem BVG oder nach unfallrechtlichen Bestimmungen - entschädigt werden. Es seien stets die Voraussetzungen im einzelnen zu prüfen.

Schon während des sozialgerichtlichen Verfahrens über den Versorgungsanspruch hatte der Antragsteller am 18. November 1955 vor dem SG. Frankfurt erneut Klage gegen die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft und auch gegen die Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung in W mit dem Antrag erhoben, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und sein Leiden als Berufskrankheit anzuerkennen. Mit Schriftsatz vom 23. März 1957 hat er erklärt, er fechte nunmehr den Bescheid der Steinbruchs-Berufsgenossenschaft gemäß § 179 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 580 Nr. 7 der Zivilprozeßordnung (ZPO) sowie nach § 180 Abs. 1 Nr. 2 SGG an. In der mündlichen Verhandlung vom 31. Juli 1957 vor dem SG. Frankfurt hat der Prozeßbevollmächtigte des Antragstellers erklärt, er stelle nur einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 180 SGG. Die Klage sei erledigt, sie solle als Antrag nach § 180 SGG aufgefaßt werden. Nachdem das SG. Frankfurt gemäß § 180 Abs. 3 Satz 2 SGG neben den Beteiligten auch das Hessische LSG. verständigt hatte, hat es die Sache durch Beschluß gemäß § 180 Abs. 3 Satz 3 SGG an das Hessische LSG. zur Entscheidung abgegeben. Das Hessische LSG. hat durch Beschluß vom 14. Januar 1958 die Sache zur Entscheidung an das Bundessozialgericht (BSG.) abgegeben: Wenn eine Entscheidung des LSG. und ein bindender Verwaltungsakt eines Versicherungsträgers sich im Sinne des § 180 Abs. 1 Nr. 2 SGG widersprächen, wie es der Antragsteller annehme, sei das gemeinsam nächsthöhere Gericht im Sinne des § 180 Abs. 3 Satz 3 SGG das BSG.

Der Antragsteller beantragt,

über den Wiederaufnahmeantrag vom 26. März 1957 zu entscheiden und den Leistungsträger zu bestimmen.

Der Antragsgegner zu 2) beantragt,

den Wiederaufnahmeantrag zurückzuweisen.

Zur Begründung ihrer Anträge nehmen die Beteiligten auf ihre früheren Ausführungen Bezug.

Ein Antrag des Antragsgegners zu 1) liegt nicht vor.

Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ist verspätet gestellt worden und daher unzulässig.

Zunächst bedurfte es einer Klarstellung durch den erkennenden Senat, wer - außer dem Antragsteller - Beteiligter in diesem Verfahren ist. Der Antrag auf Wiederaufnahme und Bestimmung des Leistungspflichtigen richtet sich sowohl gegen die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft in H als auch gegen das Land Hessen. Diese sind daher Beteiligte, und zwar beide als Antragsgegner. Daran ändert nichts, daß der Antrag auf Wiederaufnahme im Laufe eines Klageverfahrens vor dem SG. Frankfurt gestellt worden ist, in dem das Land Hessen lediglich beigeladen war; infolge der Stellung des Wiederaufnahmeantrages nach § 180 SGG handelt es sich nunmehr um ein neues und selbständiges Verfahren, in dem das Land Hessen nicht mehr - wie zunächst - Beigeladener ist, sondern Antragsgegner geworden ist.

Der Antragsteller begehrt eine Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 180 SGG. Der Senat hat die Frage, ob das BSG. für die Entscheidung über diesen Antrag zuständig ist, bejaht. Nach § 180 Abs. 3 Satz 3 SGG, der hinsichtlich der Zuständigkeit eine von der ZPO (§ 584) abweichende Sonderregelung enthält, ist für die Entscheidung das "gemeinsam nächsthöhere Gericht" zuständig. Vorliegend handelt es sich um eine verbindlich gewordene Entscheidung eines Versicherungsträgers und um das rechtskräftige Urteil eines LSG. Der verbindlich gewordene Verwaltungsakt ist im § 180 SGG einem rechtskräftigen sozialgerichtlichen Urteil gleichgesetzt. Das ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut des Gesetzes, sondern diese Regelung entspricht auch einem praktischen Bedürfnis. Sie war gesetzgeberisch notwendig, um im Konfliktfalle nicht nur beim Vorliegen zweier rechtskräftiger Urteile ein Wiederaufnahmeverfahren zu ermöglichen; vielmehr soll eine gerichtliche Wiederaufnahme auch dann durchgeführt werden können, wenn neben einem rechtskräftigen Urteil nur ein bindender Verwaltungsakt vorliegt, ja sogar dann, wenn es sich ausschließlich um zwei bindende Verwaltungsakte handelt (vgl. § 180 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGG). Setzt man aber beim Vorliegen eines rechtskräftigen landessozialgerichtlichen Urteils und eines bindend gewordenen Verwaltungsakts letzteren einem rechtskräftigen sozialgerichtlichen Urteil gleich, so ist - wegen der Fiktion zweier rechtskräftiger Urteile - das für die Entscheidung hinsichtlich beider Urteile - des SG. und des LSG. - zuständige "gemeinsam nächsthöhere Gericht" das BSG. (vgl. dazu auch die Bestimmung der Zuständigkeit durch das "gemeinsam nächsthöhere Gericht" nach § 58 SGG). Danach ist im vorliegenden Falle das BSG. zur Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag des Antragstellers berufen.

Der Antragsteller hat den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens auch zu Recht vor dem SG. Frankfurt gestellt. Nach § 180 Abs. 3 Satz 1 SGG ist der Antrag bei einem der gemäß § 179 Abs. 1 SGG für die Wiederaufnahme zuständigen Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu stellen. Inhalt dieser Vorschrift ist, daß der Antrag bei einem Gericht zu stellen ist, das nach § 179 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 584 ZPO zuständig wäre, wenn wegen jeder der vorliegenden Entscheidungen getrennt ein Wiederaufnahmeverfahren betrieben werden soll. Eine Klage auf Wiederaufnahme des Verfahrens gegen das Urteil des Hessischen LSG. hätte der Antragsteller nach § 179 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 584 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbs., ZPO bei diesem Gericht einreichen müssen. Die Zuständigkeit für einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den in Frage stehenden Bescheid der Berufsgenossenschaft ist in den angeführten Vorschriften nicht ausdrücklich geregelt, da die Wiederaufnahme im zivilprozeßrechtlichen Verfahren die rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts voraussetzt und auch das SGG von diesem Regelfalle ausgeht. Um aber hinsichtlich des bindend gewordenen Verwaltungsakts das für den Antrag nach § 180 SGG zuständige Gericht zu bestimmen, ist darauf abzustellen, welches Gericht für die Klage auf Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß §§ 179 Abs. 1 SGG, 584 ZPO zuständig sein würde, wenn über den Bescheid schon durch ein Gericht, und zwar durch ein SG., rechtskräftig entschieden worden wäre. Auch das ergibt sich zwingend aus § 180 Abs. 1 Nr. 1 SGG, wenn es sich ausschließlich um zwei bindende Verwaltungsakte handelt. Eine solche Entscheidung hätte nach § 57 SGG des SG. Frankfurt treffen müssen. Dieses wäre dann auch gemäß §§ 179 Abs. 1 SGG, 584 ZPO das für die Klage auf Wiederaufnahme des Verfahrens zuständige Gericht und ist somit im vorliegenden Falle neben dem LSG. auch für den Antrag nach § 180 Abs. 3 SGG zuständig. Der Antragsteller hat seinen Antrag deshalb bei einem zuständigen Gericht gestellt.

Der Antrag ist aber verspätet. Nach § 586 Abs. 1 ZPO sind Klagen auf Wiederaufnahme des Verfahrens vor Ablauf der Notfrist von einem Monat zu erheben. Diese Vorschrift ist auch im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbar, wie sich ohne weiteres aus § 179 Abs. 1 SGG ergibt. Die Notfrist von einem Monat beginnt nach § 586 Abs. 2 Satz 1 ZPO mit dem Tage, an dem die Partei von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erhalten hat, jedoch nicht vor eingetretener Rechtskraft des Urteils. Das Urteil des Hessischen LSG. ist dem Antragsteller am 23. November 1956 zugestellt und somit mit Ablauf des 23. Dezember 1956 rechtskräftig geworden. Der Antragsteller hat seinen Antrag aber erst am 26. März 1957, also nach Ablauf der Notfrist, gestellt. An diesem Tage ist der Schriftsatz des Antragstellers vom 23. März 1957 beim SG. Frankfurt eingegangen; mit ihm hat der Antragsteller zum ersten Mal mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, daß er eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 180 SGG begehrt; dieser Antrag ist aber verspätet. Schon in der am 18. November 1955 vor dem SG. Frankfurt erhobenen Klage rückwirkend einen Antrag nach § 180 SGG sehen zu wollen, ist nicht möglich. Diese Klage ist, verbunden mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, als ordentliches Rechtsmittel gegen den Bescheid der Berufsgenossenschaft vom 10. November 1952 erhoben worden. Mit ihr hat der Antragsteller aber etwas wesentlich anderes begehrt als mit einem Antrag nach § 180 SGG, bei dem es sich im übrigen um einen außerordentlichen Rechtsbehelf, eine besondere Art des Antrages auf Wiederaufnahme des Verfahrens, handelt. Die Erklärung des Prozeßbevollmächtigten des Antragstellers in der mündlichen Verhandlung vor dem SG. Frankfurt am 31. Juli 1957, die Klage sei als Antrag nach § 180 SGG aufzufassen, vermag daran schon deshalb nichts zu ändern, weil die erste Parteihandlung (die Klage) den Voraussetzungen der nunmehr gewollten (der Wiederaufnahme des Verfahrens) in keiner Weise entspricht. Darüber hinaus lagen im Zeitpunkt der Klageerhebung überhaupt noch nicht zwei Entscheidungen im Sinne des § 180 SGG vor, so daß die in dieser Vorschrift vorausgesetzte besondere prozessuale Lage bereits aus diesem Grunde noch gar nicht gegeben war.

Der somit verspätet gestellte Antrag war daher, da Wiedereinsetzungsgründe nicht geltend gemacht worden und auch nicht ersichtlich sind, als unzulässig zurückzuweisen (§§ 180 Abs. 5, 179 Abs. 1 SGG, 584, 586 ZPO). Bei dieser Rechtslage war kein Raum mehr für die Entscheidung der weiteren Frage, ob die übrigen Voraussetzungen einer Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 180 SGG vorliegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 92

NJW 1960, 791

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