Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeitsrente aus der Arbeiterrentenversicherung. zumutbare Verweisungstätigkeit für einen Facharbeiter
Orientierungssatz
Bei Anwendung des RVO § 1246 Abs 2 werden 3 Gruppen von abhängig Erwerbstätigen unterschieden, nämlich eine obere, eine mittlere und eine untere Gruppe. Indessen darf das Dreistufenschema nicht als starrer Rahmen mißverstanden werden. Nach § 1246 Abs 2 S 2 RVO steht bei der Charakterisierung der zumutbaren Verweisungstätigkeiten neben der Dauer und dem Umfang der Ausbildung des Versicherten gleichwertig und selbständig der "bisherige Beruf", dh die Bedeutung dieses Berufs im Betrieb, und ferner die an den bisherigen Beruf zu stellenden "besonderen", dh die Bedeutung dieses Berufs im Betrieb, und ferner die an den bisherigen Beruf zu stellenden", dh besonderen positiv zu bewertenden "Anforderungen. In der Regel finden alle Merkmale des § 1246 Abs S 2 Halbs 2 RVO, also nicht nur das im Gesetz an erster Stelle genannte Merkmal der Berufsausbildung, ihren Ausdruck in der tariflichen Einstufung der Erwerbstätigkeit (vgl BSG 1972-07-11 5 RJ 105/72 = SozR Nr 103 zu § 1246 RVO).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 22.06.1972) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. Juni 1972 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten um die sog. Verweisbarkeit eines Facharbeiters im Rahmen der Prüfung der Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Der 1922 geborene Kläger, gelernter Maurer und bis 1967 in diesem Beruf tätig gewesen, ist nach seinen gesundheitlichen Verhältnissen nur noch in der Lage, leichte Arbeiten im Sitzen und Stehen im Freien und in geschlossenen Räumen zu verrichten, sofern diese Tätigkeiten nicht mit längerem schnellen Laufen, Recken und Beugen verbunden sind. Er arbeitet derzeit in einer Polstermöbelfabrik.
Den im Februar 1968 gestellten Antrag des Klägers auf Versichertenrente hat die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) mit Bescheid vom 3. Juli 1969 abgelehnt, weil der Kläger noch nicht berufsunfähig sei.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hatte der Kläger in den Vorinstanzen Erfolg. Mit dem angefochtenen Urteil vom 22. Juni 1972 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beklagten gegen das dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zusprechende Urteil des Sozialgerichts vom 13. Januar 1970 zurückgewiesen und ausgeführt: Die typischen Arbeiten eines Maurers könne der Kläger nicht mehr verrichten. Nach dem Ergebnis einer bei 30 Baufirmen des Ruhrgebiets vorgenommenen Umfrage seien Arbeitsplätze eines Lager- oder Materialverwalters, Werkzeugverwalters, Platzmeisters oder einfachen Bauschreibers nur ganz vereinzelt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erreichen, was eine Verweisung leistungsbehinderter Maurer auf solche Stellen ausschließe. Die Arbeit eines Bei- oder Nachputzers, eines Kolonnenführers im Biegeschuppen sowie eines Hausmeisters könne der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht ausüben. Die Verweisung eines Facharbeiters auf berufsfremde und ungelernte Tätigkeiten, die bestimmte charakterliche Eigenschaften wie Zuverlässigkeit und gehobenes Verantwortungsbewußtsein voraussetzen, halte es - LSG - entgegen der Ansicht des 4. und 5. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) für unzulässig. Es müsse an der vom BSG schon vor geraumer Zeit entwickelten sog. Dreistufentheorie festgehalten werden. Die Rechtsprechung des 4. BSG-Senats nehme der tatrichterlichen Spruchpraxis die Orientierung; die Rechtsprechung des 5. BSG-Senats basiere offensichtlich auf den Lohngruppenvergleichen der knappschaftlichen Lohnordnungen und übersehe, daß nicht jeder Facharbeiter auf die Tätigkeiten eines Verwiegers, Tafelführers, Schalttafel- und Apparatewärters verwiesen werden könne. Die genannten BSG-Senate gingen im übrigen unzutreffend und unter Verzicht auf notwendige Feststellungen davon aus, daß jeder Facharbeiter die besonderen charakterlichen Eigenschaften besitze, wie sie die Verweisung auf gehobene berufsfremde, ungelernte Tätigkeiten voraussetze. Auch habe das BSG nicht beachtet, daß für diese Tätigkeiten der Verweisungsarbeitsmarkt praktisch verschlossen sei; die wenigen Arbeitsplätze für solche gehobenen ungelernten Arbeitstätigkeiten blieben in der Praxis qualifizierten Betriebsangehörigen vorbehalten. Für einen Facharbeiter seien im übrigen Verweisungstätigkeiten nur solche, mit deren Verrichtung eine gewisse Verwertbarkeit der Kenntnisse und Fähigkeiten seines "bisherigen Berufs" verbunden sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten. Sie trägt im wesentlichen vor: Das LSG habe den Sachverhalt fehlerhaft aufgeklärt, weil es sich auf eine unzulässigerweise auf das engere Ruhrgebiet beschränkte Arbeitgeberanfrage stütze, Ermittlungen bei anderen Stellen wie der Bundesanstalt für Arbeit, bei Wirtschafts- und Verbänden der Sozialpartner usw. unterlassen habe, weil den verwerteten Auskünften nicht zu entnehmen sei, welche natürliche Person, die gegebenenfalls ergänzend als Zeuge hätte gehört werden müssen, die Auskunft im Einzelfall erstattet und welche Funktion und Qualifikation der die Auskunft Erteilende im Einzelfall gehabt habe. Schließlich habe das LSG die Beweise auch noch rechtsfehlerhaft gewürdigt. In der Sache sei die Gruppe der dem Maurerberuf zuzuordnenden Berufe weit größer als vom LSG angenommen. Unter Zugrundelegung allein schon des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe könne der Kläger z. B. auf fachlich qualifizierte, wie Maurertätigkeiten entlohnte Arbeiten beim Herstellen von Beton- und Mörtelmischungen sowie von Fertigbauteilen in einer stationären Anlage, auf Isolier-, Wärme-, Kälte- und Schallschutzarbeiten, auf Baumaschinistentätigkeiten und Tätigkeiten im Beton- und Terrazzowaren herstellenden Gewerbe verwiesen werden. Soweit es das LSG abgelehnt habe, den Kläger auf berufsfremde ungelernte Tätigkeiten zu verweisen, die sich durch besondere Anforderungen aus dem Kreis der einfachen ungelernten Tätigkeiten herausheben, weiche es bewußt von der zutreffenden Rechtsprechung des 4., 5. und 12. Senats des BSG ab. Das LSG habe zudem außer Acht gelassen, daß sich die alten Berufsbilder unter dem Einfluß der gesamten wirtschaftlichen, technischen und sozialen Entwicklung aufgelockert und zur Mobilität aller Arbeitenden geführt habe. Der einschlägigen, neuere Forschungsergebnisse auswertenden Fachliteratur hätte das LSG z. B. entnehmen müssen, daß von den über 45 Jahre alten Maurern nur 18,2 % im erlernten Beruf verblieben. Die Dreistufentheorie sei durch die tatsächlichen Gegebenheiten des Berufs- und Arbeitslebens überholt. Den normalen, also nicht durch Akkord erzielten Maurertariflohn könne ein älterer Maurer, ohne in den Augen der Umwelt abgewertet zu sein, in leichteren Tätigkeiten außerhalb seines Berufes auch erreichen. Der Funktion, die der Gesetzgeber der Berufsunfähigkeitsrente beigelegt habe, würde es widersprechen, wenn ein noch vollschichtig arbeitender Versicherter zusammen mit der Berufsunfähigkeitsrente ein höheres Einkommen als zuvor in seinem erlernten Beruf habe. Entgegen der Ansicht des LSG müßten solche "Unebenheiten" keineswegs in Kauf genommen werden. Die neuere Rechtsprechung des 4. und 5. Senats des BSG aus dem Jahre 1972 bestätige ihre - der Beklagten - Auffassung.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung der Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts die Klage abzuweisen, hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG in verfahrens- und fachlich-rechtlicher Hinsicht für zutreffend.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist mit ihrem Hilfsantrag auf Zurückverweisung der Streitsache an die Vorinstanz begründet.
Es kann dahinstehen, ob die Rüge der Beklagten zutrifft, das LSG sei bei der von ihm durchgeführten Beweiserhebung in mannigfaltiger Hinsicht fehlerhaft verfahren. Das Berufungsgericht hat nämlich den Begriff der Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO verkannt und deshalb tatsächliche Feststellungen unterlassen, die es im Zuge einer neuen Verhandlung und Entscheidung nachzuholen hat.
Nach § 1246 Abs. 2 Satz 1 RVO ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Dabei umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, gemäß Satz 2 aaO alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und die ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Der Kreis der Tätigkeiten, auf die der Kläger hiernach rechtlich zumutbar verwiesen werden kann, ist bedeutend weiter als vom LSG angenommen.
Zur Frage der Verweisbarkeit eines Facharbeiters hat der erkennende Senat in bezug auf einen mit dem konkreten Streitfall weithin übereinstimmenden Sachverhalt bereits in einer Entscheidung vom 11. Juli 1972 (5 RJ 105/72) eingehend Stellung genommen und dabei im wesentlichen folgendes ausgeführt: An dem von der Rechtsprechung des BSG entwickelten "Dreistufenschema", wonach bei Anwendung des § 1246 Abs. 2 RVO drei Gruppen von abhängig Erwerbstätigen, nämlich eine obere, eine mittlere und eine untere Gruppe zu unterscheiden sei, wird festgehalten. Indessen darf, wie die Rechtsprechung des BSG bereits seit längerem erkennen lasse, das Dreistufenschema nicht als starrer Rahmen mißverstanden werden. Nach dem 2. Halbsatz des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO stehe bei der Charakterisierung der zumutbaren Verweisungstätigkeiten neben "der Dauer und (dem) Umfang (der) Ausbildung" des Versicherten gleichwertig und selbständig der "bisherige Beruf", d. h. die Bedeutung dieses Berufs im Betrieb, und ferner die an den bisherigen Beruf zu stellenden "besonderen", d. h. positiv zu bewertenden "Anforderungen". In der Regel fänden alle Merkmale des 2. Halbsatzes aaO, also nicht nur das im Gesetz an erster Stelle genannte Merkmal der Berufsausbildung, ihren Ausdruck in der tariflichen Einstufung der Erwerbstätigkeit (so der erkennende Senat schon in BSG 31, 106 und SozR Nrn. 17, 25 und 26 zu § 46 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG -). Unter dieser von § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO gebotenen rechtlichen Sicht handele es sich beim Lehrberuf allein um den "Leitberuf" der oberen Gruppe des "Schemas". Daher könne ein gelernter Arbeiter auf alle Tätigkeiten der oberen, aber auch auf Tätigkeiten der mittleren Gruppe der Arbeiterberufe verwiesen werden, wenn er zu ihrer Verrichtung gesundheitlich imstande und beruflich fähig sei. Unter den letzteren Voraussetzungen könne der Versicherte aber auch auf diejenigen Tätigkeiten der unteren Gruppe verwiesen werden, die sich, was regelmäßig durch ihre relativ hohe tarifliche Einstufung ausgewiesen werde, aus deren allgemeinem Kreis hervorheben. Hierzu zählten Tätigkeiten, die sich etwa durch ihre besondere Bedeutung im Betrieb oder wegen der an sie zu stellenden besonderen, positiv zu bewertenden Anforderungen auszeichneten. Zu letzteren wiederum gehörten Verrichtungen, deren Ausführung eine Zuverlässigkeit verlange, wie sie bei gelernten Arbeitern im allgemeinen vorausgesetzt werden dürfe, aber auch Tätigkeiten, für die ein Ungelernter normalerweise erst eingearbeitet oder betrieblich ausgebildet werden müsse. Nach allem stelle eine Verweisung eines Facharbeiters nur auf seinen bisherigen und auf diesem verwandte Berufe eine rechtlich unzulässige Beschränkung des gesetzlich gebotenen und zulässigen Kreises der Verweisungstätigkeiten im Rahmen des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO dar.
Die zitierte Entscheidung des erkennenden Senats vom 11. Juli 1972, auf die im übrigen wegen der Einzelheiten Bezug genommen werden kann, hat in der Folge bei anderen Senaten des BSG Zustimmung gefunden. So hat der 12. Senat des BSG in mehreren Urteilen vom 30. November 1972 (12 RJ 118/72; 12 RJ 96/72; 12 RJ 286/72; 12 RJ 204/72) auf diese Entscheidung hingewiesen und ausgeführt, daß Facharbeiter insbesondere auch auf solche Tätigkeiten verwiesen werden können, die lediglich eine kürzere betriebliche Einweisung und Einarbeitung erforderten, sich andererseits aber aus dem Kreis der ungelernten Tätigkeiten - etwa im Hinblick auf ihre Bedeutung und ihr Ansehen innerhalb des Betriebes, aber auch unter Berücksichtigung ihrer tariflichen Einstufung - besonders hervorhöben. Die wirtschaftliche, technische und soziale Entwicklung habe dazu geführt, daß Arbeiter, die solche Tätigkeiten verrichteten, eine ebenso angesehene, wenn nicht gar wichtigere Stellung einnähmen als Facharbeiter mit der hergebrachten Ausbildung.
Zu dem gleichen Ergebnis wie der erkennende Senat und wie der 12. Senat ist, wenn auch mit zum Teil anderer Begründung, der 4. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 11. August 1972 (4 RJ 95/72) gekommen.
Das rechtlich unzutreffende Urteil des LSG kann daher keinen Bestand haben. Da es das LSG unterlassen hat zu prüfen, auf welche auch berufsfremde Tätigkeiten der mittleren und der unteren Gruppe des "Schemas" der Kläger zulässigerweise verwiesen werden kann, war die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dabei war der Kostenausspruch der Endentscheidung vorzubehalten.
Fundstellen