Leitsatz (amtlich)

Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen Wachdienst in einem Konzentrationslager militärischer Dienst im Sinne des BVG ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Dienst in der allgemeinen SS hat seine Grundlage nicht im deutschen Wehrrecht gehabt. Auch der Dienst in der Waffen-SS ist nur dann militärischer Dienst, wenn der Angehörige der Waffen-SS für die Kriegsführung militärisch eingesetzt worden ist.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, § 2 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 17. Januar 1957 wird aufgehoben, soweit es den Anspruch auf Versorgung für die Zeit vom 1. Oktober 1950 an betrifft; insoweit wird die Sache zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin ist die Ehefrau des G W, geb. 1920; W hat, zuletzt als Gefreiter, in Rußland, in der Tschechoslowakei und in Italien Wehrdienst geleistet, etwa von Januar 1945 an hat er zur Bewachungsmannschaft des Konzentrationslagers S bei R gehört; seit 19. April 1945 ist er verschollen. Am 7. September 1950 beantragte die Klägerin beim Magistrat von Groß-Berlin - Abt. Sozialwesen - Versorgung. Diesen Antrag lehnte das Versorgungsamt III B mit Bescheid vom 25. Juni 1954 nach dem Berliner Kriegsbeschädigtenversorgungsgesetz vom 24. Juli 1950 (Verordnungsblatt für Groß-Berlin, Teil I S. 318) und nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) in Verbindung mit dem Berliner Kriegsopferversorgungsgesetz vom 12. April 1951 (Gesetz- u. Verordnungsblatt für Berlin, S. 317) ab, weil die Verschollenheit des W nicht die Folge militärischen oder militärähnlichen Dienstes sei. Den Widerspruch der Klägerin wies das Landesversorgungsamt Berlin durch Bescheid vom 19. August 1954 zurück. Die Klage wies das Sozialgericht Berlin durch Urteil vom 26. Juli 1955 ab. Die Berufung der Klägerin wurde vom Landessozialgericht (LSG.) Berlin durch Urteil vom 17. Januar 1957 zurückgewiesen: Nach den Angaben der Klägerin sei W im Januar 1945 gegen seinen Willen zur SS gekommen und zur Bewachung von Konzentrationslagern eingesetzt worden; nach dem Ergebnis der Ermittlungen sei W damals nicht mehr Wehrmachtangehöriger gewesen; die Konzentrationslager hätten nicht dem OKW., sondern dem damaligen Reichsführer der SS und Chef der Deutschen Polizei (Himmler) unterstanden, es sei ausgeschlossen, daß W als Wehrmachtangehöriger zu diesem Bewachungsdienst abkommandiert worden sei; er habe auch nicht der Waffen-SS angehört; selbst wenn W aber als Wehrmachtangehöriger zum Bewachungsdienst abkommandiert worden sei, so sei dieser Dienst kein militärischer oder militärähnlicher Dienst gewesen; der Dienst in der SS habe seine Grundlage nicht im deutschen Wehrrecht gehabt, die Gliederungen der NSDAP, damit auch der SS, seien der Führung der NSDAP, nicht dem Oberkommando des Heeres unterstellt gewesen; es komme nicht darauf an, ob Walther - wie die Klägerin angebe - auch als SS-Angehöriger feldgraue Uniform getragen habe. Die Revision ließ das LSG. zu. Das Urteil wurde der Klägerin am 20. Februar 1957 zugestellt.

Am 15. März 1957 beantragte die Klägerin das Armenrecht für die Revision; durch Beschluß vom 29. April 1957 wurde das Armenrecht bewilligt und ein Rechtsanwalt als Armenanwalt beigeordnet. Am 15. Mai 1957 legte der Rechtsanwalt Revision ein, er beantragte,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils das beklagte Land zu verurteilen, der Klägerin Witwenrente zu gewähren,

zugleich beantragte er,

wegen der Versäumnis der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Am 13. Juni 1957 begründete der Prozeßbevollmächtigte die Revision: Das LSG. habe unterstellt, daß W nicht mehr am Leben sei. Das LSG. habe aber bei der Feststellung des weiteren Sachverhalts gegen die §§ 103, 128 SGG verstoßen, deshalb sei es zu unrichtigen Schlußfolgerungen gekommen. Es habe zu Unrecht unterstellt, W sei nicht mehr Wehrmachtangehöriger gewesen und in die "schwarze SS eingetreten". Die Klägerin habe dagegen vorgetragen, W habe bei seinem letzten Urlaub feldgraue Uniform mit dem Abzeichen der SS getragen, dies sei die Uniform der Waffen-SS gewesen. Das LSG. habe daher prüfen müssen, ob Wehrmachtangehörige gegen ihren Willen zur Bewachung von Konzentrationslagern abkommandiert und in Uniform der Waffen-SS gesteckt worden seien. Es habe auch klären müssen, ob W aus der Wehrmacht ausgeschieden sei, dies sei nämlich nicht der Fall gewesen; W habe auch während des Bewachungsdienstes Aufgaben erfüllt, die ihm von der Wehrmacht übertragen worden seien. Wenn W wegen seiner Dienstbeschädigung nicht mehr fronttauglich und deshalb zum Bewachungsdienst abgestellt worden sei, so seien auch die Folgen dieser Abkommandierung Folgen einer Dienstbeschädigung; es sei bekannt, daß das Bewachungspersonal der Konzentrationslager beim Einmarsch der gegnerischen Truppen besonderen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt gewesen sei. Es komme nicht darauf an, ob Walther den Bewachungsdienst im Dienste der Wehrmacht oder im Dienste der Polizei geleistet habe; in jedem Falle habe er in Erfüllung von Befehlen gehandelt, die er als Wehrmachtangehöriger habe ausführen müssen; mit dem Innendienst des Konzentrationslagers habe W nichts zu tun gehabt.

Der Beklagte trat dem Antrag, der Klägerin Wiedereinsetzung zu gewähren, nicht entgegen; er beantragte,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II

1. Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist auch zulässig. Das Urteil des LSG. ist der Klägerin am 20. Februar 1957 zugestellt worden. Die Klägerin hat durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten formgerecht am 15. Mai 1957 Revision eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Revisionsfrist beantragt, am 13. Juni 1957 hat sie die Revision begründet. Die Revisionsfrist und die Revisionsbegründungsfrist sind sonach zwar nicht gewahrt (§ 164 Abs. 1 Satz 1 SGG), die Klägerin hat aber am 15. März 1957 das Armenrecht für das Revisionsverfahren beantragt, der Beschluß des Bundessozialgerichts (BSG.) über die Bewilligung des Armenrechts ist der Klägerin am 6. Mai 1957 zugestellt worden. Die Klägerin ist daher durch ihre Armut, sonach ohne ihr Verschulden, gehindert gewesen, die Revision form- und fristgerecht einzulegen; dieses Hindernis ist erst mit der Zustellung des Beschlusses über die Bewilligung des Armenrechts weggefallen, der Antrag auf Wiedereinsetzung ist innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses gestellt, die versäumten Rechtshandlungen sind rechtzeitig nachgeholt worden. Der Klägerin ist daher auf ihren Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung beider Fristen zu gewähren (§ 67 SGG; BSG. 8 S. 207 ff.).

2. Die Revision ist begründet, soweit die Klägerin Versorgung vom 1. Oktober 1950 an nach dem auch im Lande Berlin geltenden Bundesversorgungsgesetz begehrt. Das LSG. hat festgestellt, daß W jedenfalls bis Dezember 1944 als Gefreiter der Wehrmacht angehört hat, daß er im Januar 1945 ... zur SS gekommen und sodann bis zu dem Zeitpunkt, von dem an er verschollen ist, zu Bewachungsdiensten in einem Konzentrationslager in Württemberg verwendet worden ist; daß W "freiwillig" in die SS "eingetreten" sei, hat das LSG. nicht feststellen können. Die Feststellungen des LSG. sind, auch soweit sie negativ sind, mit der Revision nicht angegriffen, sie sind daher für das BSG. bindend (§ 163 SGG). Diese Feststellungen rechtfertigen indes nicht die Folgerung des LSG., W habe seit Beginn seiner Tätigkeit als Wachmann im KZ nicht mehr der Wehrmacht angehört, es sei ausgeschlossen, daß er als Wehrmachtangehöriger zu KZ-Bewachungsdiensten in die SS abkommandiert worden sei, es sei auch nicht wahrscheinlich, daß er Angehöriger der Waffen-SS gewesen sei. Soweit das LSG. dies aus eigener Sachkunde festgestellt hat, hat es nicht dargelegt, wie es zu dieser Sachkunde gelangt ist. Die Auskunft des Polizeipräsidenten in Berlin vom 20. März 1956, auf die sich das LSG. im wesentlichen stützt, geht nur dahin, daß dort "nicht bekannt" sei, ob in größerem Umfange nicht mehr frontdienstfähige Wehrmachtangehörige Anfang 1945 zu einer Tätigkeit bei einer SS- und Polizeiformation gezwungen worden sind. Diese Auskunft ist nicht erschöpfend, Das LSG. hat sich insoweit auch nicht an eine hinreichend sachkundige Stelle gewandt. Dem erkennenden Senat liegt ein Schreiben des Bundesarchivs - Abteilung Zentralnachweisstelle - in Kornelimünster (Az. II. 16-Nr. 1440/59-) vom 10 November 1959 vor, in dem u. a. ausgeführt ist, daß auf Grund eines Führerbefehls vom 8. Juli 1944 Soldaten aller Wehrmachtteile in größerer Zahl in den Befehlsbereich des Reichsführers SS überführt worden sind, daß die Betroffenen - oft ohne oder sogar gegen ihren Willen - aus der Wehrmacht entlassen und in die Waffen-SS eingestellt worden sind, daß ferner ab Herbst 1944 meist ältere Unteroffiziere und Mannschaften und auch Frontuntaugliche nach Überführung in die Waffen-SS zur Bewachung von KZ-Häftlingen herangezogen worden sind. In dem Schreiben ist ferner angegeben, daß Himmler im Kriege Bewachungseinheiten der Konzentrationslager als "Waffen-SS" bezeichnet habe. Das Bundearchiv weist außerdem darauf hin, daß das Dokument Center in Berlin-Zehlendorf umfangreiches Material über die Waffen-SS besitzt. Diese Möglichkeiten der Sachaufklärung hat das LSG. bisher nicht genutzt, sie sind aber beweiserheblich für die vom LSG. verneinte Frage, ob Wehrmachtangehörige zum Bewachungsdienst in einem KZ, jedenfalls vom Spätjahr 1944 an, haben abkommandiert werden können und auch abkommandiert worden sind; daß dies nicht, wie das LSG. gemeint hat, "ausgeschlossen" ist, zeigt auch der Fall, der vom Bundesverwaltungsgericht am 7. Oktober 1959 entschieden worden ist (DÖV 1959 S. 957 = NJW 1960 S. 358), hier hat das Gericht festgestellt, daß der Kläger ohne aus dem Wehrdienst entlassen oder auch nur zum Wehrdienst bei der SS beurlaubt gewesen zu sein, zu Bewachungsdiensten in ein KZ abgeordnet und der Befehlsgewalt der SS unterstellt worden ist. Es ist zwar richtig, daß - wie das LSG. ausgeführt hat - der Dienst in der allgemeinen SS seine Grundlage nicht im deutschen Wehrrecht gehabt hat; der Senat geht auch davon aus, daß Dienst in der Waffen-SS in aller Regel nur dann militärischer Dienst im Sinne der §§ 1, 2 Abs. 1 BVG (Buchst. a) ist, wenn der Angehörige der Waffen-SS für die Kriegführung militärisch eingesetzt worden ist (vgl. insoweit Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.6.1959 (DÖV 1959 S. 956 = DVBl. 1959 S. 750) mit weiteren Hinweisen). Das LSG. hat aber auch insoweit nicht ohne weiteres als erwiesen ansehen dürfen, daß W nicht als Wehrmachtangehöriger in den Dienst der Waffen-SS überführt oder jedenfalls vom "Reichsführer SS" nicht während des Wachdienstes einem Angehörigen der Waffen-SS gleichgestellt worden ist; daß dies möglich ist, ergibt sich ebenfalls aus der Auskunft des Bundesarchivs; die Revision weist überdies insoweit auch zu Recht darauf hin, daß die von der Klägerin geschilderte und vom LSG. nicht als unzutreffend festgestellte Uniformierung - feldgraue Uniform und SS-Abzeichen - für einen solchen Sachverhalt sprechen kann. Die Klägerin hat daher zu Recht gerügt, das LSG. habe insoweit den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (§ 103 SGG), und es habe nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens gewürdigt (§ 128 SGG). Die Feststellungen des LSG., W habe seit Beginn seines Bewachungsdienstes der Wehrmacht nicht angehört und er habe auch der "Waffen-SS" nicht angehören können, ist deshalb für das BSG. nicht bindend (§ 163 SGG). Das LSG. hat möglicherweise die §§ 1, 2, 52 BVG unrichtig angewandt, wenn es den Anspruch der Klägerin schon deshalb verneint hat, weil W im Zeitpunkt seiner Verschollenheit nicht mehr Wehrmachtangehöriger und auch nicht Angehöriger der Waffen-SS gewesen sei; das Urteil des LSG. ist daher aufzuheben. Da das BSG. Beweise nicht selbst erheben und auch nicht selbst würdigen darf und da das LSG. nicht alle geeigneten Beweise erhoben hat, ist die Sache an das LSG. zu neuer Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Das LSG. hat zwar den Anspruch der Klägerin auch dann für unbegründet gehalten, wenn Walther - wie das LSG. vorsorglich erörtert hat - in dem Zeitpunkt, in dem er verschollen ist, noch Wehrmachtangehöriger gewesen ist. Auch diese Erwägungen vermögen aber das Urteil des LSG. nicht zu tragen. Das LSG. hat zu Unrecht angenommen, daß ein Wehrmachtangehöriger, der zur Bewachung eines KZ eingesetzt gewesen ist, keinen militärischen Dienst geleistet habe, sondern Dienst in einer politischen, allenfalls polizeilichen Einrichtung. Wie das Bundesverwaltungsgericht in dem Urteil vom 7. Oktober 1959 zutreffend ausgeführt hat, setzt eine Abkommandierung ("Abstellung") begrifflich eine Anordnung des militärischen Befehlshabers voraus, deren Durchführung mit den Mitteln der Befehlsgewalt erzwungen werden kann. Ihr liegt das militärische Unterstellungsverhältnis zugrunde, das wiederum auf dem Wehrrecht beruht. "Dienst, den ein Soldat auf Grund seines durch die Einberufung begründeten Unterordnungsverhältnisses auf Befehl seiner militärischen Vorgesetzten leistet, ist Wehrdienst" (BVerwG. a. a. O.). Es kommt deshalb, wenn W auf Grund seines durch die Einberufung begründeten Unterordnungsverhältnisses auf Befehl seiner militärischen Vorgesetzten zum Bewachungsdienst kommandiert worden ist, nicht auf die Art der geleisteten Tätigkeit an, es ist ferner unerheblich, ob er durch diese Abkommandierung auch in ein Abhängigkeitsverhältnis zu SS- oder Polizeidienststellen gekommen ist (BVerwG. a. a. O.). Das Urteil des BVerwG. vom 24. Juni 1959 (a. a. O.) steht dem nicht entgegen; in dem dort entschiedenen Falle hat es sich zwar auch um die Tätigkeit eines Angehörigen der Waffen-SS im Rahmen der Organisation eines KZ gehandelt, dort ist aber der Kläger nicht - wie dies in dem hier zu entscheidenden Falle bei weiterer Sachaufklärung möglich sein kann - als Wehrmachtangehöriger zum Bewachungsdienst in einem KZ abkommandiert worden. Die Erwägungen des LSG. sind hiernach nicht zutreffend, auch insoweit sind die §§ 1, 2 Abs. 1, 52 BVG in dem Urteil des LSG. nicht richtig angewandt.

Soweit die Klägerin Versorgung für die Zeit vor dem Inkrafttreten des (auch in Berlin geltenden) Bundesversorgungsgesetzes, also vor dem 1. Oktober 1950 begehrt, ist die Revision unbegründet. Die materiell-rechtlichen Vorschriften des Berliner Kriegsbeschädigtenversorgungsgesetzes vom 24. Juli 1950 sind nicht revisibles Recht im Sinne von § 162 Abs. 2 SGG (BSG. 2 S. 106 ff.).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 172

DVBl. 1961, 797

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