Entscheidungsstichwort (Thema)

Berücksichtigung eines Nachschadens für eine Pflegezulage. konkreter Gesamtleidenszustand statt fiktiver Teilzustand. Anspruchsbegrenzung durch die Kausalitätsnorm im Versorgungsrecht. Verhältnis von schädigungsbedingtem Beinverlust zu Halbseitenlähmung als Nichtschädigungsleiden

 

Orientierungssatz

1. Die Gewährung der Pflegezulage sowohl nach § 35 Abs 1 S 1 BVG als auch nach Satz 2 dieser Vorschrift setzt gleichermaßen voraus, daß der Beschädigte infolge der Schädigung hilflos ist (vgl BSG vom 7.8.1975 10 RV 51/74).

2. Der Ursachenbegriff in § 35 BVG entspricht der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm (vgl BSG vom 21.5.1974 10 RV 441/73 = KOV 1975, 108 mwN).

3. Bei der Beurteilung der Hilflosigkeit iS des § 35 Abs 1 S 1 BVG darf ein nicht schädigungsbedingter Nachschaden im Interesse des Beschädigten berücksichtigt werden. Voraussetzung ist allerdings, daß der unter Einbeziehung des Nachschadens bestehende Gesamtleidenszustand durch die Schädigungsfolge wesentlich mitverursacht wird. Abzustellen ist auf den ungeteilten Gesamtleidenszustand im Zeitpunkt der Antragstellung oder der Bescheiderteilung oder der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz (vgl BSG vom 7.8.1975 10 RV 51/74). Wirkt sich die Berücksichtigung von Nachschäden nicht zu Gunsten des Beschädigten aus, weil schädigungsunabhängige Umstände, die erst nachträglich eingetreten sind, die überwiegende Ursache der konkreten Hilflosigkeit bilden, ist der Anspruch nach den Verhältnissen zur Zeit der Schädigung oder einer Verschlimmerung unter Ausschluß aller Nachschäden zu beurteilen (vgl BSG vom 5.7.1979 9 RV 21/78 = BSGE 48, 248, 252).

 

Normenkette

BVG § 35 Abs 1 S 1; BVG § 35 Abs 1 S 2

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 23.08.1983; Aktenzeichen L 4 V 413/82)

SG Wiesbaden (Entscheidung vom 17.02.1982; Aktenzeichen S 6 V 81/80)

 

Tatbestand

Der Beklagte gewährt dem Kläger Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 vH wegen eines im Jahre 1943 erlittenen Verlusts des linken Oberschenkels mit Auswirkung auf das Achsenskelett und mit Verspannung der Lendenmuskulatur als Schädigungsfolgen im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Er lehnte es aber ab, dem Kläger wegen der Folgen eines Hirninfarkts im Februar 1979 mit Lähmungen der rechten Extremitäten und Sprachstörung eine Pflegezulage zu gewähren: Für den Eintritt der ausschließlich auf den Hirninfarkt zurückzuführenden Hilflosigkeit seien die Schädigungsfolgen ohne ursächliche Bedeutung (Bescheid vom 12. Juli 1979, Widerspruchsbescheid vom 20. März 1980).

Das Urteil des Sozialgerichts (-SG- vom 17. Februar 1982), mit dem dem Kläger eine Pflegezulage der Stufe I zugesprochen worden ist, hat das Landessozialgericht (LSG) aufgehoben und die Klage unter Zurückweisung der Anschlußberufung des Klägers abgewiesen (Urteil vom 23. August 1983). Das LSG hat ausgeführt, zu Unrecht habe das SG nicht auf den von ihm selber nach der Pflegestufe III eingeschätzten Gesamtleidenszustand des Klägers abgestellt. Weil auch nach der Ansicht des SG dieser konkrete Zustand der Hilflosigkeit nicht ursächlich auf der Schädigung und ihren Folgen beruhe, stehe dem Kläger keine Pflegezulage zu. An der Hilflosigkeit des Klägers könne den Schädigungsfolgen auch nicht dadurch eine Bedeutung als wesentliche Mitbedingung eingeräumt werden, daß man das Nichtschädigungsleiden teile, davon nur auf die Lähmung des rechten Beines abstelle, sie mit dem schädigungsbedingten Verlust des linken Beines vergleiche und aufgrund dessen zu dem Ergebnis komme, daß diese fiktive Hilflosigkeit des Klägers zu stehen und zu gehen durch die Schädigungsfolgen wesentlich mitbedingt werde.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger, das LSG sei in verfahrensfehlerhafter Weise von dem Ergebnis des fachchirurgischen Gutachtens eines Versorgungsarztes abgewichen, das der Beklagte in das Berufungsverfahren eingeführt habe. Darin sei bestätigt worden, daß die Schädigungsfolgen im Vergleich zu den Nichtschädigungsleiden gleichwertig seien.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben, die Berufung des Beklagten zurückzuweisen und diesen unter Abänderung des Urteils des SG zu verurteilen, ihm vom 1. Februar 1979 ab eine Pflegezulage der Stufe III zu gewähren, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Das LSG hat zu Recht entschieden, daß dem Kläger keine Pflegezulage zusteht.

Nach § 35 Abs 1 Satz 1 BVG iF der Bekanntmachung vom 22. Juni 1976 (BGBl I 16, 33), zuletzt geändert durch das Zehnte Anpassungsgesetz-KOV vom 10. August 1978 (BGBl I 1217) und das Gesetz vom 19. Januar 1979 (BGBl I 98), wird monatlich eine Pflegezulage gewährt, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf; in der Grundstufe wird eine Pflegezulage der Stufe I gezahlt. Ist die Gesundheitsstörung so schwer, daß sie dauerndes Krankenlager oder außergewöhnliche Pflege erfordert, so ist die Pflegezulage je nach Lage des Falles unter Berücksichtigung der für die Pflege erforderlichen Aufwendungen in den höheren Stufen II bis VI zu leisten.

Die Gewährung der Pflegezulage sowohl nach § 35 Abs 1 Satz 1 BVG als auch nach Satz 2 dieser Vorschrift setzt gleichermaßen voraus, daß der Beschädigte infolge der Schädigung hilflos ist (BSG, Urteil vom 7. August 1975 - 10 RV 51/74 -; nicht veröffentlicht).

Nach den Feststellungen des LSG, die von der Revision nicht angriffen und deshalb für das Revisionsgericht bindend sind (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), war der Gesamtleidenszustand des Klägers im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG so schwer, daß Hilflosigkeit vorlag, die einen Pflegeaufwand der Stufe III erforderte. Der Kläger könnte nur dann erfolgreich sein, wenn die Schädigung für diesen Zustand der Hilflosigkeit ursächlich gewesen wäre. Rechtlich unerheblich ist, daß die Schädigung für einen fiktiven, weniger schweren Zustand der Hilflosigkeit ursächlich ist, der Pflegezulage der Stufe I rechtfertigen würde.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits entschieden, daß der Ursachenbegriff in § 35 BVG der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm entspricht (Urteil vom 21. Mai 1974 - 10 RV 441/73 - KOV 1975, 108 mwN). Es kommt demnach darauf an, ob die Schädigungsfolgen entweder allein die Bedingung oder eine wesentliche Mitbedingung neben anderen für den Eintritt des Gesamtzustandes gewesen sind, der die Hilflosigkeit im Sinne des Gesetzes ausmacht. Für die Anerkennung von Schädigungsfolgen gilt grundsätzlich die allgemeine Regel, daß allein die Verhältnisse zur Zeit der Schädigung (§ 1 Abs 1 BVG) oder einer Verschlimmerung der Schädigungsfolgen maßgebend sind. Gesundheitsstörungen, die nach der Schädigung und unabhängig von dieser auftreten - sogenannte Nachschäden - bleiben nach dieser allgemeinen Regel der Kriegsopferversorgung ausgeschlossen (BSGE 17, 114, 116; 19, 201, 202). Die im Jahre 1979 schädigungsunabhängig hinzugekommene Hilfsbedürftigkeit des Klägers ist ein Nachschaden. Denn nach den unangefochtenen Feststellungen des LSG war der Kläger vor dem Hirninfarkt trotz der Schädigung nicht hilflos. Eine Ausnahme hiervon läßt das Gesetz allerdings für die Hilflosigkeit zu: Ein nicht schädigungsbedingter Nachschaden darf im Interesse des Beschädigten berücksichtigt werden. Voraussetzung ist allerdings, daß der unter Einbeziehung des Nachschadens bestehende Gesamtleidenszustand durch die Schädigungsfolge wesentlich mitverursacht wird. Das wird aus dem Zweck des Instituts der Pflegezulage hergeleitet. Der Senat hat bereits entschieden (BSGE 41, 80, 83), daß diese Leistung im Hinblick auf die besondere Situation, welche die Betreuung des Kriegsbeschädigten erfordere, zu erbringen sei. Die Situation des Hilflosen sei durch ein unteilbares Gesamtbefinden gekennzeichnet. Der Bedarfslage werde nur eine Rechtsanwendung gerecht, welche sich stärker an den aktuellen Gegebenheiten orientiere. Hieran müsse die Kriegsbeschädigung einen wesentlichen Anteil haben. Abzustellen ist danach auf den ungeteilten Gesamtleidenszustand im Zeitpunkt der Antragstellung oder der Bescheiderteilung oder der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz (BSG, Urteil vom 7. August 1975 - 10 RV 51/74 -).

Falls diese als Ausnahme zugelassene Berücksichtigung von Nachschäden sich aber nicht zu Gunsten des Beschädigten auszuwirken vermag, weil schädigungsunabhängige Umstände, die erst nachträglich eingetreten sind, die überwiegende Ursache der konkreten Hilflosigkeit bilden, dann gilt wieder der vorangestellte Regelsatz: Der Anspruch ist nach den Verhältnissen zur Zeit der Schädigung oder einer Verschlimmerung unter Ausschluß aller Nachschäden zu beurteilen (BSGE 48, 248, 252). Daran scheitert der Anspruch des Klägers. Bei der Bewertung der ursächlichen Bedeutung aller Bedingungen für den Eintritt der Hilflosigkeit als den konkret zu beurteilenden Erfolg muß jede Bedingung nach einem einheitlichen Maßstab gemessen werden. Wer davon abweicht, indem er unter den Nichtschädigungsleiden soviel einzelne Gesundheitsstörungen außer acht läßt, bis der verbliebene Rest den unverminderten Schädigungsfolgen als annähernd gleichwertige Mitbedingung gegenübersteht, verletzt die im Versorgungsrecht geltende Kausalitätsnorm. Der Senat vermag der Ansicht des Klägers nicht zu folgen, das LSG habe zu Unrecht einen ursächlichen Zusammenhang zwischen seiner Hilflosigkeit und der Schädigung verneint. Das LSG hat verfahrensfehlerfrei auch unter Berücksichtigung des als Parteivortrag zu wertenden Gutachtens von Dr. B festgestellt, daß der Gesamtleidenszustand des Klägers mit einem notwendigen Pflegeaufwand der Stufe III überwiegend nicht durch die Schädigungsfolgen, sondern durch die davon unabhängigen Lähmungen nach dem Hirninfarkt verursacht werde. Das hat Dr. B bestätigt. Lediglich die daran anschließende rechtliche Kausalitätsbeurteilung des Arztes im Anschluß an die Rechtsmeinung des SG ist von dem LSG - zu Recht - abgelehnt worden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656917

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