Orientierungssatz

1. Die Anerkennung als Ausbildungsausfallzeit setzt voraus, daß die Ausbildung Zeit und Arbeitskraft überwiegend beansprucht und für sich allein eine Arbeitsleistung von mindestens 20 Wochenstunden ausschließt.

2. Das ist der Fall, wenn sie einen Zeitaufwand von mehr als 40 Stunden wöchentlich erfordert.

3. Es verstößt weder gegen Art 3 noch Art 6 GG, wenn die Belastung durch die Kindererziehung nicht im Rahmen der Ausbildungsausfallzeiten berücksichtigt wird.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b; GG Art 3 Abs 1; GG Art 6

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 12.03.1986; Aktenzeichen L 13 An 230/85)

SG Augsburg (Entscheidung vom 24.10.1985; Aktenzeichen S 13 An 192/83)

 

Tatbestand

Streitig ist die Vormerkung einer Ausbildungsausfallzeit für die Teilnahme an einem Fernunterricht.

Die 1936 geborene Klägerin hat mit der staatlichen Prüfung als Erzieher gemäß der Prüfungsordnung des Telekollegs für Erzieher (TKE) vom 20. März 1973 (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt S. 120) am 31. August 1975 ihre Teilnahme am Kolleg erfolgreich abgeschlossen. Diese umfaßte eine theoretische Ausbildung in der Zeit vom September 1972 bis einschließlich August 1974 und eine anschließende versicherungspflichtige praktische Ausbildung (Berufspraktikum) bis zum 31. August 1975.

Die Beklagte lehnte die Vormerkung der theoretischen Ausbildung als Ausfallzeit ab, da der Fernunterricht die Arbeitskraft nicht überwiegend in Anspruch genommen habe und zumindest eine Halbtagsbeschäftigung möglich gewesen wäre (Bescheid vom 14. Dezember 1982, Widerspruchsbescheid vom 15. August 1983).

Klage und Berufung blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 24. Oktober 1985; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 12. März 1986). Das LSG hat den Ausfallzeittatbestand einer Fachschulausbildung verneint. Der Fernunterricht habe zwar einer Ausbildung in der an Schulen üblichen Weise entsprochen; er habe jedoch die Arbeitskraft der Teilnehmer nicht voll in Anspruch genommen, wie dies der Zweck der Ausfallzeitenregelung voraussetze. Dafür sei Voraussetzung, daß die Ausbildung einschließlich der Vorbereitungsarbeiten und der Schulwege in der Woche mehr als 40 Stunden erfordere und damit auch eine Halbtagstätigkeit ausschließe. Das TKE werde im Merkblatt als Beispiel einer modernen Weiterbildung ohne Unterbrechung der Berufstätigkeit beschrieben. Die Lage der Unterrichtszeit am Wochenende habe eine Berufstätigkeit erlaubt. Der Unterricht an wöchentlich neun Stunden, der Fernsehunterricht von durchschnittlich drei Stunden wöchentlich und die für das Nachbereiten und die Hausaufgaben nach dem Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 21. August 1984 notwendige Zeit von acht Stunden wöchentlich ergäben einen Arbeitsaufwand von maximal 26 Stunden pro Woche. Damit werde auch unter Berücksichtigung der Wegezeiten die Grenze von 40 Wochenstunden nicht erreicht. Daran vermöge die Tatsache nichts zu ändern, daß die Klägerin als Hausfrau und Mutter von drei schulpflichtigen Kindern aus persönlichen Gründen auch an der Aufnahme einer Halbtagsbeschäftigung gehindert war.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b Angestelltenversicherungsgesetz (AVG). Die Teilnahme am Kolleg habe bei durchschnittlicher Begabung wöchentlich mehr als 40 Stunden beansprucht. Allein das Lesen und Durcharbeiten der Literatur, die beim Direktunterricht als bekannt vorausgesetzt wurde, habe Stunden gedauert. Die Auskunft des Kultusministeriums lasse nicht erkennen, an welcher Stelle dieser Zeitaufwand berücksichtigt sei. Die Klägerin habe in der Zeit, in der andere eine Halbtagstätigkeit außer Haus ausüben konnten, ihren Haushalt erledigt. Es verstoße gegen die Art 3 und 6 des Grundgesetzes (GG), dies als unbeachtlich anzusehen.

Die Klägerin beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Zeit vom 1. September 1972 bis zum 31. August 1974 als Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG vorzumerken.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin war zurückzuweisen. Ihre Teilnahme am TKE erfüllt jedenfalls deswegen nicht den Tatbestand einer Ausfallzeit, weil die Arbeitskraft der Teilnehmer durch Unterricht, Vorbereitungs- und Wegezeiten nicht zumindest überwiegend in Anspruch genommen wurde.

Nach § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG sind Ausfallzeiten Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden abgeschlossenen Fachschulausbildung. Der Begriff der Fachschulausbildung und der daneben verwandte Begriff der weiteren Schulausbildung sind im Gesetz nicht näher definiert. Da das Gesetz den Begriff der Schulausbildung auch zur Waisenrente und früher zum Kinderzuschuß verwendet hat, wurde vom Bundessozialgericht (BSG) auch die Rechtsprechung zu diesen Vorschriften als "Anhaltspunkt" für die Auslegung verstanden (SozR Nr 57 zu § 1259 RVO). Der Begriff der Fachschulausbildung setzt danach ua voraus, daß ein Unterricht in der an Schulen üblichen Weise erfolgte, was das LSG als erfüllt ansah. Der Senat braucht auf die Einwände der Beklagten hiergegen nicht einzugehen, da die Revision der Klägerin auch dann keinen Erfolg haben kann, wenn das Vorliegen dieser Voraussetzung unterstellt wird.

Der Ausfallzeittatbestand einer Fachschulausbildung setzt darüberhinaus voraus, daß die Arbeitskraft der Teilnehmer durch Unterricht, Vorbereitungs- und Wegezeiten voll oder doch überwiegend in Anspruch genommen wird. Eine solche Inanspruchnahme der Arbeitskraft ist auch für den Anspruch auf Waisenrente (BSGE 39, 156, 157 = SozR 2200 § 1267 Nr 8) und für den Anspruch auf Kinderzuschuß (BSGE 43, 44, 48 = SozR 2200 § 1262 Nr 9) Voraussetzung. Denn diese Leistungen gewähren Ersatz für einen nur dann bestehenden Unterhaltsanspruch. Die in § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG getroffene Qualifizierung bestimmter Ausbildungszeiten als rentensteigernde Ausfallzeiten bezweckt, denjenigen Versicherten einen angemessenen rentenrechtlichen Ausgleich zu verschaffen, die sich über das vollendete 16. Lebensjahr hinaus einer für einen späteren Beruf notwendigen weiteren Schulausbildung unterzogen haben, dh mit Rücksicht auf das Berufsziel außerstande gewesen sind, einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachzugehen und hierdurch in der gesetzlichen Rentenversicherung Pflichtbeitragszeiten zurückzulegen; deshalb setzt "Schulausbildung", soll sie als Ausfallzeit qualifiziert werden können, voraus, daß die Ausbildung Zeit und Arbeitskraft des Versicherten ausschließlich oder überwiegend beansprucht hat (SozR 2200 § 1259 Nr 25, 47 und im Ergebnis auch Nr 5).

In diesem Maße nimmt eine Ausbildung unabhängig von ihrer zeitlichen Lage außerhalb der üblichen Arbeitszeit die Arbeitskraft des Auszubildenden in Anspruch und schließt damit auch eine versicherungspflichtige Halbtagstätigkeit aus, wenn sie einen wöchentlichen Zeitaufwand von mehr als 40 Stunden erfordert (zur Ausfallzeit SozR 2200 § 1259 Nr 47 und 62; zum Kinderzuschuß BSGE 43, 44, 49 = SozR 2200 § 1262 Nr 9; zur Waisenrente BSGE 39, 156, 157 = SozR 2200 § 1267 Nr 8). Auch zum Recht der Arbeitsförderung ist anerkannt, daß die zumutbare Belastung insgesamt auf 60 Wochenstunden begrenzt ist, so daß der Arbeitslose neben einer Ausbildung von 40 Wochenstunden nur für eine Arbeitsleistung von 20 Wochenstunden verfügbar ist (SozR 4100 § 103 Nr 6).

Dabei kommt es nur darauf an, ob die "Schulausbildung" für sich allein eine Arbeitsleistung von mindestens 20 Wochenstunden ausschließt. Wenn die Rechtsprechung die zulässige Gesamtbelastung nach dem Maßstab der "Zumutbarkeit" auf 60 Wochenstunden begrenzt, so folgt hieraus nicht, daß auch andere Gründe, die es unzumutbar erscheinen lassen, neben der Ausbildung eine Halbtagsbeschäftigung auszuüben, wie etwa Krankheit oder Pflichten im eigenen Haushalt, zu berücksichtigen seien. Der Ausfallzeittatbestand wird nicht "wegen" der häuslichen Belastung der Klägerin verneint, wie diese meint, sondern weil ihr ohne diese Belastung eine Halbtagstätigkeit zumutbar, dh zeitlich möglich gewesen wäre. Auch wenn die Revision damit meinen sollte, das LSG habe nach Art 3 und 6 GG berücksichtigen müssen, daß der Klägerin infolge ihrer Familienpflichten eine Halbtagstätigkeit nicht zumutbar gewesen sei, könnte sie hiermit nicht durchdringen. Im Ausbildungsausfallzeittatbestand wird nur ein Ausgleich für die durch die Ausbildung ausgefallene Beitragsentrichtung geboten. Soweit infolge der Kindererziehung ein Beitragsausfall erfolgt, hat der Gesetzgeber nunmehr durch die Erziehungszeiten einen gewissen Ausgleich geschaffen. Wenn die Belastung durch die Kindererziehung darüberhinaus nicht außerdem im Rahmen der Ausbildungsausfallzeiten berücksichtigt wird, so verstößt dies weder gegen Art 3 noch gegen Art 6 GG.

Für die Frage, ob allein aufgrund der Teilnahme am TKE eine beitragspflichtige Beschäftigung ausgeschlossen war, kommt es auf die für einen durchschnittlich begabten Teilnehmer objektiv erforderliche Zeit an (BSGE 39, 156, 157 = SozR 2200 § 1267 Nr 8; BSGE 43, 44, 48 = SozR 2200 § 1262 Nr 9).

Die Klägerin greift zwar die Feststellung des LSG an, die erforderliche Gesamtbelastung durch die Teilnahme am TKE habe wöchentlich nicht 40 Stunden erreicht, ohne jedoch den Anforderungen an eine Verfahrensrüge zu genügen. Das ist im Revisionsverfahren unzulässig (§ 163 SGG). Ein Verstoß gegen Erfahrungssätze oder gegen Denkgesetze ist als Verletzung von § 128 SGG nicht gerügt. Die Angriffe gegen das vom LSG verwertete Auskunftsschreiben des Bayerischen Staatsministeriums vom 21. August 1984 ergeben nicht, daß das LSG zu einer weiteren von der Revision zu konkretisierenden Aufklärungsmaßnahme gedrängt war und deshalb die Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) verletzt hätte.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BB 1987, 2375

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