Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. angelernter Chemiefacharbeiter

 

Orientierungssatz

Zur Einordnung eines angelernten Chemiefacharbeiters in das 4-Stufen-Schema.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 08.03.1985; Aktenzeichen L 6 J 111/84)

SG Speyer (Entscheidung vom 22.03.1984; Aktenzeichen S 11 J 20/83)

 

Tatbestand

Streitig ist ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU).

Der 1934 geborene Kläger, ursprünglich Maurer, arbeitete seit 1966 in der rheinland-pfälzischen Chemieindustrie zunächst als Chemiebetriebsarbeiter und seit 1. April 1969 als angelernter Chemiefacharbeiter. Nach wiederholten Heilverfahren erkrankte er im Oktober 1982 erneut arbeitsunfähig und beantragte im November 1982 Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit (EU oder BU).

Mit dem streitigen Bescheid vom 30. März 1983 lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) den Antrag ab, weil der Kläger nach dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchungen noch leichte Arbeiten auch als Chemiearbeiter vollschichtig verrichten könne.

Während das Sozialgericht (SG) die Beklagte im Urteil vom 22. März 1984 nach Beweisaufnahme verpflichtet hat, dem Kläger Rente wegen BU ab 1. Dezember 1982 zu zahlen, hat das Landessozialgericht (LSG) in der angefochtenen Entscheidung vom 8. März 1985 das Ersturteil abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen BU nur auf Zeit vom 1. April 1983 bis 31. Dezember 1985 zu zahlen. In der Begründung heißt es dazu, zwar könne der nach seinen gesundheitlichen Verhältnissen - im Vordergrund: degenerative Veränderungen der gesamten Wirbelsäule mit Schulter-Arm-Syndrom und neurotischer Fehlhaltung - nur noch zu leichten Arbeiten fähige Kläger weder den Beruf des Maurers noch des Chemiefacharbeiters mehr ausüben. Er könne aber als Angehöriger der Gruppe mit dem Leitberuf des gelernten Arbeiters (Facharbeiters) grundsätzlich auch auf solche ungelernten Arbeiten verwiesen werden, die sich aus deren Kreis hervorhöben und wegen ihrer Qualität tariflich wie sonstige Ausbildungsberufe eingestuft seien. Eine solche Verweisung scheitere im Falle des Klägers jedoch daran, daß er eine Einarbeitung in die Tätigkeiten eines Werkstattschreibers, Magazinarbeiters (Materialausgebers) und eines qualifizierten Pförtners innerhalb einer Frist von nur drei Monaten nicht bewältigen könne. Allerdings bestehe begründete Aussicht, daß die BU des Klägers in absehbarer Zeit behoben sein werde (§ 1276 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO). Eine wesentliche Besserung des Gesamtzustandes dürfte durch energische Gewichtsabnahme zu erzielen sein. Auch die neurotische Fehlhaltung sei durch klinische Behandlung besserungsfähig. Mit wesentlicher Besserung und Wegfall der BU könne mithin bis Ende 1985 gerechnet werden. Da BU seit Oktober 1982 vorliege, sei die Zeitrente ab 1. April 1983 zu zahlen und falle mit Ablauf des 31. Dezember 1985 weg.

Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision (Beschluß vom 30. Oktober 1985, den Bevollmächtigten des Klägers zugestellt am 7. November 1985) wendet sich die Beklagte gegen dieses Urteil wie folgt: Das LSG habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (§§ 62, 128 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG; Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes - GG). Das LSG verschweige, aufgrund welcher Beweisergebnisse es zu der Feststellung gelangt sei, daß dem Kläger während der Dauer der zulässigen Einarbeitungszeit ein überdurchschnittliches Maß an Konzentration, Gedächtnisleistungen, Verantwortungsgefühl und geistiger Beweglichkeit abverlangt werden würde. Die Kenntnisse des Berufungsgerichts könnten also nur auf Gerichtskunde beruhen. Die Gerichtskundigkeit der vom LSG angenommenen Tatsachen hätte daher zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht und den Beteiligten Gelegenheit gegeben werden müssen, sich dazu zu äußern. Das sei nicht geschehen. Bei Einräumung des rechtlichen Gehörs hätte sie, Beklagte, mehrere berufskundliche Stellungnahmen des Landesarbeitsamts Baden-Württemberg vorlegen können, wonach normale geistige Veranlagung und Beweglichkeit ausreiche, um die vom LSG diskutierten Verweisungstätigkeiten vollwertig verrichten zu können. Auf dem Verfahrensverstoß beruhe auch das angefochtene Urteil.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. März 1985 insoweit aufzuheben, als sie zur Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit verurteilt worden ist, und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen, ferner, die Anschlußrevision des Klägers zurückzuweisen.

Mit einem am 6. März 1986 eingegangenen Schriftsatz vom gleichen Tag hat sich der Kläger der Revision der Beklagten angeschlossen. Er beantragt, 1) das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 8. März 1985 mit der Maßgabe zu ändern, daß die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Speyer vom 22.März 1984 vollständig zurückgewiesen wird; 2) die Revision der Beklagten zurückzuweisen; hilfsweise, das angefochten Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger trägt vor, nicht gefolgt werden könne dem LSG, es bestehe begründete Aussicht, daß seine BU in absehbarer Zeit behoben sein werde. Die Tatsache des immer wieder auftretenden plötzlichen Verlustes des Kurzzeitgedächtnisses, wie sie ihm ärztlich bestätigt worden sei, bleibe unverändert bestehen. Hinsichtlich einer Behebung dieses Leidens in absehbarer Zeit habe das LSG keine Feststellungen getroffen. Die von der Beklagten gerügte Verletzung des rechtlichen Gehörs liege nicht vor. Zu den Tätigkeiten eines Werkstattschreibers, Magazinarbeiters (Materialausgebers) und qualifizierten Pförtners sei im klägerischen Schriftsatz vom 21. Februar 1985 ausführlich Stellung genommen worden. Die Beklagte habe weder widersprochen noch Gegenbeweis angetreten. Im übrigen gebe es über die beruflichen Anforderungen eines Werkstattschreibers allgemein zugängliche Erkenntnisse. Es handele sich um einen Angestelltenberuf, der in erhöhtem Maß Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit erfordere. Nach seinem bisherigen Erwerbsleben könne er sich nicht binnen drei Monaten die erforderlichen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten aneignen. Dazu komme das Aussetzen des Kurzzeitgedächtnisses. Das treffe auch für die Magazinertätigkeit und für die Tätigkeit eines qualifizierten Pförtners zu. Im übrigen beruhe das angefochtene Urteil nicht auf dem behaupteten Verfahrensverstoß. Wenn zuträfe, daß sich jeder Arbeitnehmer innerhalb dreimonatiger Einarbeitung die Kenntnisse und Fertigkeiten im Beruf eines Werkstattschreibers aneignen könne, dann wäre sie als eine Tätigkeit ausgewiesen, die einem anerkannten Anlernberuf nicht gleichstünde und auf die ein Facharbeiter deshalb nicht verwiesen werden könne. Unklar sei, was die Beklagte unter gehobener Pförtnertätigkeit verstehe. Es handele sich um eine Stelle, die lediglich für bewährte Mitarbeiter eines Betriebs im Wege der Beförderung und Höherstufung vergeben werde.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten und die - nach §§ 202 SGG iVm 556 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zulässige - unselbständige Anschlußrevision des Klägers mit ihrem damit übereinstimmenden Hilfsantrag auf Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz sind begründet.

1. Die Revision der Beklagten

Berufsunfähig ist nach § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Dabei umfaßt nach Satz 2 aaO "der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist", alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit "zugemutet werden können". Das Gesetz verlangt hiernach von dem Versicherten, daß er, immer bezogen auf seinen "bisherigen Beruf", einen "zumutbaren" beruflichen Abstieg in Kauf nimmt, sich also vor Inanspruchnahme einer Rente wegen BU oder EU auf eine geringerwertige Erwerbstätigkeit "verweisen" läßt. "Zugemutet werden" iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO können dem Versicherten alle von ihm - nach seinen gesundheitlichen Kräften und seinen beruflichen Kenntnissen und Fähigkeiten - ausführbaren, auch "berufsfremden" Tätigkeiten, die nach ihrer im Gesetz angeführten positiven Kennzeichnung - Ausbildung und deren Dauer und Umfang, besondere Anforderungen, Bedeutung des Berufs im Betrieb -, dh nach ihrer Qualität dem "bisherigen Beruf" nicht zu fern stehen. Zur praktischen Handhabung dieser Rechtssätze hat die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Arbeiterberufe aufgrund von Beobachtungen der Arbeits- und Berufswelt nach ihrer Leistungsqualität in ein "Vier-Stufen-Schema" eingeordnet, das durch die Leitberufe des Ungelernten, des sonstigen - nicht dem Facharbeiter entsprechenden - Ausbildungsberufs (Angelernten), des Facharbeiters (Gelernten) sowie des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders qualifizierten Facharbeiters gekennzeichnet wird. Im Sinne von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO "zugemutet werden" kann dem Versicherten nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ein Abstieg jeweils zur nächstniedrigeren Gruppe des Schemas. In die Gruppe mit dem Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufs (Angelernten) fallen Berufe mit einer Regelausbildung bis zu 2 Jahren; die Gruppe der Facharbeiter (Gelernten) wird durch eine Regelausbildung von mehr als 2 Jahren, regelmäßig von 3 Jahren gekennzeichnet (vgl hierzu mit zahlreichen Nachweisen aus der jüngsten Rechtsprechung des BSG zB den erkennenden Senat in BSGE 59, 201, 203 f = SozR 2200 § 1246 Nr 132; in SozR 2200 § 1246 Nr 137 und 138 sowie die zur Veröffentlichung vorgesehene Entscheidung des 5b Senats vom 9. September 1986 - 5b RJ 82/85).

Nach den unangegriffenen, sonach für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) ist die seit 1969 zuletzt unverändert ausgeübte versicherungspflichtige Tätigkeit des Klägers die des "angelernten Chemiefacharbeiters"; Näheres ist hierzu nicht angegeben (Seite 2 des angefochtenen Urteils). Ob das LSG diesen zuletzt ausgeübten Beruf auch als "bisherigen Beruf" im Rechtssinne (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO) beurteilt hat, ist dem angefochtenen Urteil aber nicht zweifelsfrei zu entnehmen. Das LSG hat sich nämlich darauf beschränkt auszuführen, daß "der Kläger weder den erlernten Maurerberuf noch die ausgeübte Tätigkeit eines Chemiefacharbeiters zu verrichten" vermöge. Dies läßt die Annahme zu, daß für das LSG auch der Beruf des Maurers als "bisheriger Beruf" des Klägers zumindest in Betracht gekommen ist, daß es also möglicherweise (auch) hierwegen zu der rechtlichen Folge gelangt ist, daß der Kläger "zur Gruppe mit dem Leitberuf des gelernten Arbeiters (Facharbeiters) gehört und entsprechenden Berufsschutz hat" (vgl Seite 5 des Urteils). Da der Kläger schon 1966 den erlernten Maurerberuf aufgegeben hat, ließe sich dieser Beruf als "bisheriger Beruf" nur diskutieren, wenn ihn der Kläger aus zwingenden gesundheitlichen Gründen aufgegeben hätte, aus Gründen also, für die die gesetzliche Rentenversicherung nach § 1246 Abs 2 RVO gerade einzustehen hat. In diesem Fall brauchte in der Aufgabe des Berufs 1966 keine "Lösung vom Beruf" im Rechtssinne zu liegen mit der Folge, daß die zuletzt und lange Jahre ausgeübte Tätigkeit eines angelernten Chemiefacharbeiters ausnahmsweise nicht der "bisherige Beruf" des Klägers wäre (vgl dazu zB BSG SozR 2200 § 1246 Nr 66). Indessen enthält die angefochtene Entscheidung zu der Frage, ob sich der Kläger 1966 vom Maurerberuf gelöst oder nicht gelöst hat, keine Ausführungen. Der vom LSG festgestellte Sachverhalt erlaubt es überdies nicht, dahinstehen zu lassen, welcher der beiden in Frage kommenden Berufe "bisheriger Beruf" des Klägers war. Insbesondere kann der Senat nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß der Kläger als "angelernter Chemiefacharbeiter" nicht anders wie als Maurer in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters fiele. Vielmehr kommt gerade in bezug auf diese zuletzt ausgeübte Tätigkeit eine Einstufung nur in die Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten in Betracht. Das LSG hat nämlich festgestellt, daß der Kläger 1966 "bei der BASF" als ungelernter Betriebsarbeiter begonnen habe; erst ab April 1969 sei er dort "angelernter Chemiefacharbeiter" gewesen. Nach dem Erlaß des Bundesministers für Wirtschaft vom 5. Februar 1958 -II A 4-313/58- setzt der dort anerkannte Ausbildungsberuf "Chemiefacharbeiter" aber eine regelrechte Ausbildung von 36 Monaten voraus (vgl auch das Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe, hrsg. vom Bundesinstitut für Berufsbildung, Ausgabe 1984, S 20). Freilich könnte der bisherige Beruf des Klägers auch ohne die für den Regelfall vorgeschriebene Ausbildung Facharbeiterqualität dann erlangt haben, wenn der Kläger die Befähigung zur Ausübung einer Tätigkeit, wie sie im Normalfall ein gelernter Chemiefacharbeiter ausübt, durch längere berufliche Praxis vollwertig erworben hätte (vgl BSG in SozR Nr 22 zu § 45 RKG; BSGE 38, 153 = SozR 2200 § 1246 Nr 4; BSGE 41, 129, 132 = SozR 2200 § 1246 Nr 11 und 29). Dazu ist im angefochtenen Urteil nichts festgestellt. Hiergegen könnte sprechen, daß der Bezirks-Rahmentarifvertrag für die chemische, kautschukverarbeitende, kunststoffverarbeitende und mineralölverarbeitende Industrie in Rheinland-Pfalz vom 19. Januar 1973 idF vom 1. Oktober 1979 in Anlage 1 zu B § 1 Ziffer 1 in Lohngruppe III "Ausgebildete Chemiearbeiter" aufführt und zu Arbeitnehmern zählt, die "a) ... nach den geltenden Ausbildungsordnungen eine zweijährige Ausbildungszeit erfolgreich abgeschlossen haben und eine dieser Ausbildung entsprechende Tätigkeit ausüben; b) ... ohne eine derartige planmäßige Ausbildung ... aufgrund einer längeren Berufspraxis als Chemiearbeiter (Lohngruppe II) eine entsprechende Tätigkeit wie unter a) ausüben."

Den "Chemiefacharbeiter" dagegen benennt der Rahmentarifvertrag unter Lohngruppe IV wie folgt: "a) Ausgebildete Chemiefacharbeiter, die gemäß der geltenden Ausbildungsordnung ihre Ausbildung erfolgreich beendet haben und eine dieser Ausbildung entsprechende Tätigkeit ausüben, b) Arbeitnehmer, die, ohne eine derartige planmäßige Ausbildung aufweisen zu können, aufgrund einer mehrjährigen Berufspraxis als ausgebildete Chemiearbeiter (Lohngruppe III) die Kenntnisse und Fertigkeiten eines ausgebildeten Chemiefacharbeiters erworben haben und diese Tätigkeit ausüben ..."

Bei diesen Gegebenheiten muß bereits in tatsächlicher Hinsicht erheblichen Bedenken begegnen, ob das LSG den Kläger als "angelernten Chemiefacharbeiter" ohne nähere weitere Qualifizierung richtig in die Gruppe mit dem Leitberuf des Gelernten eingestuft hat, dh ob der Kläger als "angelernter Chemiefacharbeiter" nicht richtig in die Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten (sonstiger Ausbildungsberuf) gehört. Dabei wäre, da nach dem Tarifvertrag für die "ausgebildeten Chemiearbeiter" immerhin eine zweijährige Ausbildung vorgesehen ist, eine Zuordnung in den "oberen Bereich" der Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten mit der Folge zu prüfen, daß der Kläger ggf nicht auf diejenigen Tätigkeiten der zumutbaren Gruppe mit dem Leitberuf des Ungelernten verwiesen werden kann, die nur ganz geringen qualitativen Wert haben (vgl den erkennenden Senat in BSGE 59, 201, 206 = SozR 2200 § 1246 Nr 132 und in Nr 138 aaO sowie die Anschlußentscheidungen des erkennenden und des 5b Senats aaO).

Die erheblichen Zweifel an der Richtigkeit der Einordnung des Klägers in die Gruppe mit dem Leitberuf des Gelernten aufgrund unzureichender Tatsachenfeststellung und demzufolge die Richtigkeit der Verweisung auf Tätigkeiten der Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten können nur durch weitere Aufklärung des Sachverhalts ausgeräumt werden. Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils mußte daher die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen werden, weil das Revisionsgericht keine Tatsachenfeststellungen treffen darf (§§ 163, 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Sollte die Sachaufklärung ergeben, daß der Kläger mit seinem bisherigen Beruf der Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten angehört, dort aber dem oberen Bereich zuzuordnen und deshalb die Verweisung auf ungelernte Tätigkeiten nur ganz geringen qualitativen Werts nicht zumutbar ist, werden auch hierzu eindeutige tatsächliche Feststellungen nachzuholen sein. Was die Verweisung auf die Tätigkeit eines "qualifizierten" oder "gehobenen Pförtners" betrifft, wird das LSG die einschlägige Entscheidung des erkennenden Senats vom 25. Juni 1986 - 4a RJ 55/84 (SozR 2200 § 1246 Nr 137) sowie die Anschlußentscheidung des 5b Senats vom 9. September 1986 - 5b RJ 50/84 zu prüfen haben. Soweit das Berufungsgericht nicht durch Beweisaufnahme, sondern aufgrund eigener Sachkunde (Gerichtskunde) tatsächliche Feststellungen treffen sollte, wird es zu beachten haben, daß die Gerichtskunde in das Verfahren eingebracht und den Beteiligten Gelegenheit gegeben werden muß, hierzu Stellung zu nehmen und Beweisanträge zu stellen (§§ 62, 128 Abs 2 SGG; vgl hierzu die ständige Rechtsprechung des BSG, zB SozR 1500 § 62 Nr 11).

2. Die Anschlußrevision des Klägers

Über die Anschlußrevision des Klägers mit ihrem Hauptantrag, ihm - wie das SG - Rente wegen BU ab Versicherungsfall ohne zeitliche Begrenzung zu gewähren, läßt sich derzeit nicht abschließend entscheiden. Wie oben zu 1) ausgeführt, kann der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen der Vorinstanz über die Frage einer BU des Klägers weder negativ noch positiv befinden. Der Senat könnte deshalb dem Kläger Rente hierwegen derzeit selbst dann nicht zusprechen, wenn er mit ihm der Auffassung wäre, daß die vom LSG für eine zeitliche Begrenzung dieser Rente nach § 1276 Abs 1 RVO angeführten Überlegungen nicht zutreffen.

Indessen ist der Hilfsantrag des Klägers auf Zurückverweisung der Sache an das LSG - schlüssig: auch insoweit, als Rente wegen BU zeitlich unbegrenzt schon ab 1. Dezember 1982 (Versicherungsfall) und über den 31. Dezember 1985 hinaus begehrt wird - begründet.

Zwar dringt der Kläger mit der Rüge eines Verfahrensfehlers nicht durch. Entgegen seiner Annahme hat der nervenärztliche Sachverständige des SG Dr. H. in seinem Gutachten vom 4. Januar 1984 nicht angenommen, daß bei ihm, Kläger, immer wieder auftretende Verluste des Kurzzeitgedächtnisses bestünden. Vielmehr hat sich der Sachverständige auf Seite 14 seines Gutachtens mit wiederholten Behauptungen des Klägers über "Bewußtseinsstörungen" auseinandergesetzt und darauf hingewiesen, daß sich solche weder während der stationären Behandlung noch nach Provokation in der Hirnstromkurve hätten feststellen lassen. Dr. H. hat sodann folgende Überlegungen angefügt: "... Des weiteren ist an amnestische Episoden bei einer Basilaris-Insuffizienz zu denken. Bei diesen Episoden kommt es einem plötzlichen Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, wobei das Bewußtsein nicht merklich eingeschränkt ist und zielstrebige Handlungen möglich bleiben. Solche Episoden treten allerdings nur vereinzelt auf und keinesfalls so häufig, wie die von Herrn W. angegebenen Zustände. Darüber hinaus fanden sich bei der Doppler-Sonographie keine Hinweise für eine verminderte Durchblutung im Bereich der beiden Vertebralarterien, die sich zur A. Basilaris vereinigen. Die angegebenen Beschwerden passen auch keinesfalls zu einem Pickwick-Syndrom, bei dem es sich um eine zentrale Störung des Atemantriebs handelt, und das durch periodische Atempausen im Schlaf, Adipositas, ständige Schläfrigkeit und periodisches Schnarchen charakterisiert ist. Weder während der Begutachtung noch während des stationären Aufenthalts in unserer Neurologischen Abteilung konnte weder eine ständige Schläfrigkeit mit Einschlafen noch die periodischen Atempausen mit Schnarchen beobachtet werden..."

Auf Seite 18 seines Gutachtens ist Dr. H. zu folgendem Ergebnis gelangt:

"... Nach dem Ergebnis des psychischen Befunds und der schon früher durchgeführten testpsychologischen Untersuchungen können Arbeiten bewältigt werden, die ein durchschnittliches Maß an Konzentration, Gedächtnisleistungen, Verantwortungsgefühl und geistige Beweglichkeit verlangen. Herr W. kann vollschichtig mit den betriebsüblichen Arbeitsunterbrechungen ohne Überforderung eingesetzt werden. Für den Weg zum Arbeitsplatz gibt es keine besonderen Einschränkungen ..."

Diese gutachtliche Äußerung des Sachverständigen nötigte das LSG nicht, von der "Tatsache des immer wieder auftretenden Verlusts des Kurzzeitgedächtnisses" auszugehen und sie in seinem Urteil besonders zu diskutieren.

Indessen bleibt möglich, daß sich das LSG bei Neuprüfung der Frage der BU des Klägers nach Zurückverweisung der Sache aufgrund der Revision der Beklagten (oben Nr I 1) veranlaßt sieht, auch die Frage einer zeitlichen Befristung eines hierwegen etwa in Frage kommenden Rentenanspruch zu untersuchen. Deshalb ist eine Zurückverweisung der Sache im Sinne des § 170 Abs 2 Satz 2 SGG auch insoweit tunlich und auf den Hilfsantrag des Klägers auszusprechen.

Nach alledem war zu entscheiden wie geschehen und der Kostenausspruch der Endentscheidung in der Sache vorzubehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664580

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