Entscheidungsstichwort (Thema)

Neufeststellung einer MdE wegen Verschlimmerung. Verletzung der Sachaufklärungspflicht. Sachaufklärung im Ausland

 

Orientierungssatz

1. Das Gericht verletzt die seiner Überzeugungsbildung gesetzten Grenzen (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) und seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG), wenn es sich trotz Vorliegens besonderer Umstände ausschließlich auf allgemeine Erfahrungen, die im Schrifttum mitgeteilt worden sind und die Regelfälle betreffen (hier: "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", Ausgabe 1983.

2. Ist ein geeigneter Sachverständiger im Ausland, der die versorgungsärztlichen Maßstäbe berücksichtigt, nicht zu ermitteln, sind einem ausländischen Arzt, der den Kläger zu untersuchen hat, gezielte Fragen mit Hilfe eines deutschen Sachverständigen zu stellen.

 

Normenkette

SGG § 103 Abs 1 S 1 Fassung: 1974-07-30, § 128 Abs 1 S 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Bremen (Entscheidung vom 30.06.1983; Aktenzeichen L 3 V 50/82)

SG Bremen (Entscheidung vom 10.08.1982; Aktenzeichen S 16 V 551/81)

 

Tatbestand

Der 1912 geborene Kläger bezieht Beschädigtenversorgung entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH wegen Verlustes des rechten Unterschenkels im oberen Drittel und Narben am linken Oberschenkel (Bescheid vom 9. Oktober 1956). Im März 1979 beantragte er eine Neufeststellung wegen Verschlimmerung. Er führt eine wiederholt am linken Bein aufgetretene Thrombophlebitis sowie chronische Schmerzen an der linken Hüfte und eine Arthritis im Rücken auf die Schädigungsfolgen zurück. Antrag, Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Bescheid vom 29. Oktober 1981, Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 10. August 1982 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 30. Juni 1983). Das LSG sieht die bezeichnete Verschlechterung im Gesundheitszustand des Klägers nicht als durch die Beinamputation verursacht an. Es stützt sich auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme und auf Schrifttum über Thrombosen sowie Überlastungsbeschwerden bei Amputierten.

Der Kläger rügt mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision eine Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das LSG hätte gemäß dem Antrag des Klägers, sich für eine Begutachtung untersuchen zu lassen, die Sache aufklären müssen. Nach Bescheinigungen des Arztes Dr. F leide der Kläger an einer unnatürlichen Gangart und an starker Gewichtsbelastung, nachdem er 28 Jahre lang als Koch gearbeitet habe. Bei dieser Sachlage hätte eine Fehlstatik, die zu Überlastungsfolgen nach einer Beinamputation führen könne, nicht ausgeschlossen werden dürfen. Der Versorgungsarzt Dr. B, der Internist sei, habe den Kläger nicht auf Grund einer Untersuchung beurteilt. Die Phlebitis, die Hüftbeschwerden und die Arthritis im Rücken könnten durch die Schädigungsfolgen mindestens verschlimmert worden sein.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Bremen aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts zu ändern sowie die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides zu verurteilen, eine Neigung zu Thrombophlebitis sowie ein Hüftleiden links als weitere Schädigungsfolgen anzuerkennen und dem Kläger eine höhere Versorgungsrente als nach einer MdE um 50 vH ab 1. März 1979 zu gewähren, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Das angefochtene Berufungsurteil muß aufgehoben und die Sache muß an das LSG zurückverwiesen werden.

Für die Entscheidung über den Antrag des Klägers, weitere Schädigungsfolgen anzuerkennen und Rente nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zu gewähren, fehlen ausreichende tatsächliche Feststellungen. Das Berufungsgericht hat den Sachverhalt nicht von Amts wegen ausreichend aufgeklärt und damit gegen § 103 SGG verstoßen. Eine weitere Beweiserhebung mußte sich ihm von seinem sachlich-rechtlichen Rechtsstandpunkt aus aufgrund der Hinweise des Arztes Dr. F aufdrängen, der den Kläger in den USA behandelt. Es ist nicht auszuschließen, daß das Gericht aufgrund der gebotenen Sachaufklärung anders entschieden hätte.

Der Kläger begehrt durch Neufeststellung seines Versorgungsanspruches die Anerkennung mittelbarer Schädigungsfolgen und die Festsetzung eines höheren Grades der schädigungsbedingten MdE, von dem die Höhe der Beschädigtenrente abhängt (§ 1 Abs 1 und 3 Satz 1, § 30 Abs 1, § 31 Abs 1 und 2 Bundesversorgungsgesetz -BVG-, § 62 Abs 1 BVG aF, jetzt § 48 Sozialgesetzbuch 10. Buch -SGB X-; BSGE 54, 223 = SozR 1300 § 44 Nr 3). Gegenüber dem bisher rechtsverbindlich festgestellten Zustand der Schädigungsfolgen - Verlust des rechten Beines im Unterschenkel, Narben am linken Oberschenkel mit einer MdE um 50 vH - müßten nachträglich weitere Gesundheitsstörungen durch die kriegsbedingte Schädigung verursacht worden sein, um den Erlaß eines entsprechenden neuen Verwaltungsaktes zu rechtfertigen. Hier könnten die anerkannten Schädigungsfolgen eine wesentliche Mitursache von (mittelbaren) Folgen sein. Als rechtserhebliche Änderungen kommen aufgrund des sachkundigen Berichtes und der Stellungnahme des Arztes Dr. F in Betracht: eine Thrombophlebitis am linken Bein sowie krankhafte Hüftgelenksveränderungen und eine Arthritis im Rücken, die Folgen von Fehlbelastungen durch die Amputation, namentlich in Verbindung mit unnatürlicher Gangart, starker Gewichtsbelastung und Überanstrengungen bei 28-jähriger weithin stehender Tätigkeit als Koch sein könnten. Die Schädigungsfolgen müßten für diese Gesundheitsstörungen wahrscheinlich wenigstens eine gleichwertige - wesentliche - Mitbedingung neben anderen Ursachen sein. Sie könnten auch den jetzigen Zustand bloß im versorgungsrechtlichen Sinn verschlimmert haben, was genügen würde (BSG SozR Nr 83 zu § 1 BVG; SozR 3100 § 1 Nr 3; 3200 § 81 Nr 3). Sachgemäß beurteilen läßt sich die medizinische Zusammenhangsfrage nicht ohne genaue Kenntnis der einschlägigen Körperbefunde; diese müßten zu der bezeichneten Fragestellung ärztlich erhoben worden sein. Außerdem müßten alle persönlichen gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers beachtet werden, soweit sie für die Beantwortung der Zusammenhangsfrage bedeutsam sein könnten. Das LSG hat die seiner Überzeugungsbildung gesetzten Grenzen (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) dadurch verletzt, daß es sich ausschließlich auf allgemeine Erfahrungen, die im Schrifttum mitgeteilt worden sind und die Regelfälle betreffen, sowie auf die Stellungnahme eines internistischen Versorgungsarztes gestützt hat. Die besonderen Verhältnisse beim Kläger, über die der behandelnde Arzt bereits berichtet hat und die noch gezielter aufgeklärt werden müssen, könnten eine andere Beurteilung rechtfertigen und gebieten. Dies wird durch die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", Ausgabe 1983, S 250ff, gerade nicht ausgeschlossen. Ein Sachverständiger, der die Zusammenhangsfrage beantworten soll, müßte allerdings die allgemeinen Erfahrungen über die Folgen von Unterschenkelamputationen berücksichtigen.

Falls ein geeigneter Sachverständiger, der die versorgungsärztlichen Maßstäbe berücksichtigt, in USA nicht zu ermitteln ist, müßten einem amerikanischen Arzt, der den Kläger zu untersuchen hat, gezielte Fragen mit Hilfe eines deutschen Sachverständigen gestellt werden.

Das LSG hat nun die gebotene Sachaufklärung nachzuholen und auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656690

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