Leitsatz (amtlich)

1. RVO § 1246 Abs 2 S 2 gestattet die Verweisung auf alle Tätigkeiten, also auch die eines Facharbeiters auf Tätigkeiten außerhalb seiner Berufsgruppe; Grenzen der Verweisung ergeben sich jeweils aus der Zumutbarkeit.

2. Zur Tauglichkeit der Bewertungsmerkmale, die den Kreis der zumutbaren Verweisungstätigkeiten bestimmen können.

 

Orientierungssatz

Die Bedeutung der tariflichen Einstufung für die Verweisung nach RVO § 1246.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. Januar 1972 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, welche Verweisungsmöglichkeiten im Rahmen des § 1246 Abs. 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für einen Facharbeiter (hier: Maurer) bestehen.

Das Sozialgericht (SG) hat dem Kläger - unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 6. März 1969 - Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) vom 1. Juni 1968 an zugesprochen (Urteil vom 16. Oktober 1970). Die Berufung der Beklagten ist vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen worden (Urteil vom 27. Januar 1972).

Nach den - nicht angegriffenen - Feststellungen des LSG war der Kläger von 1936 bis 1941 als Lagerarbeiter und - im Anschluß an den Wehrdienst - bis 1951 als Arbeiter in einem Sägewerk beschäftigt. In den Jahren 1951/52 wurde er zum Maurer umgeschult. Nachdem er die Abschlußprüfung abgelegt hatte, war er - mit kurzen Unterbrechungen - als Maurer und zeitweilig auch als Polier tätig. Zur Zeit arbeitet er als Hilfsarbeiter in einer Möbelfabrik. Aus gesundheitlichen Gründen kann er Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, in lärmerfüllten, schlechtbelüfteten Räumen, an laufenden Maschinen und anderen gefährlichen Arbeitsplätzen nicht mehr verrichten. Zu leichten Arbeiten im Wechsel von Sitzen und Stehen ist er vollschichtig fähig.

Seine Auffassung, der Kläger sei berufsunfähig (§ 1246 Abs. 2 RVO), hat das LSG wie folgt begründet: Typische Maurerarbeiten könne er nicht mehr ausführen. Berufsverwandte Tätigkeiten überforderten ihn entweder ebenfalls gesundheitlich oder es sei ihm der entsprechende Arbeitsmarkt verschlossen. Dem Maurerberuf verwandte Tätigkeiten leichterer Art blieben regelmäßig langjährigen Betriebsangehörigen vorbehalten. Auf Tätigkeiten, die nicht wenigstens einen Teil der Kenntnisse und Fähigkeiten des bisherigen Berufs erforderten, könne er nicht verwiesen werden. Entgegen der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei eine enge Anlehnung an das sogenannte Dreistufenschema (gelernt, angelernt, ungelernt) geboten. Abweichungen hiervon seien nur in Ausnahmefällen in Erwägung zu ziehen.

Mit der Revision rügt die Beklagte, das LSG habe § 1246 Abs. 2 RVO unrichtig ausgelegt. Mit der engen Anlehnung an das Dreistufenschema habe es sich in Widerspruch zu der Rechtsprechung des BSG gesetzt. Eine solche Betrachtungsweise werde den tatsächlichen Gegebenheiten innerhalb einer Industriegesellschaft nicht gerecht. Der Kreis der für den Kläger in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten sei erheblich weiter, als das LSG ihn gezogen habe.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er macht sich die Auffassung des Berufungsgerichts zu eigen.

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen reichen für eine Entscheidung darüber, ob der Kläger berufsunfähig ist, nicht aus. Zwar ist er nicht mehr in der Lage, als Maurer zu arbeiten, jedoch kommt es darauf allein nicht an. In Anwendung des § 1246 Abs. 2 RVO ist zu prüfen, ob er auf eine andere Tätigkeit verwiesen werden kann. Nach dieser Vorschrift umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Der Gesetzgeber hat es unterlassen, festumrissen Verweisungstätigkeiten aufzuzeigen. Für jeden Versicherten kommen alle Tätigkeiten als Verweisungsmöglichkeiten in Betracht. Solange seine Kräfte und Fähigkeiten nicht überfordert werden, ergeben sich die Grenzen der Verweisung jeweils aus der Zumutbarkeit bestimmter Tätigkeiten. Auf solche, die ihm zuzumuten sind, muß sich der Versicherte verweisen lassen.

Das LSG hat den hiernach in Betracht kommenden Kreis der Verweisungstätigkeiten zu eng gezogen. Das Gesetz bietet keinen Anhalt dafür, daß für einen Facharbeiter nur die Verweisung auf solche Tätigkeiten in Betracht kommt, die ihrer Art nach seinem erlernten Beruf verwandt sind. Es ist fehlerhaft, allein das Dreistufenschema (ungelernt, angelernt, gelernt) zum Maßstab der Zumutbarkeit zu erheben. Die Auffassung, daß ein Facharbeiter nur auf einen Lehrberuf verwiesen werden könne, die Tätigkeit eines angelernten oder gar ungelernten Arbeiters für ihn einen sozialen Abstieg bedeute, dem er sich nicht auszusetzen brauche, ist in dieser starren Form vom BSG zu keiner Zeit vertreten worden. Sie wäre mit dem Gesetz nicht in Einklang zu bringen, das schon seinem Wortlaut nach im Rahmen der Zumutbarkeit nicht nur auf ein Merkmal abstellt. Bedeutsam sind hiernach Dauer und Umfang der Ausbildung, der bisherige Beruf und die besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit. Zwar hat in diesem Zusammenhang die frühere Rechtsprechung des BSG das Dreistufenschema hervorgehoben, daneben jedoch stets auch andere Kriterien gelten lassen. Schon mit dieser Rechtsprechung läßt sich die Auffassung des LSG nur schwerlich vereinbaren. Jedoch bedarf es hierzu keiner Stellungnahme, weil in dieser Rechtsprechung in den letzten Jahren ein Wandel eingetreten ist, der zu einer Abkehr von der Auffassung, daß im allgemeinen dem Dreistufenschema eine herausragende Bedeutung zukomme, geführt hat. Es ist zwar auch weiterhin nicht bedeutungslos, ob der Versicherte einen Lehrberuf, eine angelernte oder eine ungelernte Tätigkeit ausgeübt hat, daneben gibt es aber weitere Bewertungsmaßstäbe, die ebenfalls zu berücksichtigen sind und denen - je nach den Gegebenheiten des Falles - eine entscheidende Bedeutung zukommen kann. Dies hat der erkennende Senat bereits in seiner Entscheidung vom 14. Januar 1969 (BSG 29, 96) im einzelnen ausgeführt. Er hält an dieser Rechtsprechung fest; durch sie wird der auf allen Arbeitsgebieten fortschreitenden Industrialisierung und Technisierung Rechnung getragen. Ein allein handwerklich orientiertes System sowohl der Ausbildung als auch der Wertung kann gegenüber industriellen Berufsanforderungen keine entscheidenden Maßstäbe setzen. Die insbesondere in den letzten Jahren eingetretenen Veränderungen der Qualifikationsstruktur der einzelnen Berufe und Tätigkeiten hat objektiv - zugleich aber auch in der Anschauung der Arbeiter selbst, ihrer Angehörigen und ihrer Umwelt - zu einer Umschichtung geführt (vgl. zu alledem Henkel "Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip" in Festschrift für Edmund Mezger, 1954; Tennstedt "Berufsunfähigkeit im Sozialrecht" 1972; Daheim "Der Beruf in der modernen Gesellschaft" 2. Aufl. 1970; Hesse "Berufe im Wandel" 1968; Bolte-Neidhardt-Holzer "Deutsche Gesellschaft im Wandel", Bd. 2, 1970; Kern-Schumann "Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein", 1970). Der unverändert gebliebene Gesetzeswortlaut steht einer solchen Interpretation nicht im Wege. Bei der Auslegung des Gesetzes darf die gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Entwicklung nicht außer Acht bleiben. Grundlegende Änderungen der tatsächlichen Gegebenheiten können - auch ohne Gesetzesänderung - zu einem Wandel in der Rechtsprechung führen. - Die Auffassung des Senats wird nicht nur von der Rechtsprechung im übrigen gebilligt (vgl. u.a. BSG 31, 106), sie hat auch in der Literatur allgemein Zustimmung gefunden (vgl. insbesondere Tannen in DRV 1969, 235; Scheerer in SozVers 1972, 57; Daheim in SGb 1970, 146; Tennstedt, aaO S. 229 ff). Es wird anerkannt, daß für das Merkmal der sozialen Zumutbarkeit die Ausbildung nur eines von mehreren maßgeblichen Kriterien sei. Die daran orientierte Rangordnung werde zunehmend fragwürdiger; sie verfehle häufig die Wirklichkeit der Arbeitswelt. Dort richte man sich immer weniger nach dieser Stufenfolge. Ein Vergleich der Lehrberufe miteinander zeige Unterschiede in der sozialen Bewertung, wie sie zwischen den Gelernten einerseits und den Angelernten oder Ungelernten andererseits nicht größer seien (vgl. Wannagat "Die Tätigkeit des BSG im Jahre 1971" in BABl 1972, 367, DAngVers 1972, 324). - Der Hinweis auf die einfache Handhabung - und damit die vermeintliche Praktikabilität - des Dreistufenschemas vermag demgegenüber keine Wirkung zu erzielen.

Das angefochtene Urteil kann hiernach keinen Bestand haben.

Das LSG wird bei seiner neuen Entscheidung davon auszugehen haben, daß für den Kläger in weitaus größerer Zahl Verweisungsmöglichkeiten in Betracht kommen können, als in dem angefochtenen Urteil angenommen worden ist. Der erkennende Senat hat in der Entscheidung in BSG 29, 96 Beurteilungsmerkmale genannt, die geeignet sind, die Grenzen des jeweiligen Verweisungsfeldes zu bestimmen. Die Berufsausbildung kann hiernach für das soziale Ansehen mitbestimmend - in Einzelfällen sogar ausschlaggebend - sein. Ebenso wird aber auch berufliches Können, das auf andere Weise erworben ist, nicht unberücksichtigt bleiben dürfen, vor allem dann nicht, wenn es mit Persönlichkeitswerten zusammentrifft, auf deren Vorhandensein es zur Ausfüllung des jeweiligen Arbeitsplatzes ankommt. Der Senat hat in diesem Zusammenhang Charaktereigenschaften - wie überdurchschnittliche Leistungsbereitschaft, Gewissenhaftigkeit, besonderes Verantwortungsbewußtsein - und auch sonstige Anlagen - zum Beispiel Disziplin, Nervenkraft, Selbständigkeit des Denkens und Handelns, natürliche Autorität, Wendigkeit - aufgezählt; sie wirken besonders dann positionserhöhend, wenn sie nicht einzeln, sondern summiert auftreten. Solchen Persönlichkeitswerten kommt in einer zunehmend durch Arbeitsteilung, Mechanisierung und Automation gekennzeichneten Arbeitswelt besondere Bedeutung zu. Demgegenüber treten handwerkliche Geschicklichkeit, Materialkenntnisse und dgl. häufig zurück, weil Arbeitsvorgänge, die früher allein dem Menschen vorbehalten waren, immer mehr von Maschinen gesteuert oder beeinflußt werden. So stehen bei der Apparatebedienung, den Schalt- und Führungsarbeiten in der mechanisierten Produktion, der Anlagenkontrolle und der Meßwarttätigkeit neben der Anlagenkenntnis technische Sensibilität und Verantwortungsbewußtsein als Qualifikationsmerkmale im Vordergrund (vgl. hierzu insbesondere Kern/Schumann aaO Teil I S. 81 ff). Eine besondere Ausbildung ist für solche Tätigkeiten meist nicht erforderlich. Gleichwohl sind Arbeiter, die eine derartige Tätigkeit verrichten, ebenso wie ihre Umwelt davon überzeugt, eine für den Betrieb bedeutungsvollere und wichtigere Position innezuhaben als Handwerker mit einer herkömmlichen Ausbildung. Die Sicherheit des Arbeitsplatzes wird ebenso Beachtung finden müssen wie die jeweilige Arbeitsplatzsituation, beispielsweise die Sauberkeit der Arbeit, das Fehlen körperlicher Belastungen oder negativer Umwelteinflüsse (Lärm, Temperatur, Witterung und dgl.). Darauf, daß es nützlich sein kann aufzuklären, welche Gewohnheiten und Erwartungen sich üblicherweise mit dem vom Versicherten eingeschlagenen Berufsweg verbinden, hat der Senat ebenfalls schon hingewiesen. Aus der Tatsache, daß selbst gesunde Arbeiter bestimmter Berufsgruppen häufig einen Wechsel ihrer Tätigkeit - möglicherweise schon in jüngeren Jahren und nach einer bestimmten Richtung hin - anstreben, werden sich möglicherweise Rückschlüsse hinsichtlich der Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit ergeben. Schließlich führt ein mehr und mehr hervortretendes materielles Streben zu einer immer höheren Bewertung des Arbeitslohnes. In diesem Zusammenhang spielt die tatsächliche Entlohnung im Einzelfall eine Rolle, aber auch die tarifliche Eingruppierung wird möglicherweise Beachtung zu finden haben.

Der erkennende Senat hält es nicht für zulässig, allgemein einem der vorbezeichneten Kriterien - die ohnehin nicht vollzählig, sondern nur beispielhaft benannt werden können - den Vorrang vor allen anderen einzuräumen. Die Entscheidung hängt jeweils vom Einzelfall ab. Allerdings wird es vielfach bei der einzelnen Entscheidung keiner umfassenden Abwägung aller hier bezeichneten Bewertungsmerkmale bedürfen, es ist denkbar, daß einigen wenigen oder gar nur einem dieser Kriterien die entscheidende Bedeutung zukommt. Dies mag mal die Ausbildung in einem Lehrberuf, mal der Arbeitslohn oder auch die tarifliche Einstufung sein. Auf solche Einstufungen wird man sich etwa dann berufen können, wenn sie sich tatsächlich als Spiegelbild der Bedeutung und des Ansehens der in Betracht kommenden Tätigkeiten darstellen. Daran wird es jedoch oft fehlen. Im Rahmen einer freien Marktwirtschaft gibt es eine Vielzahl von Komponenten, die auf die tarifliche Lohnentwicklung einwirken können. Die einzelnen Lohngruppen sind nicht ausschließlich am objektiven Arbeitswert orientiert. Sie sind wechselnden Macht- und Konjunkturbedingungen unterworfen und werden von der Verhandlungsstärke der Tarifpartner entscheidend beeinflußt. Politische Gesichtspunkte können ebenso eine bedeutsame Rolle spielen wie wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Gegebenheiten. Tarifnormen werden nicht immer den wechselnden Arbeitsbedingungen angepaßt sein, sie bieten keine Gewähr dafür, daß ihnen ein Überblick über die Effektivlöhne zu entnehmen ist. Einstufungen in Tarifverträgen unterschiedlicher Berufsarten sind schwer vergleichbar, in der Regel nur mit Kenntnissen über ihr Zustandekommen (vgl. zu alledem Gaul "Die Arbeitsbewertung und ihre rechtliche Bedeutung", 3. Aufl. 1967; Leiner "Arbeitsbewertung und Marktlohn" 1963; Offe "Leistungsprinzip und industrielle Arbeit" 1970).

Das LSG wird sich bei Prüfung der Zumutbarkeit von Verweisungstätigkeiten an diesen Darlegungen zu orientieren haben. Falls es dem einen oder anderen Bewertungsmerkmal einen Vorrang einräumen will, so bedarf dies der Abwägung aller bedeutsamen Umstände und der Begründung im Urteil. Das Revisionsgericht kann Möglichkeiten und Anhaltspunkte aufzeigen; die Grenzen seiner Befugnisse ergeben sich in diesem Zusammenhang aus § 128 SGG.

Weiter ist zu beachten, daß das Gesetz im § 1246 RVO dem Versicherten Einbußen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zumutet.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

NJW 1973, 215

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