Entscheidungsstichwort (Thema)

Sachaufklärung-Terminsarzt-Gutachten

 

Orientierungssatz

Das Gutachten eines Terminsarztes über das Vorliegen und über die Ursache von Gesundheitsstörungen stellt in der Regel jedenfalls dann keine hinreichende Entscheidungsgrundlage dar, wenn es nur auf eine Untersuchung während der Gerichtsverhandlung gestützt ist und nicht an Unterlagen über frühere Untersuchungen anknüpft (vgl BSG 1959-01-21 11/9 RV 206/57 = SozR Nr 42 zu § 128 SGG).

 

Normenkette

SGG §§ 103, 128

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 05.11.1959)

SG Schleswig (Entscheidung vom 07.05.1957)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 5. November 1959 wird aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger beantragte im April 1951 die Gewährung von Versorgung wegen verschiedener Gesundheitsstörungen, u. a. wegen Bronchitis, die er auf Einflüsse des Wehrdienstes bezw. der Kriegsgefangenschaft zurückführte. Das Versorgungsamt F bewilligte ihm durch Bescheid vom 20. August 1951 wegen "abklingender Eiweißmangelschaden, abgeheilte Furunkulose" ab 1. April 1951 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v. H.; es führte aus, für andere Leiden, auch für eine Bronchitis, bestehe kein Anhalt. Auf den Einspruch des Klägers erkannte das Versorgungsamt als weitere Schädigungsfolge durch den Bescheid vom 27. August 1953 den Verlust verschiedener Zähne an und gewährte für die Zeit vom 1. April 1951 bis zum 30. September 1953 Rente nach einer MdE. um 40 v. H.; für die Zeit vom 1. Oktober 1953 an entzog es die Rente, weil ein rentenberechtigender Grad der MdE. nicht mehr bestehe. Der Kläger hielt seinen Einspruch aufrecht; der Einspruch war seit dem 1. Januar 1954 als Widerspruch zu behandeln, der Widerspruch wurde durch Bescheid vom 9. Oktober 1954 zurückgewiesen. Die Klage wies das Sozialgericht (SG.) Schleswig durch Urteil vom 7. Mai 1957 ab. Der Kläger legte Berufung beim Landessozialgericht (LSG.) Schleswig ein. Im Laufe des Berufungsverfahrens erging der Bescheid vom 25. Juni 1958; in diesem Bescheid wurde festgestellt, daß der Eiweißmangelschaden und die Furunkulose ausgeheilt seien, daß weitere Leiden, darunter die Bronchitis, altersbedingt und somit keine Schädigungsfolge seien und daß die noch vorhandenen Schädigungsfolgen keine MdE. von mindestens 25 v. H. bedingten. Durch einen weiteren Bescheid vom 16. Juli 1959 erkannte der Beklagte zusätzlich eine "Leberfunktionsstörung" als Schädigungsfolge an und gewährte ab 1. Dezember 1958 Rente nach einer MdE. um 40 v. H. Das LSG. hörte in der mündlichen Verhandlung den Facharzt für innere Krankheiten Dr. Dr. H und den Nervenarzt Dr. N als Sachverständige. Durch Urteil vom 5. November 1959 hob das LSG. das Urteil des SG. Schleswig vom 7. Mai 1957 und den Widerspruchsbescheid vom 9. Oktober 1954 auf und änderte die Bescheide vom 28. August 1951, 27. August 1953, 25. Juni 1958 und 16. Juli 1959 ab; es verurteilte den Beklagten, dem Kläger ab 1. April 1951 auch wegen Bronchitis eine Rente nach einer MdE. um 50 v. H. zu gewähren; im übrigen wies es die Berufung zurück: Der Kläger habe, wie sich aus seinen glaubhaften Ausführungen ergebe, in der Kriegsgefangenschaft eine Bronchitis durchgemacht, diese müsse als weitere Schädigungsfolge anerkannt werden; die Bronchitis habe sich auf das Lungenemphysem, das im damaligen Alter des Klägers wahrscheinlich bereits in gewissem Umfange vorhanden gewesen sei, nachteilig ausgewirkt, so daß nunmehr eine erhöhte Neigung zu Bronchitiden bestehe, auch hierbei handele es sich um eine Schädigungsfolge; die übrigen von dem Kläger noch geltend gemachten Körperschäden seien dagegen nicht auf Einflüsse des Wehrdienstes oder der Kriegsgefangenschaft zurückzuführen; die Erwerbsfähigkeit sei durch die Leiden, die Schädigungsfolgen seien, seit Stellung des Versorgungsantrages, um 50 v. H. gemindert.

Das Urteil wurde dem Beklagten am 23. Dezember 1959 zugestellt. Am 21. Januar 1960 legte er Revision ein und beantragte,

das Urteil des LSG. Schleswig vom 5. November 1959 abzuändern, soweit der Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG. Schleswig vom 7. Mai 1957 stattgegeben und der Beklagte verurteilt wurde, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten, und die Berufung in vollem Umfange zurückzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des LSG. Schleswig vom 5. November 1959 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Am 22. März 1960 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 23. März 1960 - begründete er die Revision: Das LSG. habe die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen (§ 128 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), überschritten; es habe sich bei der Anerkennung der Bronchitis ausschließlich auf die Stellungnahme des Terminsarztes gestützt, diese Stellungnahme habe jedoch für die Entscheidung nicht ausgereicht, sie stehe im Widerspruch zu den bei den Akten befindlichen fachärztlichen Gutachten; aus diesen Gutachten ergebe sich, daß sich Folgen der Bronchitis, die der Kläger während der Kriegsgefangenschaft gehabt habe, bis 1958 nicht gezeigt hätten, die Bronchitis sei demnach abgeklungen gewesen, sie könne nicht für das Emphysem, das im März 1958 noch gering gewesen sei, verantwortlich gemacht werden; auch habe das LSG. nicht dargelegt, aus welchen Gründen es eine MdE. um 50 v. H. seit Antragstellung in unveränderter Höhe für richtig gehalten habe.

Der Kläger beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; der Beklagte rügt mit Recht, das Verfahren des LSG. leide an wesentlichen Mängeln.

Das LSG. hat festgestellt, auch die Bronchitis des Klägers sei auf schädigende Einwirkungen im Sinne des BVG zurückzuführen. Diese Feststellung ist nicht in verfahrensrechtlich einwandfreier Weise zustandegekommen. Das LSG. hat sich insoweit ausschließlich auf die Äußerung des Terminsarztes, des Facharztes für innere Krankheiten Dr. Dr. H, gestützt. Dr. H hat u. a. ausgeführt, die Bronchitis, die der Kläger nach seinen Angaben in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft durchgemacht habe, habe sich höchstwahrscheinlich auf das vorhandene, an sich altersbedingte Lungenemphysem nachteilig ausgewirkt; zwischen einer Bronchitis und einem Emphysem könnten Wechselwirkungen in der Weise bestehen, daß ein Emphysem durch eine Bronchitis verschlimmert werden könne, während andererseits ein Emphysem die Erkrankung an Bronchitis begünstige; danach sei anzunehmen, daß sich das Emphysem durch die Bronchitis in der Kriegsgefangenschaft verschlimmert habe, so daß nunmehr eine erhöhte Neigung zu Bronchitiden bestehe, welche als Schädigungsfolge im Sinne des BVG angesehen werden müsse. Diesen Ausführungen hat sich das LSG. angeschlossen; sie vermögen die Entscheidung jedoch nicht zu tragen. Wie der Senat bereits in dem Urteil vom 21. Januar 1959 (SozR. Nr. 42 zu § 128 SGG) entschieden hat, stellt das Gutachten eines Terminsarztes über das Vorliegen und über die Ursache von Gesundheitsstörungen in der Regel jedenfalls dann keine hinreichende Entscheidungsgrundlage dar, wenn es nur auf eine Untersuchung während der Gerichtsverhandlung gestützt ist und nicht an Unterlagen über frühere Untersuchungen anknüpft. Im vorliegenden Falle hat der Terminsarzt den Kläger überhaupt nicht untersucht, er hat sich nur auf Grund der Akten geäußert; er hat sich aber auch dabei nicht mit den innerfachärztlichen Gutachten, die in den Akten bereits enthalten sind und auf eingehende Untersuchungen zurückgehen, auseinandergesetzt, obwohl er zu einem anderen Ergebnis als diese gelangt ist. Die Auffassung des Terminsarztes, daß bei dem Kläger zwischen der Bronchitis und dem Emphysem "Wechselwirkungen" bestehen, und die Bronchitis deshalb als Schädigungsfolge anerkannt werden müsse, setzt voraus, daß während der Kriegsgefangenschaft bereits ein Emphysem, das damals durch eine Bronchitis hätte verschlimmert werden können, bestanden hat. Es ist aber nicht ersichtlich, auf Grund welcher Erwägungen das LSG. angenommen hat, das Emphysem habe bereits während der Kriegsgefangenschaft vorgelegen. Aus dem Inhalt der Akten hat das LSG. dies jedenfalls nicht entnehmen können. Bei der innerfachärztlichen Untersuchung am 6. Juni 1951 - kurze Zeit nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft am 16. April 1951 - haben sich keine Anzeichen für ein Emphysem (und auch keine Anzeichen für eine Bronchitis) gefunden. Ein "mäßiges Emphysem" ist vielmehr erstmals bei der Röntgenuntersuchung am 26. Juni 1954 festgestellt worden, während in den innerfachärztlichen Gutachten vom 9. April 1952, 20. Mai 1952 und 8. Juli 1953 von einem Emphysem ebensowenig die Rede ist, wie in der Bescheinigung des den Kläger behandelnden Arztes Dr. B vom 14. Oktober 1953. Bei dieser Sachlage hätte das LSG. eingehend darlegen müssen, aus welchen Gründen es trotzdem der Überzeugung gewesen ist, das Emphysem habe bereits während der Kriegsgefangenschaft des Klägers bestanden; der bloße Hinweis auf das "damalige Alter" des Klägers hat jedenfalls nicht ausgereicht. Hinzu kommt weiter, daß der Terminsarzt noch ausgeführt hat, es kämen altersbedingte Faktoren hinzu, die das Krankheitsbild unabhängig von Kriegseinwirkungen beeinflußt hätten; der Terminsarzt ist demnach möglicherweise selbst nicht überzeugt gewesen, daß die Bronchitis in vollem Umfange, also im Sinne der Entstehung, als Schädigungsfolge anerkannt werden müsse; auch mit dieser Frage hätte sich das LSG. auseinandersetzen müssen. Schließlich hat das LSG. auch außer acht gelassen, daß eine chronische Bronchitis erstmals in dem Gutachten vom 11. März 1959 erwähnt ist, während die Geräusche an den Bronchien, von denen in dem Gutachten vom 9. April 1952 die Rede ist, in den folgenden Gutachten nicht mehr angeführt werden, sie sind also offenbar abgeklungen gewesen. Das LSG. hätte deshalb auch eingehend begründen müssen, weshalb es, wenn es schon die Bronchitis als Schädigungsfolge angesehen hat, den Versorgungsanspruch schon vom 1. April 1951 an gleichmäßig nach einer MdE. um 50 v. H. für begründet gehalten hat; auch insoweit hat sich das LSG. nicht auf die Äußerungen des Terminsarztes stützen können. Das LSG. hat unter diesen Umständen gegen die §§ 128, 103 SGG verstoßen. Die Revision ist sonach statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; sie ist auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig.

Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG., wenn es die Beweise einwandfrei würdigt und den Sachverhalt weiter aufklärt, sowohl bezüglich der Frage, ob die Bronchitis durch den Wehrdienst hervorgerufen ist, als auch bezüglich der Höhe der MdE. zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Urteil ist daher aufzuheben. Der Senat kann nicht selbst entscheiden, da hierzu noch tatsächliche Feststellungen notwendig sind; unter Umständen ist ein weiteres fachärztliches Gutachten einzuholen. Die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2149346

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge