Entscheidungsstichwort (Thema)

Mitwirkungspflicht. Folgen fehlender Mitwirkung. Ermessensausübung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Leistung darf wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht nicht rückwirkend, sondern nur ex nunc entzogen werden.

2. Die Mitwirkungspflicht des Leistungsberechtigten kann dadurch verletzt sein, daß er der Aufforderung nicht nachkommt, eine von ihm zu beschaffende Urkunde vorzulegen, aus der sich eine für den Leistungsanspruch rechtserhebliche Tatsache ergeben soll.

 

Orientierungssatz

1. Zur Mitwirkungspflicht des Leistungsempfängers bei Überprüfung der Leistungsvoraussetzungen nach der Leistungsfeststellung (hier: Kindergeldbezug).

2. Das Fehlen des Nachweises über das weitere Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen ist kein die Umstände des Einzelfalles berücksichtigender Ermessensgrund, sondern nach § 66 Abs 1 SGB 1 Voraussetzung für die Ausübung des Ermessens. Hat der Leistungsträger aber lediglich die Voraussetzungen für die Ausübung des Ermessens geprüft und bejaht und daraufhin eine Entscheidung getroffen, die noch innerhalb des gesetzlichen Ermessensrahmens liegt, so ist diese Entscheidung dennoch rechtswidrig, weil es an der durch den Zweck der Ermächtigung vorgeschriebenen Abwägung und angemessenen Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles fehlt.

 

Normenkette

SGB I § 60 Abs. 1 Nr. 3, §§ 66, 65 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1975-12-11; BKGG § 22

 

Verfahrensgang

SG Itzehoe (Entscheidung vom 09.02.1981; Aktenzeichen S 2 Kg 16/80)

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 07.05.1982; Aktenzeichen L 1 Kg 6/81)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) dem Kläger das Kindergeld mit Wirkung vom 1. Mai 1980 entziehen durfte.

Der Kläger erhielt für seine 1965 und 1968 geborenen Kinder seit Januar 1975 das Kindergeld. Nachdem er seinen Wohnsitz verändert hatte, übersandte die Beklagte ihm im Frühjahr 1980 Formulare zur Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen. Sie mahnte ihn am 9. April 1980 unter Hinweis auf die Möglichkeit einer vorläufigen Einstellung der Zahlung bei fehlender Mitwirkung, die angeforderten Unterlagen bis zum 30. April 1980 zurückzusenden. Auf die Anforderung von Ersatzexemplaren übersandte ihm die Beklagte am 23. April 1980 erneut einen Fragebogen, eine Haushaltsbescheinigung und ein Merkblatt. Mit Ablauf des Monats April 1980 stellte sie die Zahlung des Kindergeldes vorläufig ein. Am 10. Juni 1980 mahnte sie den Kläger erneut und forderte ihn am 15. Juli 1980 mit dem Hinweis auf eine mögliche Entziehung des Kindergeldes bei Verletzung der Mitwirkungspflicht auf, die angeforderten Unterlagen bis zum 30. Juli 1980 einzureichen. Der Kläger berief sich mit Schreiben vom 17. Juli 1980 auf den bereits bei der Antragstellung ausgefüllten Fragebogen. Nachdem die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 24. Juli 1980 erfolglos auf den Sinn der erbetenen Unterlagen hingewiesen hatte, entzog sie mit Bescheid vom 8. September 1980 das Kindergeld mit Wirkung vom 1. Mai 1980. Zur Begründung führte sie aus, seit der vorläufigen Zahlungseinstellung seien drei Monate vergangen. Deshalb werde das Kindergeld nunmehr gemäß § 22 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) iVm § 66 Abs 1 und 3 des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil - (SGB I) entzogen. Den Widerspruch des Klägers, in dem er "an Eides Statt" versicherte, eine Änderung gegenüber der früher abgegebenen Auskunft habe sich nicht ergeben, wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 1980 mit der Begründung zurück, die Entziehung sei ohne weitere Ermittlungen berechtigt, da das Fortbestehen der Leistungsvoraussetzungen nicht nachgewiesen sei.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 9. Februar 1981 den Entziehungsbescheid und den ihn bestätigenden Widerspruchsbescheid aufgehoben. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 7. Mai 1982 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, nach Abs 2 iVm Abs 1 Nr 2 des § 60 SGB I sei der Kläger nicht verpflichtet, etwaige Änderungen in den Verhältnissen, die er im übrigen in Abrede stelle, durch Beantwortung der übersandten Formulare mitzuteilen. Mitwirkungspflichten aus § 60 Abs 1 Nr 1 SGB I lebten bei einem durch Leistungsgewährung abgeschlossenen Verwaltungsverfahren nur dann wieder auf, wenn der Leistungsträger das weitere Verwaltungsverfahren zu Recht betreibe. Ob der Leistungsträger ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren mit dem Ziel wieder aufgreifen dürfe, sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erneut festzustellen, bleibe fragwürdig, wenn dabei schlicht auf den Zeitablauf seit der Leistungsbewilligung abgestellt werde. Offen bleibe auch, ob eine etwaige Verpflichtung des Klägers, den vorgesehenen Vordruck zu benutzen, nicht an § 65 Abs 1 Nr 1 SGB I scheitere, weil dies etwa in keinem angemessenen Verhältnis zur in Anspruch genommenen Sozialleistung stehe. Der Kläger sei auch nicht verpflichtet, die angeforderte Haushaltsbescheinigung von einer siegelführenden Stelle bestätigen zu lassen; eine solche Verpflichtung sähen die §§ 60 ff SGB I nicht vor. Selbst wenn man aber annähme, der Kläger habe seine Mitwirkungspflichten verletzt, sei nicht zu ersehen, inwiefern hierdurch der Beklagten die Aufklärung des Sachverhalts wesentlich erschwert worden sei. Entscheidend sei aber, daß die Beklagte das Kindergeld uneingeschränkt und zT sogar rückwirkend entzogen habe, ohne das ihr eingeräumte Ermessen ausgeübt zu haben. Darüber hinaus fehle in den angefochtenen Bescheiden jeder Hinweis darauf, daß die Entziehung des Kindergeldes nur bis zur Nachholung der Mitwirkung andauere. Fehlerhaft sei schließlich auch die rückwirkende Entziehung, denn als Leistungsende komme nach § 66 Abs 1 SGB I nur ein Zeitpunkt nach Bekanntgabe des Entziehungsbescheides in Betracht.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der zugelassenen Revision angefochten, mit der sie eine Verletzung des § 66 Abs 1 Satz 1 SGB I und der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) rügt. Sie trägt vor, sie habe das durch § 66 Abs 1 Satz 1 SGB I eingeräumte Ermessen erkennbar und auch zweckentsprechend ausgeübt. Obwohl der Entziehungsbescheid keinen entsprechenden Hinweis enthalte, sei die Leistung - entsprechend der vorherigen Belehrungen - nur bis zur Nachholung der geforderten Mitwirkung entzogen worden. Der Kläger sei verpflichtet gewesen, sowohl den Fragebogen auszufüllen als auch die von ihm geforderte Haushaltsbescheinigung einzureichen. Infolge der Verletzung dieser Mitwirkungspflicht sei das Fortbestehen der Anspruchsvoraussetzungen nicht nachgewiesen. Zu diesen Voraussetzungen gehörten nicht nur die persönlichen Verhältnisse des Klägers und seiner Kinder, sondern auch diejenigen aller anderen Personen, zu denen die Kinder in einem Kindschaftsverhältnis iS des § 2 Abs 1 BKGG stehen. Die Benutzung von Vordrucken sei daher unabdingbar. Die Beklagte rügt vorsorglich und hilfsweise die mangelnde Sachaufklärung und eine Verletzung der Regeln der Beweiswürdigung durch das LSG. Das LSG hätte sich durch Befragung der Beklagten die notwendige Sachkunde verschaffen müssen, welche im Fragebogen enthaltenen Tatsachen erheblich sind und ob eine zwingende Notwendigkeit zur Benutzung des Vordrucks besteht. Wegen der Verletzung der Mitwirkungspflichten sei sie auch berechtigt gewesen, das Kindergeld bereits mit Wirkung vom 1. Mai 1980 zu entziehen, weil die Anspruchsvoraussetzungen in diesem Zeitpunkt nicht mehr nachgewiesen und die laufende Leistung zulässigerweise vorläufig eingestellt worden sei.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zu verwerfen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig, weil die von ihm abgegebene Mitteilung ausreichend und für die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts zur Erzwingung einer "Sollvorschrift" rechtsmißbräuchlich sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das LSG hat mit der Zurückweisung der Berufung im Ergebnis zutreffend das der Klage stattgebende Urteil des SG bestätigt. Der angefochtene Entziehungsbescheid und der ihn bestätigende Widerspruchsbescheid der Beklagten sind rechtswidrig und daher vom SG mit Recht aufgehoben worden.

Der Kläger hat die ihm nach § 60 Abs 1 Nr 3 SGB I obliegende Mitwirkungspflicht - entgegen der Ansicht des LSG - dadurch verletzt, daß er die von ihm verlangte Haushaltsbescheinigung nicht vorgelegt hat. Die in dieser Vorschrift enthaltene Pflicht des Leistungsempfängers auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen, ist nicht auf solche Urkunden beschränkt, die bereits vorhanden und im Besitz des Leistungsempfängers sind. Vielmehr trifft den Leistungsempfänger auch die Pflicht, auf Verlangen des Leistungsträgers solche Urkunden vorzulegen, die er sich erst noch beschaffen muß (vgl Begründung zu § 60 des Entwurfs zum SGB I, Bundestagsdrucksache 7/868 S 33). Zwar hat der Leistungsträger den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen festzustellen und dabei auch die erforderlichen Beweise selbst zu erheben. Das schließt aber nicht aus, daß sich der Leistungsträger zur Erfüllung der ihm obliegenden Amtsermittlungspflicht primär der Mitwirkung des Leistungsempfängers bedient. Die in § 60 Abs 1 normierte Mitwirkungspflicht des Leistungsempfängers steht daher nicht im Widerspruch zur Amtsermittlungspflicht, sondern enthält eine Modifizierung dieses Grundsatzes. Zwar kann der Leistungsträger nur die Vorlage solcher Urkunden verlangen, die der Feststellung einer rechtserheblichen Tatsache dienen. Das trifft aber für die verlangte Haushaltsbescheinigung zu, aus der sich insbesondere ergeben soll, daß die zum Bezuge des Kindergeldes berechtigenden Kinder noch leben.

Die Frage, ob und wann der Leistungsträger berechtigt ist, nach der Leistungsfeststellung ein Nachprüfungsverfahren einzuleiten und vom Berechtigten die Vorlage von Beweisurkunden zu verlangen, braucht im vorliegenden Fall nicht vertieft und grundsätzlich entschieden zu werden. Jedenfalls dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - nach der Leistungsgewährung ein Wohnsitzwechsel stattgefunden hat und außerdem ein Zeitraum von mehr als fünf Jahren vergangen ist, kann dem Leistungsträger das Recht zur Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens mit der Verpflichtung des Leistungsempfängers zur Mitwirkung nach § 60 SGB I nicht abgesprochen werden.

Die sich aus § 60 Abs 1 Nr 3 SGB I ergebende Pflicht des Klägers zur Vorlage der verlangten Haushaltsbescheinigung ist auch nicht nach § 65 SGB I ausgeschlossen. Die Erfüllung der nach § 60 Abs 1 Nr 3 SGB I bestehenden Mitwirkungspflicht stand durchaus iS des § 65 Abs 1 Nr 1 SGB I in einem angemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung. Bei der Abwägung der Verhältnismäßigkeit ist zu berücksichtigen, daß einerseits die Beschaffung der verlangten Urkunden nur wenig Mühe macht und andererseits durch die Verletzung der Mitwirkungspflicht erhebliche Überzahlungen und damit eine Belastung des öffentlichen Haushalts entstehen können. Die Beklagte konnte sich auch nicht iS des § 65 Abs 1 Nr 3 SGB I durch einen geringeren Aufwand als der Kläger die erforderlichen Kenntnisse selbst beschaffen. Selbst wenn man davon ausgeht, daß die Beklagte sich durch ein Amtshilfeersuchen ein gleichwertiges Beweismittel beschaffen konnte, war ihr das doch nicht durch einen geringeren, sondern allenfalls durch einen gleichwertigen Aufwand als dem Kläger möglich.

Das LSG hat zwar nicht festgestellt, ob der Kläger die im Frühjahr 1980 übersandten Unterlagen erhalten hat. Spätestens jedoch mit der Übersendung am 23. April 1980 ist der Kläger in den Besitz der Unterlagen gelangt, so daß spätestens zu diesem Zeitpunkt die Pflicht zur Vorlage der verlangten Haushaltsbescheinigung entstand.

Durch die Verletzung dieser Verpflichtung hat der Kläger auch die Aufklärung des Sachverhalts iS des § 66 Abs 1 Satz 1 SGB I erheblich erschwert. Zwar war die Beklagte möglicherweise in der Lage, die rechtserheblichen Tatsachen anderweitig festzustellen. Der Kläger hat jedoch durch sein Verhalten die Beklagte daran gehindert, rechtzeitig solche anderweitigen Ermittlungen anzustellen. Auch in der zeitlichen Verzögerung kann eine Erschwerung bei der Aufklärung des Sachverhalts liegen (vgl Begründung zu den §§ 66, 67 des Entwurfs seines SGB I, Bundestagsdrucksache 7/868 S 34), die jedoch erheblich, dh allenfalls durch beträchtlichen zusätzlichen Verwaltungsaufwand überwindbar sein muß (vgl Hauck/ Haines, SGB I, Stand Mai 1981, K § 66 RdNr 5). Der Kläger hat jedoch nicht nur die Übersendung der verlangten Haushaltsbescheinigung unterlassen, sondern die Beklagte zunächst hingehalten, so daß von der Aufforderung bis zur endgültigen Reaktion der Beklagten auf die Unterlassung ein nicht unerheblicher Zeitraum verstrich.

Die Verletzung der Mitwirkungspflicht des Klägers durch Nichteinreichung der verlangten Urkunde führte schließlich auch dazu, daß eine der Leistungsvoraussetzungen nicht mehr nachgewiesen war. Zwar konnten die Kinder die zur Leistung berechtigende Altersgrenze noch nicht überschritten haben. Leistungsvoraussetzung ist jedoch, daß sie überhaupt vorhanden sind, also weiterhin leben. Die Tatsache, daß sie im Zeitpunkt der Antragstellung nachgewiesenermaßen lebten, macht in einem Überprüfungsverfahren die Feststellung und den Nachweis ihres weiteren Vorhandenseins nicht überflüssig. In allen Bereichen des Sozialleistungsrechts ist deshalb die Vorlage von Lebensbescheinigungen nach Ablauf bestimmter Zeiträume üblich und sachgerecht.

Liegen danach die Voraussetzungen des § 66 Abs 1 SGB I vor, so war die Beklagte nach der in § 66 Abs 3 SGB I vorgeschriebenen Belehrung und Fristsetzung grundsätzlich berechtigt, die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise zu entziehen. Gleichwohl sind der Entziehungsbescheid der Beklagten und der ihn bestätigende Widerspruchsbescheid rechtswidrig. Das gilt zunächst insoweit, als mit ihnen die Leistung rückwirkend zum 1. Mai 1980 entzogen wurde. Das von der Beklagten praktizierte Verfahren - vorläufige Einstellung der Zahlung und anschließende Entziehung der Leistung nach drei Monaten - entspricht zwar dem § 22 iVm § 21 BKGG in der bis zum Inkrafttreten des SGB I gültig gewesenen Fassung. Diese Vorschriften sind jedoch durch die §§ 60 ff und insbesondere durch § 66 SGB I ersetzt worden und deshalb auf den vorliegenden Fall nicht anzuwenden. Zwar enthielt § 22 BKGG in der bis zum 31. Dezember 1980 gültig gewesenen Fassung eine Verweisung auf den bereits vorher aufgehobenen § 21 BKGG, die jedoch bereits seit Inkrafttreten des SGB I gegenstandslos war. Die Folgen einer Verletzung der Mitwirkungspflicht sind jetzt ausschließlich in § 66 SGB I geregelt, der eine rückwirkende Entziehung der Leistung nicht vorsieht. Zwar sagt der Wortlaut dieser Vorschrift nichts darüber aus, ob die vorgesehene Entziehung der Leistung nur für die Zukunft oder auch rückwirkend zulässig ist. Die Unzulässigkeit einer rückwirkenden Entziehung ergibt sich aber aus dem Sinn der Vorschrift. Da die Entziehung an die Verletzung der Mitwirkungspflicht anknüpft und nach Fristsetzung und Belehrung nur bis zur Nachholung der unterlassenen Handlung wirkt, kann sie nicht schon mit dem Zeitpunkt der Verletzung der Mitwirkungspflicht einsetzen, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich der Wirksamkeit des Entziehungsbescheides. Dafür spricht auch, daß die Leistung ohne weitere Ermittlungen, also auch dann entzogen werden darf, wenn die Anspruchsvoraussetzungen weiterhin vorliegen und auch festgestellt werden könnten. Dadurch unterscheidet sich die Entziehung nach § 66 Abs 1 SGB I entscheidend von der Entziehung des Kindergeldes nach § 22 BKGG. Zwar setzt auch § 66 Abs 1 SGB I voraus, daß infolge der Verletzung der Mitwirkungspflicht die Leistungsvoraussetzungen nicht nachgewiesen sind. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, daß die Entziehung auf den Zeitpunkt des Fehlens des Nachweises der Leistungsvoraussetzungen zurückwirken darf. Die Entziehung nach § 66 Abs 1 SGB I kann und soll nicht zu demselben Ziel führen wie die Entziehung nach § 22 BKGG, dessen Voraussetzungen nicht erfüllt waren. Ziel und Zweck der Entziehung nach § 66 Abs 1 SGB I ist es, den Leistungsberechtigten zur Nachholung der unterlassenen Mitwirkung anzuhalten. Dazu ist eine rückwirkende Entziehung nicht das angemessene Mittel; vielmehr genügt eine nur in die Zukunft gerichtete Zahlungseinstellung bis zur Nachholung der unterlassenen Mitwirkung. Darüber hinaus werden in der Literatur auch rechtsstaatliche Bedenken gegen eine rückwirkende Entziehung der Leistung geltend gemacht (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung S 80 i I; ders in DOK 1977, 794, 799).

Die Entziehung des Kindergeldes ist aber auch insoweit rechtswidrig, als sie die Zeit nach der Wirksamkeit des Entziehungsbescheides betrifft. Auch wenn die Voraussetzungen des § 66 für eine Entziehung der Leistung vorliegen, steht es im Ermessen des Leistungsträgers, dem Leistungsempfänger trotz Verletzung der Mitwirkungspflicht die Leistung entweder zu belassen, sie nur teilweise oder aber auch ganz bis zur Nachholung der Mitwirkung zu entziehen. Bei der ihm obliegenden Wahl unter diesen drei Möglichkeiten hat er die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen und die ihnen angemessene Entscheidung zu treffen. Weder die angefochtenen Bescheide noch der Vortrag der Beklagten lassen erkennen, welche Umstände die Beklagte bewogen haben, den Ermessensspielraum voll auszuschöpfen und die am weitesten gehende der drei möglichen Maßnahmen zu treffen. Vielmehr geht aus dem gesamten Vortrag der Beklagten hervor, daß sie lediglich das Vorliegen der Voraussetzungen für die Ausübung des Ermessens geprüft hat und eine weitere Prüfung nicht für erforderlich hält. Das Fehlen des Nachweises über das weitere Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen ist kein die Umstände des Einzelfalles berücksichtigender Ermessensgrund, sondern nach § 66 Abs 1 SGB I Voraussetzung für die Ausübung des Ermessens. Hat der Leistungsträger aber lediglich die Voraussetzungen für die Ausübung des Ermessens geprüft und bejaht und daraufhin eine Entscheidung getroffen, die noch innerhalb des gesetzlichen Ermessensrahmens liegt, so ist diese Entscheidung dennoch rechtswidrig, weil es an der durch den Zweck der Ermächtigung vorgeschriebenen Abwägung und angemessenen Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles fehlt.

Sind die angefochtenen Bescheide danach schon aus den dargelegten Gründen rechtswidrig und mit Recht aufgehoben worden, so kann es dahingestellt bleiben, ob der Kläger seine Mitwirkungspflicht auch dadurch verletzt hat, daß er das von der Beklagten ihm übersandte Formular nicht ausgefüllt hat. Eine solche Verletzung der Mitwirkungspflicht könnte die angefochtenen Bescheide der Beklagten nicht rechtfertigen, denn die bereits dargelegten Gründe würden sie auch insoweit als rechtswidrig erscheinen lassen. Auf die von der Beklagten vorgebrachten Verfahrensrügen kommt es ebenfalls nicht an, weil sie auf die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide keinen Einfluß haben.

Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Beklagten mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückgewiesen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 518348

Breith. 1984, 255

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