Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisbarkeit von Facharbeitern
Orientierungssatz
Bei der Prüfung der Verweisungsmöglichkeiten für einen gelernten Former darf sich das Gericht nicht lediglich auf Tätigkeiten beschränken, die ihrer Art nach dem erlernten Beruf verwandt sind; vielmehr sind alle Ausbildungsberufe und im gewissen Maße Anlernberufe bei der Prüfung mit einzubeziehen (vgl BSG 1972-11-30 12 RJ 118/72 = SozR Nr 107 zu § 1246 RVO).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 20.04.1972) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 26.03.1971) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. April 1972 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, auf welche Tätigkeiten der Kläger als gelernter Former im Rahmen von § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verwiesen werden kann.
Der 1926 geborene Kläger war nach Ablegung der Gesellenprüfung als Former von April 1943 bis Mai 1970, mit Unterbrechung durch Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft vom 27. April 1943 bis 21. Oktober 1948, in diesem Beruf versicherungspflichtig beschäftigt. Seit dem 1. Juni 1970 ist er Wachmann und Pförtner bei der Rheinstahl Gießerei AG, Gußstahlwerk Gelsenkirchen.
Am 24. Juni 1970 beantragte der Kläger die Gewährung einer Versichertenrente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag nach Durchführung einer ärztlichen Untersuchung ab, weil der Kläger weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig sei (Bescheid vom 2. September 1970).
Die hiergegen erhobene Klage hatte in den beiden ersten Rechtszügen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Gelsenkirchen vom 26. März 1971, Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen -LSG- vom 20. April 1972).
Im Berufungsurteil ist insbesondere ausgeführt, der Kläger habe seine Formertätigkeit wegen seiner Gesundheitsstörungen aufgegeben; er könne nicht mehr als Former arbeiten. Ein "sozial gleichwertiges Arbeitsfeld" gebe es für ihn nicht. Tätigkeiten als Formenkontrolleur oder Gußkontrolleur erforderten einen Aufenthalt entweder in der Gießereihalle oder in der sogenannten Fertigputzerei; sie seien mit einer starken Staubeinwirkung verbunden, während der Kläger nur noch leichte bis mittel schwere körperliche Arbeiten auf ebener Erde mit zwischenzeitlicher Sitzmöglichkeit in sauberen und warmen Räumen verrichten könne. Auch eine Tätigkeit als Terminüberwacher scheide aus, weil auch sie vornehmlich im stauberfüllten Betrieb verrichtet werden müsse. Als Terminplaner könne der Kläger nicht arbeiten, weil ihm die dazu erforderliche zusätzliche Refa-Ausbildung fehle. Arbeitsplätze als Modellverwalter gebe es nur in einem so geringen Umfang, daß eine Verweisung darauf nicht gerechtfertigt werden könne. Auf Tätigkeiten als Lagerverwalter oder als Material- und Werkzeugausgeber könne der Kläger deswegen nicht verwiesen werden, weil es sich hierbei um ungelernte Arbeiten handele, bei deren Verrichtung der Kläger seine Fachkenntnisse als Former nicht verwerten könnte. Ein Einsatz als Karteiverwalter oder als Betriebs- oder Werkstattschreiber scheide aus weil die dabei erzielbaren Arbeitsverdienste noch unter denen eines Hilfsarbeiters lägen. Die Ausübung der Tätigkeit eines Apparatewärters in der chemischen Industrie erfordere eine Anlernzeit von einer dem Kläger nicht zumutbaren Dauer und komme deshalb ebenfalls nicht in Betracht. Auf die von ihm zur Zeit ausgeübte Tätigkeit könne der Kläger nicht verwiesen werden; die mit ihr verbundene Verantwortung sei nicht höher als die jedes Betriebsangehörigen. Im übrigen hält das LSG unter wörtlicher Übernahme seiner in einer Reihe anderer Verfahren, u.a. 12 RJ 118/72, gemachten Ausführungen eine "allgemeine Verweisung eines Facharbeiters auf völlig berufsfremde ungelernte Tätigkeiten, die bestimmte charakterliche Eigenschaften ... voraussetzen und nach kurzer Einweisung verrichtet werden können", für nicht zulässig.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die - zugelassene - Revision eingelegt. Sie rügt mangelnde Sachaufklärung, fehlerhafte Beweisaufnahme sowie eine Verletzung von § 1246 Abs. 2 RVO. Letztere erblickt sie darin, daß das LSG den Kreis der für den Kläger in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten zu eng gezogen habe. Es gebe eine ganze Reihe von Tätigkeiten, die der Kläger unter Berücksichtigung seiner beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten noch verrichten könne und die ihm zumutbar seien. Die Tätigkeiten eines Formenkontrolleurs, Gußkontrolleurs oder Terminüberwachers müßten nicht unbedingt und in jedem Falle unter besonderer Staubeinwirkung oder in kalten Räumen und damit unter für den Kläger nicht in Betracht kommenden Bedingungen ausgeübt werden. Der Umstand, daß der Terminplaner eine zusätzliche Ausbildung benötige, rechtfertige es nicht, diese Tätigkeit als Verweisungsmöglichkeit auszuschließen. Die Feststellung des LSG, Arbeitsplätze für Modellverwalter gebe es nicht in einem hinreichenden Umfang, entbehre der erforderlichen näheren Begründung. Die Beklagte sieht weiterhin unter Berufung auf die neuere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine Verletzung von § 1246 Abs. 2 RVO darin, daß das LSG eine allgemeine Verweisung des Klägers auf Anlernberufe sowie auf berufsfremde, ungelernte Tätigkeiten, die sich durch besondere Anforderungen an das Verantwortungsbewußtsein oder die Zuverlässigkeit aus dem Kreis der einfachen ungelernten Tätigkeiten herausheben, abgelehnt habe. Schließlich ist die Beklagte der Ansicht, daß der Kläger z.Zt. eine ihm zumutbare Tätigkeit ausübe.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen,
hilfsweisen,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision, hilfsweise Zurückverweisung.
II
Die Revision führt zur Zurückverweisung zu neuer Verhandlung und Entscheidung (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen für eine Entscheidung darüber, ob der Kläger berufsunfähig ist, nicht aus. Zwar hat das LSG unangegriffen festgestellt, daß der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, in seinem Beruf als Former zu arbeiten. Die damit gebotene Prüfung, auf welche anderen Tätigkeiten der Kläger zumutbar verwiesen werden kann, hat das LSG jedoch entgegen der Rechtsprechung des BSG hinsichtlich ungelernter Tätigkeiten zu stark eingeengt. Darin liegt ein Verstoß gegen § 1246 Abs. 2 RVO. Da nicht auszuschließen ist, daß das LSG bei Vermeidung dieses Fehlers zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, ist das angefochtene Urteil aufzuheben.
Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 30. November 1972 - 12 RJ 118/72 - dargelegt hat, ist ein versicherter Facharbeiter unter Einbeziehung aller, auch berufsfremder Industriezweige und Wirtschaftsbereiche auf andere Ausbildungsberufe verweisbar (vgl. Berufsbildungsgesetz vom 14. August 1969 - BGBl I 1112 - und Bekanntmachung der anerkannten Ausbildungsberufe vom 9. August 1972 - Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 153 vom 7. August 1972), wenn er die hierfür vorgeschriebene Ausbildungszeit mit Erfolg durchlaufen hat oder die Tätigkeiten mit den vorhandenen beruflichen Kenntnissen verrichten kann. Angesichts der auf allen Arbeitsgebieten fortschreitenden technischen Entwicklung und entsprechenden Ausstattung der Arbeitsplätze kann er aber auch auf Tätigkeiten verwiesen werden, die nur eine betriebliche Einweisung und Einarbeitung erfordern, sich aber aus dem Kreis sonstiger ungelernter Tätigkeiten besonders hervorheben, etwa durch ihre Bedeutung innerhalb des Betriebes und ihr Ansehen, aber auch unter Berücksichtigung ihrer tariflichen Eingruppierung im Vergleich mit anderen Tätigkeiten.
Bei seiner neuen Prüfung wird das LSG die hier aufgeführten Gesichtspunkte und die im Urteil des Senats vom 30. November 1972 (12 RJ 118/72) aufgezeigten Kriterien zu beachten haben. Dabei wird es auch die Beiziehung berufskundiger und arbeitsmedizinischer Sachverständiger zu erwägen haben. Gegebenenfalls ist auch an berufsfördernde Maßnahmen der Beklagten bei einer kürzeren Einweisungs- und Einarbeitungszeit gemäß § 1237 Abs. 3 Satz 1 Buchst. c und Satz 2 RVO zu denken.
Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen